Neo-Kunstvermittlung. Zur Besucherschule der documenta 12

Nach 100 Tagen documenta 12 heißt es in der Pressemitteilung vom 23. September 2007 unter der Überschrift „Engagierte Kunstvermittlung – 7.635 Führungen“: Ob diese Ausstellung ihrem Anspruch gerecht geworden ist, ein Publikum im mehrfachen Sinn des Wortes zu bilden, lässt sich kaum objektivieren.

Nach 100 Tagen documenta 12 heißt es in der Pressemitteilung vom 23. September 2007 unter der Überschrift „Engagierte Kunstvermittlung – 7.635 Führungen“: Ob diese Ausstellung ihrem Anspruch gerecht geworden ist, ein Publikum im mehrfachen Sinn des Wortes zu bilden, lässt sich kaum objektivieren. Einen Hinweis darauf mag die sehr gute Resonanz auf das Vermittlungsprogramm der documenta 12 geben, das sich jenseits der Dienstleistung um eine Aktivierung des Publikums bemühte. [...]

So möchte ich mit einem Beispiel aus dem Vermittlerinnenalltag beginnen, was den erwähnten Dienstleistungscharakter skizziert, in welchem sich die Kunstvermittlung trotz eines differenzierten und reflektierten Angebots ständig befand: 11:45 Uhr Vortrag in der Orangerie (Synonym für Restaurant inkl. d12 Special Guest Bereich) stand in meinem Tagesplan. Ein wenig wunderte ich mich: Es wurde angekündigt: Keine Technik, Gäste essen. Gut, dann mache ich eine kurze unbebilderte Einführung, mehr Gedanken mochte ich dieser ‚Buchung‘ nicht widmen. Pünktlich stand ich in der Orangerie, von der Gruppe keine Spur. Oder? Hinten im Restaurant saß eine größere Gruppe – das war aber nicht der Vortragssaal, dachte ich noch. Wenig später saß ich bei einem Espresso mitten im Restaurant mit am Tisch. Während die TeilnehmerInnen genießerisch ihre Tapas als zweites Frühstück einnahmen und mir interessiert zunickten, hörte ich mich mit dem performativen Lächeln einer Dienstleisterin sagen: „Die d12 hat insgesamt 5 Standorte ...“

Um den Charakter der Dienstleistung aufzuweichen, wurde Methodenvielfalt und -reflexivität ausprobiert und von einem mündigen BesucherInnensubjekt gesprochen, dessen Erwartungen gebrochen werden sollten. Doch reicht das für das Paradigma einer neuen dienstleistungsfernen Kunstvermittlung? Besonders dann, wenn rückblickend die personelle Kunstvermittlung auch zum Ersatz für kuratorische Entscheidungen wurde und keine Kriterien einer Überprüfung des Ausstellungskonzepts vorhanden waren, würde das Publikum damit nicht eher degradiert?

Teaching. Lets be organized?

Erstmalig stellte Roger Buergel (künstlerischer Leiter) zusammen mit Ulrich Schötker (Leitung der Kunstvermittlung) und Carmen Mörsch (Begleitforschung) u.a. im November 2006 in Berlin auf einer Pressekonferenz das 3. Leitmotiv „Bildung. Was tun?“ vor (neben den Leitmotiven: Ist die Moderne unsere Antike? und Was ist das bloße Leben?). Mit frühromantischen Argumenten – wie des Schleiermacher’schen Ansatzes der Herausbildung von Eigentümlichkeit – wurde ein Bildungsideal ausgesprochen, in dem ästhetische Bildung „die einzig tragfähige Alternative zu Didaktik und Akademismus auf der einen und Warenfetischismus auf der anderen Seite bildet.“ (Buergel)

Bildung wurde damit zu einem Teil des institutionellen Programms documenta. Die zu erwartende personelle Kunstvermittlung wurde mit neuen Methoden und Selbstreflexion angekündigt. Allerdings beschränkte sich das Neue vor allem auf das zweistündige Format einer Führung sowie das Sprechen in so genannten Palmenhainen. Mit den Ansprüchen: „Transparentmachen von Methoden“, „Reflexion der eigenen Historizität und der Widersprüche des Kunstsystems“, sowie des „Sich als kritische Freundin der Kunst und der Institution verstehen“ (Mörsch), wurde die Begleitforschung vorgestellt. Bisher hatte sich so explizit keine künstlerische Leitung einer documenta zu Bildung und Kunstvermittlung bekannt. Außer Arnold Bode, der die documenta 1 von 1955 als Reeducationprogramm im Nachkriegsdeutschland bezeichnete. Birgt das nicht auch die Gefahr, von den Logiken der institutionellen Repräsentation vereinnahmt zu werden?

