Die Auseinandersetzung um den Antiromaismus …

<p>Man würde annehmen, dass die serbische Regierung für die Zeit von Juli 2008 bis Juni 2009, als Serbien den jährlich wechselnden Vorsitz der <i>Roma Dekade 2005-2015</i> [2] innehatte, Anstrengungen unternommen hätte, die Ziele der <i>Dekade</i> aufzugreifen und die Effekte einer Jahrhunderte langen Politik gegen Roma in der Region zu mindern. Weit gefehlt! Wir wurden stattdessen ZeugInnen einer völligen Missachtung der Ziele der <i>Dekade</i> in Serbien und sogar

Man würde annehmen, dass die serbische Regierung für die Zeit von Juli 2008 bis Juni 2009, als Serbien den jährlich wechselnden Vorsitz der Roma Dekade 2005-2015 [2] innehatte, Anstrengungen unternommen hätte, die Ziele der Dekade aufzugreifen und die Effekte einer Jahrhunderte langen Politik gegen Roma in der Region zu mindern. Weit gefehlt! Wir wurden stattdessen ZeugInnen einer völligen Missachtung der Ziele der Dekade in Serbien und sogar einer Verschärfung der Diskriminierung durch die Belgrader Behörden, BürgerInnen und Medien – einer Diskriminierung, die derartig tief und systematisch das soziale Gefüge und seine Institutionen durchzieht, dass sie als strukturell und institutionell einzuordnen ist. Zur gleichen Zeit war die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit auf das internationale Sportereignis der Belgrader Universiade 2009 gerichtet. Auf Grund der fehlenden Infrastruktur für die Unterbringung der internationalen AthletInnen und FunktionärInnen der Universiade schloss die Stadt Belgrad einen Vertrag mit privaten Investoren, der internationalen Unternehmensgruppe Blok 67 Associates, bestehend aus der im Besitz des größten Tycoons in Serbien stehenden Delta Real Estate und der österreichischen Hypo Alpe-Adria-Bank. Die Stadt stellte öffentliches Land zur Verfügung, die Investoren errichteten einen Gebäudekomplex namens Belville (frz.: schöne Stadt), der für die Unterbringung der Gäste während der Dekade genutzt wurde. Nach dem Ereignis standen die Wohnungen, Geschäfte und Büros zum Kauf durch die Gesellschaft. Für dieses Vorhaben musste das Land rund um Belville gesäubert werden, was die Zerstörung der informellen, von Roma bewohnten, Siedlungen bedeutete. Das Feld dafür war von Jahresbeginn an aufbereitet worden, durch die typisch rassistische Propaganda der Medien und PolitikerInnen, die damit den breiten Anti-Roma-Konsens in Serbien bedienten. Damit wurde deutlich: Die Roma sollten das schöne Bild von Belgrad und von Belville, das der Welt als Image Serbiens vermittelt werden sollte, nicht beflecken. Nachdem die öffentliche Meinung vorbereitet worden war, konnte die Aktion beginnen. Am frühen Morgen des 3. April 2009 begannen Planierraupen unter Polizeischutz mit der Räumung der Siedlung und zerstörten ungefähr 40 Häuser.

Widerstand und Solidarität
Als Reaktion auf diesen Akt der Vernichtung geschah etwas Außergewöhnliches. Die BewohnerInnen der Siedlung organisierten mit der Unterstützung verschiedener Organisationen, KünstlerInnen und anderer BürgerInnen eine Reihe von Protesten in den Straßen Belgrads. Dies setzte die EntscheidungsträgerInnen der Stadt so unter Druck, dass sie vorübergehend einstellen mussten, womit sie begonnen hatten: die vollkommene Zerstörung der Siedlung[3].
Während die Universiade näher rückte, stellte sich heraus, dass diese auf Grund der Proteste nicht möglich sein würde. Die neue Strategie der Stadt war nun, die Siedlung und ihre BewohnerInnen zu verstecken, sie „unsichtbar“ zu machen. Unter dem Vorwand der für die Veranstaltung notwendigen Sicherheitsmaßnahmen wurde zwei Wochen vor der Eröffnung der Universiade ein Metallzaun rund um die Siedlung errichtet. Um die Siedlung zu verbergen, wurde ein Transparent an dem Zaun angebracht, den Security und Polizei bewachten. Diese hinderten die BewohnerInnen am Verlassen der Siedlung und drohten ihnen mit Verhaftung, wenn sie in den Straßen rund um Belville gesehen wurden, besonders wenn sie bei der Suche nach gebrauchten Dingen in Müllcontainern erwischt wurden. Sie wurden somit nicht nur ihrer Bewegungsfreiheit beraubt, sondern durch das Verbot, ihre normale tägliche Arbeit in den Straßen Belgrads auszuüben, auch ihrer Existenzgrundlage. Dies führte zu einigen Solidaritätsaktionen von Organisationen wie Belgrade Other Scene and Friends (die Plattform der unabhängigen aktivistischen Kulturszene in Belgrad). Auf deren Druck wurde zumindest das Banner wieder abgenommen, wodurch die Siedlung wieder nach außen sichtbar wurde.

