Die Olympischen Spiele von Bloomsbury
Frühjahr 2012. Die Mitglieder der sozialistischen Partei innerhalb der Studierendenbewegung von Bloomsbury treten aus ihren Vorlesungsräumen und protestieren gegen die Hochschulreformen. Sie paradieren durch die Straßen, als würde jeder Tritt auf dem Pflaster die Welt der politischen Bewusstseinsbildung einen Schritt näher bringen.
Londons Osten und die „radikale Erneuerung“.
Frühjahr 2012. Die Mitglieder der sozialistischen Partei innerhalb der Studierendenbewegung von Bloomsbury treten aus ihren Vorlesungsräumen und protestieren gegen die Hochschulreformen. Sie paradieren durch die Straßen, als würde jeder Tritt auf dem Pflaster die Welt der politischen Bewusstseinsbildung einen Schritt näher bringen. Eineinhalb Jahre zuvor war es tatsächlich dieser Akt, der die kollektive Wut auf die nationale Raumplanungs-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik zum Ausdruck brachte. Seitdem ist es mit der StudentInnenbewegung, in Bloomsbury und andernorts, bergauf und bergab gegangen: Sie ist besser organisiert und dynamischer, als es ihre Vorläuferinnen in den vergangenen zehn Jahren waren. Die Formen der Kooperation zwischen Studierenden- und GewerkschaftsaktivistInnen sind innovativ. Dennoch: Im Angesicht der Unnachgiebigkeit der staatlichen Gesetzgebung zögert die Bewegung. Der Protest richtet sich gegen den Minister für Universitäten und Wissenschaft, David Willetts, aber offenbar kann sich niemand vorstellen, dass sich dieser über die reine Anschuldigung hinaus zu einem ernsthaften Widerstand entwickelt.
In den vergangenen zwei Jahren waren es vor allem zwei Bereiche der Kapitalproduktion, innerhalb derer bestimmte Strategien zur ökonomischen Re-Organisation diskutiert wurden: Bildung und Bauwesen. „Bildung“ meint hier den marginalisierten und verwässerten Hochschulsektor, „Bauwesen“ die bizarre Welt der Olympischen Spiele. Das Olympia-Viertel von Stratford ist die momentan größte Baustelle Europas, während gleichzeitig landesweit die Anzahl der in Auftrag gegebenen Bauprojekte auf dem niedrigsten Stand seit 1980 liegt. Bildung und Bauwesen – in der Absicht des University College London (UCL) auf einem Gelände in Stratford, auf dem derzeit Wohnblocks aus den 1960er-Jahren stehen, einen neuen Campus zu bauen, werden diese beiden Sektoren miteinander vereint.
Olympisches Bloomsbury
Im vergangenen Jahr gab das UCL bekannt, einen prachtvollen neuen Campus in Stratford zu errichten. Standort dieses Projekts sollen die 20 Hektar der an den Olympiapark angrenzenden Carpenters Estate-Sozialwohnbauten werden. Ein kurzer Rundgang über das Gelände verdeutlicht: Die örtlichen Gegebenheiten erfordern für die Projektrealisierung einen Totalabriss der Wohnbauten samt Gemeinschaftsanlagen. Der Bezirksbürgermeister von Newham frohlockt: „Eine weitere Universität bedeutet angesichts der bereits vor Ort etablierten Bildungseinrichtungen einen Anreiz für Newhams Jugend, einen Blick auf die Vielfalt der sich ihnen bietenden Chancen zu werfen. Zusätzlich zu den neu entstehenden Arbeitsplätzen ermöglicht der neue Campus einen Wachstumsschub für die lokale Wirtschaft und wird dauerhafte Verbesserungen für das lokale Gemeinwesen mit sich bringen.“ Im Klartext: „Die Jugend von East London kann sich die Erhabenheit der UCL gerne ansehen und davon träumen, eines fernen Tages selbst an diese Größe heranzureichen. Bis dahin können sie – noch besser – an der Universität arbeiten.“
Der Bürgermeister ersetzt also flugs die Möglichkeit, etwas zu erreichen, durch die Möglichkeit, zu überleben – Überleben statt Hoffnung. Stratford ist mit Bildungseinrichtungen bereits gut versorgt, wenn nicht sogar zu gut. Das Queen Mary College ist gerade einmal ein paar Busstationen entfernt, das Building Crafts College bietet Spezialisierungen sowie Grundlagenkurse. Nächst dem verfallenden Einkaufszentrum befindet sich der alte Campus der University of East London (UEL). Das Birkbeck College, auch in Bloomsbury gelegen, nutzt gemeinsam mit der UEL Ressourcen im Neubau in Stratford, und beide Institutionen planen einen neuen gemeinsamen Campus (vage als University Square bezeichnet), um auch noch am Bauboom in Newham teilzuhaben. Aber die Hoffnung auf eine nachhaltige Auswirkung auf die Wirtschaft (und nicht nur auf den Arbeitsmarkt) richtet sich auf die Studierenden am UCL, während die Menschen aus East London mit den Dienstleistungen der anderen Institutionen vor ihrer Haustüre auskommen müssen.