Action. Lets organize!

Ab Februar 2007 gingen 70 Kunstvermittlerinnen [sic!], davon 50 mit einem garantierten Mindesteinkommen und 20 freie, in ihre unbezahlte Ausbildungsphase in Kassel. Diese wurden nach einem programmatischen Vorstellungstreffen im November 2006 in Kassel ausgewählt. 3 Ausbildungswochenenden in Kassel folgte ab Mitte Mai eine intensive Vorbereitungsphase vor Ort, die dann in die Arbeits- und Projektphase mündete. Der Prozess der Reflexion wird im nächsten Jahr mit einer Publikation der Begleitforschung abgeschlossen sein.

In einem der vielen Momente von Methodenreflexion während der Vorbereitungstreffen wurde immer wieder auf die Freiheit der Einzelnen gesetzt: Jede macht ihre thematische Führung. Die Behauptung von Individualität ist in der Kunstvermittlung nicht neu, sondern ein Ergebnis der Aneignung von Kunstvermittlung, die sich damit u.a. von der Vorstellung eines neutralen Sprechens a la Museumspädagogik löste und an die Forderungen der sozialen Bewegung anschloss. Auf welche Seite gesellschaftlicher Entwicklungen könnte sich Kunstvermittlung heute schlagen?

Der Möglichkeitsraum für die selbstbestimmte kollektive Beantwortung dieser Frage wurde jedoch mitorganisiert – neben Ausbildungsblöcken, Pflichtplena, offenen Gesprächsgruppen, Projektforen, Begleitforschung, Vermittlungsprojekten, Formatproben – war jede Form des Empowerments schon Teil der neuen Vermittlungsstruktur, die auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basierte – auf Seiten der Vermittlerinnen wie der BesucherInnen. Neben der Frage nach den individuellen Unterschei- dungen – die sich aus aktivistischen Haltungen generieren und/oder vor dem Hintergrund der ausgestellten Kunstwerke und des Ausstellungskonzeptes entwickelt werden –, wäre meiner Meinung nach die Diskussion der inhaltlichen Gemeinsamkeiten wichtig gewesen. Eine solche Positionierung als heterogene Gruppe stellt eine Möglichkeit dar, individuelle Ansätze der Kunstvermittlung gegen eine neoliberale Vereinzelung und eine Vereinnahmung als Bildungsideal oder Marketinginstrument durch die Institution documenta selbstorganisiert zu verteidigen.

Anmerkungen

(1) Stephan Dillemuth, Anthony Davies and Jakob Jakobsen (2007): „There is no alternative: THE FUTURE IS SELF-ORGANISED“. In: William Bradley / Charles Esche: Art and social Change. A critical Reader, London

(2) Bazon Brock (1982): Besucherschule zur documenta 7. „Die Hässlichkeit des Schönen“, Kassel

Die Besucherschule der documenta war und ist kein Propagandainstrument der Ausstellungsleitung; sie war es selbst 1972 nicht, als ich ganz maßgeblich an der Entwicklung des d5-Konzeptes beteiligt war. (Brock)

Im Unterschied zu herkömmlichen Führungen entwickelt die Besucherschule jeweils ein Thema als Leitfaden, anhand dessen es dem Besucher möglich wäre, sich die Ausstellung zu erschließen. (Brock)

Etwa zweihundert Mal habe ich die Besucherschule live als action-teaching abgehalten (2). (Brock)

Man hat gemerkt, dass das Bedürfnis da ist und dass die Leute auch etwas zu sagen haben. (Schötker)

Sophie Goltz arbeitete als Kunstvermittlerin auf der d12 und in den Bereichen Education und Besucherdienst auf der d11. Zudem initiierte sie das Vermittlungsprojekt Deutsch Wissen auf der d12 (zs. mit A. Bartl, S. Hesse, A. Hubin). Lebt in Berlin und Wien.