Inklusion und die koloniale Machtmatrix
Zunächst muss festgehalten werden, dass wir uns in der Analyse dieser Ereignisse nicht auf die von internationalen Abkommen oder der serbischen Verfassung verfügten Menschenrechte berufen können. In der heutigen Weltordnung gibt es so etwas wie garantierte universelle Menschenrechte nicht. Es gibt nur die Macht des Kapitals und in Verbindung damit die souveräne Macht, die bestimmt, wer das Recht hat darauf, Mensch zu sein und damit Menschenrechte zu haben, und wer nicht. Auf den Menschenrechten zu bestehen ohne Berücksichtigung der Politik, würde uns in eine falsche Richtung führen, die die souveräne Macht und ihre Reproduktion übersieht, wie Giorgio Agamben anmerkte[4]. Außerdem müssen wir, um diese Ereignisse zu verstehen, die historischen und aktuellen Entwicklungen des Kapitalismus ebenso wie den europäischen Erweiterungsprozess verstehen. Seit Jahrhunderten leben Roma in Europa und müssen als konstitutiver Teil Europas begriffen werden. Sie lebten hier lange bevor das Konzept der Nation erfunden wurde, und wir könnten somit fragen, wie es kommt, dass sie als etwas der Nation Äußeres, das inkludiert werden muss, betrachtet werden, wie uns die Roma-Dekade[5] vermittelt. Das Konzept der Inklusion erscheint somit paradox. Doch wenn wir betrachten, wie Macht funktioniert und in welchem Ausmaß Kolonialität im Kapitalismus verwurzelt ist, realisieren wir, dass es keineswegs paradox ist.
Um die Logik der Inklusion zu verstehen, müssen wir zurückgehen zum Innersten kapitalistischer Ausbeutung – zur Kolonialgeschichte Europas und der Sklaverei, die um des kapitalistischen Fortschritts und der Entwicklung der weißen EuropäerInnen willen betrieben wurde –, da deren Mechanismen nach wie vor die menschlichen Beziehungen heute bestimmen. Walter Mignolo wies darauf hin, dass „eine im Sinne einer Erlösungsrhetorik verstandene Moderne Hand in Hand geht mit der Rechtfertigung der Logik der Kolonialität: der Kontrolle und Aneignung von Land, der Ausbeutung von Arbeit, Menschenleben, die in Waren verwandelt wurden; der Kontrolle von Autorität, von Geschlecht und Sexualität, von Wissen und Subjektivität. [...] Was die Bereiche des Lebens und der Gesellschaft hält, innerhalb derer die Logik der Kolonialität funktioniert, ist ein Ort der Artikulation (locus of enunciation), der sich auf Patriarchat und Rassismus gründet“[6]. Die genannten Lebensbereiche sind Mignolo zufolge konstitutiv für die koloniale Machtmatrix, in der Rassismus eine entscheidende Rolle spielt.
Die koloniale Machtmatrix wirkte einhergehend mit dem Rassismus als ihrer wichtigsten Methode nicht nur außerhalb Europas, sondern auch innerhalb seiner Grenzen. Alle, die nicht in die Kategorie der „weißen ChristInnen“, die als jene von höchstem Wert konstruiert wurden, passten, waren untergeordnet. Darüber hinaus bestimmt die koloniale Geschichte die Gegenwart – sie wird normalisiert und ständig innerhalb und außerhalb der „Ersten“, kapitalistischen Welt fortgesetzt, von Migrationspolitiken, Globalisierung, Schuldknechtschaft, der andauernden Enteignung natürlicher Ressourcen, und heutiger Kriege und Invasionen.
Als people of color und angebliche Heiden befanden sich Roma seit der EuropäischenModerne und der Aufklärung im Visier der kolonialen Machtmatrix. Über Jahrhunderte erließen Königreiche und heilige Imperien, totalitäre Regimes und Demokratien in Europa eine Vielzahl von Dekreten und Gesetzen, auf deren Basis Roma verbannt, ausgebeutet, versklavt, gefoltert, diskriminiert, vertrieben, sterilisiert und in großem Ausmaß ermordet wurden[7].

