Die leibhaftige Devianz

„Fanmeile“ und „Freiwillige Ausreise“ wurden 2006 von der Gesellschaft für deutsche Sprache als Wort bzw. Unwort des Jahres prämiert. Ein drittes Wort – „Parallelgesellschaften“ – hat es zuletzt zwar nur auf den zweiten Platz in dieser Rangliste geschafft, ist aber nach wie vor in aller Munde.

„Fanmeile“ und „Freiwillige Ausreise“ wurden 2006 von der Gesellschaft für deutsche Sprache als Wort bzw. Unwort des Jahres prämiert. Ein drittes Wort – „Parallelgesellschaften“ – hat es zuletzt zwar nur auf den zweiten Platz in dieser Rangliste geschafft, ist aber nach wie vor in aller Munde. Nebeneinander gestellt wirken diese Wörter, als würden sie wesentlich zusammengehörende, wenn auch gegensätzlich anmutende Pole einer Fragestellung aussprechen: Wie steht öffentlicher Raum zur Verfügung, wer ist darin willkommen, wer darf solchen kreieren, über welche Nutzungen und NutzerInnen wird verhandelt und welche werden dafür diffamiert, verdrängt, illegalisiert, ausgereist?

Die hier relevante Frage lautet dabei, wie schafft es ein kollektives Ich, sich soweit als homogen zu imaginieren, um immer wieder und von Neuem die real existierenden vielen Öffentlichkeiten als deviant bzw. anders zu projizieren – und eine bestimmte als „normal“ und „Norm“ zu entwerfen? Wie gelingt überhaupt z.B. die Etablierung eines Diskurses über Parallelgesellschaften? Wie wird das Postulieren einer Abweichung bewerkstelligt, ohne sich dabei ununterbrochen über die Dauerbesetzung der Rolle des implizit als norm(al) Vorausgesetzten den Kopf zu zerbrechen? Welche eingeübten Ausblendungen, Bemühungen um Verdrängungen, jahrelangen (institutionalisierten) Disziplinierungen usw. müssen im Vorfeld stattfinden und ge(währ)leistet werden, um die Normproduktion überhaupt in Gang zu bringen? Und natürlich – welches Kapital bringt dies den Amnesieanfälligen?

An alle, die sich an die Erschütterung der geordneten Welten der Euklidischen Geometrie in der Schule nicht mehr erinnern – die Parallelen überschneiden sich doch! Auch wenn manchmal der Eindruck gewonnen werden kann, das westeuropäische Schulsystem hat seinen AbsolventInnen dies erfolgreich vorenthalten.

Aber zurück zur Straße, zu ihrer über einen Monat andauernden Sperre anlässlich der WM, zu ihrer Benützung für Public Viewing usw. – diese Inanspruchnahme der Straße von Abertausenden Menschen verbietet pauschale Anklagen über das Verschwinden von öffentlichen Räumen und belegt mit aktueller Dringlichkeit die Frage nach der Verschiebung ihrer Nutzungsart und die daraus resultierenden möglichen Strategien ihrer Rückeroberung. Findet eine Abkehr vom trauten Heim statt? Oder wird hier eher eine bestimmte Ausprägung dieses „Heims“ Teil des öffentlichen Raums? Aber auch: Weswegen soll man sich überhaupt so zahlreich versammeln?

Die scheinbar exakte Linie verläuft gerade dort, wo die Unterscheidung gemacht wird zwischen Versammlungen, die dem „besonderen Lebensgefühl“ einer Gruppe Ausdruck verleihen und Zusammenkünften, die „gemeinschaftliche, an die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung“ beabsichtigen. Welche Gruppen ihrem Lebensgefühl wie frönen (sollen), aber auch wer z.B. Kundgebungen anmelden darf – bislang braucht man dafür die BürgerInnenrechte, sprich eine österreichische Staatsbürgerschaft – und sogar, wer als TeilnehmerIn einer Kundgebung gilt? Beispielsweise in der beinahe absurdistisch anmutenden, lakonischen Prägnanz des Gesetzestextes formuliert: „Wenn Polizisten im Rahmen ihres Dienstes eine Versammlung begleiten, dann gelten sie nicht als Versammlungsteilnehmer“. Dies sind gerade jene Realien, die uns täglich – unausgesprochen und eindringlich – beibringen, was unter öffentlich, Lebensgefühl und natürlich unter Gesellschaft zu verstehen ist und welche Parallele zu ziehen angebracht sei.

Was die Auswirkungen eines konsequenten, aus dem Dienste des „besonderen Lebensgefühls“ sich Suspendierens betrifft – darüber informiert Sie bekanntlich Ihre Tageszeitung, die Partei Ihrer Wahl und auch Ihr/e TherapeutIn nicht.