Während jedoch dem UCL sowohl Lorbeeren als auch Unterstützung zugesichert werden, bekommen die UEL-StudentInnen, die mehrheitlich der ArbeiterInnenklasse entstammen, die volle Wucht des olympischen Sturms zu spüren. Die UEL hatte viele der Studierenden in der Clays Lane-Genossenschaftssiedlung untergebracht, dem einst größten Genossenschafts-Wohnbauprojekt in Großbritannien, von der National Building Agency mit Stolz hochgezogen. Die Clays Lane wurde 2007 aufgekauft und abgerissen, um hier potenziellen EntwicklerInnen das Olympiagelände symbolisch für das gesamte Areal präsentieren zu können. Mit anderen Worten: StudentInnen und Familien wurden aus ihren Wohnungen geworfen, um mit einem makellosen Bauplatz anzugeben, der nur so nach Fußballstadien und Tennisplätzen schreit. Zwei Jahre lang blieb das Areal eine künstliche Landschaftsbrache.
Der Rektor des UCL, Malcolm Grant, hat unter Einsatz floskelhafter Managementsprache stets betont, dass die BewohnerInnen befragt (also bevormundet) worden sind und ihre Meinung gehört (also bestmöglich zurückgehalten) wurde. Die AnrainerInnen-Initiative Carpenters Against Regeneration Plans (CARP) konnte nur zusehen, wie Stadtverwaltung und UCL gemeinsame Sache machten, um die Entwicklung des Uni-Areals voranzutreiben – ungeachtet der Einwände auf den öffentlichen Schein-Versammlungen, für die eigens Securitys angeheuert worden waren, um unliebsame Stimmen zu entmutigen.
In jüngster Zeit haben sich die AnwohnerInnen gegen die Geschäftemacherei der Verwaltung gewehrt, die einen Vertrag mit der BBC über die Nutzung der fünf oberen Stockwerke eines der angeblich verfallenden Wohntürme für Übertragungen während der Olympischen Spiele unterschrieben hat. Und hier ist die Verwaltung wirklich weit entfernt von jeder Doppelzüngigkeit, sie ist sogar ziemlich eindeutig: Die AnwohnerInnen können nicht mithalten mit der Größenordnung des Kapitals, mit dem die Olympischen Spiele aufwarten können – also muss man sie loswerden.
Die Olympischen Spiele sollen willkommen geheißen werden: Zunächst von der Spitze der Wohnblocks aus, die damit ihre letzte Aufgabe inmitten der neuen Giganten der Stratford AG erfüllen, bis das Dynamit an ihrem Fundament angebracht werden kann und sich die großspurige Silhouette des UCL aus dem Schutt erhebt. Sogar die BBC versteht diese Logik: Sie hat angekündigt, dass sie einige der Räume an internationale MedienexpertInnen untervermieten wird.
Zweite Haussmannisierung
Die Kulturindustrie, Nutznießerin der geräumten Wohnbauten, ist in das ökonomische und soziale Netz von Bloomsbury, Olympic gut integriert – Russel Square wird diesen Sommer ein Medienknotenpunkt sein. Gecharterte Busse bringen die Medienleute von und zu den U-Bahn-Stationen; eine eigene U-Bahn-Linie wird sie zu Tausenden von King’s Cross nach Stratford verfrachten. Von den eleganten Plätzen in Bentham und Keynes geht es zu den (sicherlich gut verborgenen) Brachflächen, die sich zwischen den Block von Carpenter’s Estate erstrecken; von der Party bis zum Elend. Die „strategische Vision“ der Camdener Verwaltung von 2007 führte zur zweiten Haussmannisierung von Bloomsbury, die Prozesse des 19. Jahrhunderts traten wieder zutage. Wenig verwunderlich war daher die Nachricht, dass der Russel Square abgesperrt werden soll, sodass die Universitäten nur noch von Norden her zugänglich sein werden; dass die Malet Street, die an der westlichen Grenze des Campus entlang führt, für den Medientross reserviert werden soll.