Diskriminierung der Roma als Teil der kapitalistischen Logik
Deutschland deportiert in Kooperation mit den EU-Kandidatenländern im Zuge ihres Bewerbungsverfahrens ohne Vorwarnung Roma in die Herkunftsländer und lässt sie dann allein auf den Straßen zurück. In Italien wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, um ganzen Roma-Gemeinden inklusive Minderjährigen Fingerabdrücke abzunehmen[8]. Und in der letzten Zeit waren Roma in ganz Europa Pogromen, Morden und Ausweisungen ausgesetzt – in Deutschland, Finnland, Irland, Italien, Österreich, Serbien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn ...
Roma wurden somit über Jahrhunderte hinweg in Europa diskriminiert und zum Gegenstand rassistischer Politiken, deren diskriminatorische Akte eine Kontinuität von Strategien der Auslöschung, Vertreibung, Assimilation, Integration und zuletzt der Inklusion zeigen. Wenn wir zurückgehen zur Roma-Dekade, so sehen wir, dass ihre Konstellation proaktive und reaktive TeilnehmerInnen umfasst. Erstere repräsentieren die wesentlichen Mächte des heutigen Kapitalismus und jene, die den Status Quo erhalten: die Weltbank, der Europarat und seine Entwicklungsbank, OSZE, Open Society Institute, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und andere UN-Organisationen. Das Engagement dieser Agenturen in den Globalisierungsprozessen vergangener und aktueller europäischer Kolonialprojekte warnt uns davor, so naiv zu sein zu glauben, bei derRoma-Dekade ginge es um die Beseitigung der Diskriminierung und der Armut von Roma. Vielmehr erfahren wir, wie die koloniale Machtmatrix im Kontext der EU und des globalen Kapitalismus funktioniert. Die reaktiven TeilnehmerInnen des Projekts der funktioniert. Die reaktiven TeilnehmerInnen des Projekts der Dekade sind die osteuropäischen Länder, die erst vor Kurzem EU-Mitglieder wurden oder dies in der näheren Zukunft werden (Die einzige Ausnahme ist Spanien!). Man könnte daraus schließen, dass die Abwesenheit westeuropäischer Länder in der Dekade das Ergebnis der Tatsache ist, dass Roma dort nicht diskriminiert würden und deshalb keine Notwendigkeit für ein solches Programm bestünde. Doch wie wir gesehen haben, ist das nicht der Fall, und der Schluss liegt nahe, dass es in der Dekade eigentlich um die Inklusion der neuen und zukünftigen EU-Staaten geht und dass sie als Instrument dienen soll, Europa zu ermöglichen, die Position der Roma innerhalb der kolonialen Machtmatrix zu sichern: die Inklusion von Roma gemäß rassistischer EU-Standards. Die dahinter stehende Logik ist eine neoliberale kapitalistische, in ihrer kolonialen Vergangenheit verankerte Ideologie, die den Rassismus als Instrument der Ausbeutung nutzt. Ihr Ziel ist nicht die Pluriversalität menschlicher Beziehungen, sondern die Durchsetzung der Inklusion von Roma innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems, was so viel bedeutet, wie diese gemäß den EU-Standards zu „zivilisieren“. Inklusion bedeutet nicht, dass Roma gleiche Rechte haben, sondern dass sie in kultivierterer Form ausgebeutet werden, wie das in den westlichen Ländern der Fall ist. Was die EU somit vorschlägt, ist eine nicht so offensichtliche, sondern subtilere und unterschwellige Diskriminierung von Roma. Einer der wesentlichsten Aspekte der Roma Dekade ist im Verhältnis zur europäischen Sicherheitspolitik zu sehen: Roma sollen daran gehindert werden, von den ärmeren osteuropäischen Ländern in den reicheren Westen zu migrieren. Die teilnehmenden Länder sollen also die Lebensbedingungen der Roma verbessern und damit sicherstellen, dass die Roma bleiben, wo sie sind. Der aktuelle Fall von 100 Roma, die aus Rumänien auswanderten, erzeugte immense Panik in Deutschland[9]. Diese Panik resultiert eigentlich aus der Angst, dass eine wachsende Anzahl von Roma den Antiromaismus in Deutschland, der nach dem Porajmos, dem Genozid an den Roma im Nationalsozialismus, der auch Österreich umfasste, gleichsam auf „Schlummermodus“ geschaltet worden war, wieder wachrufen könnte. Denn das Wachrufen dieses latenten Antiromaismus würde die westliche, kulturrassistische Überzeugung widerlegen, selbst weniger rassistisch und demzufolge auch zivilisierter zu sein als die OsteuropäerInnen.
Wir können zusammenfassen, dass die Strategie der Inklusion ein ideologisches Konzept darstellt, das auf die Produktion, Reproduktion und Aufrechterhaltung von Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen abzielt, da es nicht von der Gleichheit von Menschen, sondern von deren Ungleichheit ausgeht. Dies bedeutet, dass es eine Unterscheidung voraussetzt, die vom Kapitalismus geschaffen und aufrechterhalten wurde. Auf dieser Basis kann eine Situation, in der jemand per se (oder von „Natur aus“) eingeschlossen ist, während andere eingeschlossen werden müssen, zu keinerlei aussichtsvoller und antidiskriminatorischer Politik führen. Der einzige Weg zur Beseitigung von Diskriminierung ist die Beseitigung des Systems, das diese produziert – des Kapitalismus selbst.

1 Der Begriff des Antiromaismus wird hier anstelle des geläufigeren Begriffs Antiziganismus verwendet, wie Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü vorgeschlagen haben, „…da es widersinnig erscheint, bei einem Wort, das die Diskriminierung von Roma beschreibt, auf einen Begriff zurückzugreifen, welcher sich von der diskriminierenden Bezeichnung ,Zigeuner‘ ableitet“. Antiromaismus „reicht von den Vorurteilen gegenüber Roma über offene Ablehnung, Ausgrenzung und Vertreibung bis hin zur massiven Verfolgung und zum Völkermord. Unter Antiromaismus fällt allerdings nicht nur die Diskriminierung und Dämonisierung der Minderheit, sondern auch die weitverbreitete Verklärung des ,lustigen Zigeunerlebens‘“. Vgl. Aggermann, Lorenz/Eduard Freudmann/Can Gülcü (2008): Beograd Gazela. Reiseführer in eine Elendssiedlung, Klagenfurt: Drava, S. 200.
2 Decade of Roma Inclusion
3 Mehr zu den Protesten im Film BELLEVILLE, Biro Beograd 2009
4 Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
5 Auf Engl. Decade of Roma Inclusion, Anm. d. Übers.
6 Grzˇinic´, Marina/ Mignolo, Walter (2008): „De-linking epistemology from capital and pluri-versality“. In: Reartikulacija 4/2008
7 Vgl. Petrova, Dimitrina (2009): „The Roma: Between a Myth and the Future“. Unter: www.errc.org
8 Vgl. Jeremic´, Vladan/ Rädle, Rena (2009): „Antiziganism and Class Racism in Europe“. Unter: www.octogon.hu
9 siehe: berlinonline

Anmerkung
Der Text ist Teil einer Kooperationsreihe mit der Zeitschrift Reartikulacija. Er ist die stark gekürzte Version eines Texts, der in Reartikulacija 7, 2009: The Law of Capital: Histories of Oppression, part 1, herausgegeben von Marina Grzˇinic´ und Sebastjan Leban erscheint. www.reartikulacija.org

Übersetzung: Therese Kaufmann

Ivana Marjanovic ist Mitbegründerin der Galerie Kontekst in Belgrad und Doktorandin an der Akademie der bildenden Künste in Wien.