Das passt auch zur Strategie des UCL, seine kapitalistische Laufbahn fortzusetzen. Allen, die an den widerspiegelnden Glasflächen der Nido-Blocks, in denen die neuen StudentInnenwohnungen untergebracht sein werden, hochblicken, ist klar, dass deren eigentliche Bestimmung darin besteht, der temporären Hotelindustrie zu dienen. Die StudentInnenschaft und die moderne Universitätsinfrastruktur werden also in den Dienst des olympischen Spektakels gestellt. Der Stadtteil Bloomsbury, zentral gelegen, mit seinen schicken Cafés und Imbissen, einem breiten Angebot an Hotelzimmern und Penthouses, positioniert sich im Marktsegment der Freizeitvergnügungen als perfekter Ort für Konferenzen und Kurzaufenthalte. All die StudentInnenwohnungen werden im Sommer 2012 an die Horden von Paparazzi und BerichterstatterInnen übergeben, die von den saisonalen Ereignissen berichten sollen.
Die Entwicklungsmethoden, mit denen Bloomsbury in den letzten Jahren errichtet und umgewidmet worden ist, kehren nunmehr nach Stratford zurück – allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Die StudentInnenwohnblocks werden dort nicht gebaut, um eines Tages Hotels zu werden, sondern Hotels werden errichtet, um eines Tages als StudentInnenheime zu dienen. Die Austauschbarkeit von StudentInnen und TouristInnen, beide in den Augen der Bourgeoisie fester Bestandteil der Klasse an wohlhabenden nomadischen KonsumentInnen, sind zu einem zentralen Element der Metropole und ihrer Architektur geworden. Unternehmens- und Universitätsstrukturen nähern sich einander immer mehr an. Hotelzimmer und StudentInnenzimmer verschmelzen ebenso wie akademische Konferenzen und Businessmeetings.
Resultat zweier Abfallprodukte
Im Osten Londons werden die Sümpfe von Hackney von den üppigen Kurven des olympischen Media Centres durchbrochen, einem der am meist umkämpften Spielzeuge des aktuellen Modernisierungswahns. Sein Hauptkonkurrent im gut gerüsteten Dorf ist die von der Rothschild Gruppe finanzierte iCity. Ihre Webseite lockt mit allerlei Bildungspartnerschaften und präsentiert sich doch so wie hundert andere olympische Träume: Warme Sonnenaufgänge über Glastürmen, ein Gewimmel digitaler Figürchen spielt fröhlich zwischen riesenhaften Bildschirmen und Einkaufspalästen. Wir kennen sie gut, die Glastürme der olympischen Visionen; ihr Innenleben verbergen sie. Innerhalb dieser Utopien gibt es allerdings kritische Realitäten, die vom Geist abgelöst werden. Utopia, im gläsernen Kleid, ist bereits da – die StudentInnen von Bloomsbury prallen daran ab, ihr Abbild spiegelt sich lediglich an der Fassade wieder, wenn sie daran vorbeigehen. Aber nur einen Blick von diesen Spiegeln entfernt starrt die entfremdende Wirklichkeit zurück: die Arbeit, die den Dreck atmet, in den Wartungshallen und Entwicklungslabors.
Es stellt sich die Frage, wo die vollautomatisierten, verarmten Menschen leben werden, wenn Stratford erst einmal mechanisiert ist. Die Antwort lautet: weiter aus London draußen, in Leyton und Walthamstow, Croydon, Mitcham und Thornton Heath. Aber das sind genau die Gegenden, wo nach den Unruhen vom August 2011 Unternehmens- und Entwicklungsfinanzierung als nächstes Fuß fassen. Die Menschen von East London werden weiter aus der Stadt hinaus gedrängt, die EntwicklerInnen folgen ihnen auf dem Fuß.
Die Situation in East London ist, trotz aller Glorifizierung von Erneuerung und Wachstum, das Resultat des Aufeinanderprallens zweier Abfallprodukte: überflüssiges Land und überflüssige Arbeit. Auf der einen Seite wird das Brachland einfach neu verpackt und als neuartiges Produkt verkauft. Auf der anderen Seite wird durch die derzeitigen Mechanismen des globalen Kapitals schlecht bezahlte Arbeit geschaffen, und Bloomsbury stellt in diesem Ausbeutungsprozess eine makellose Speerspitze dar.
Das Olympiagelände wird freilich auch verrotten. Unter den Gebäuden, die derzeit als neues Utopia vermarktet werden, wird die bisher angesammelte tote Arbeit beseitigt, um noch mehr lebendige Arbeit aus den arbeitenden Klassen herausquetschen zu können. Der giftige Staub, der sich im Boden verbirgt, wird dadurch nur noch giftiger werden, bis in tausend Jahren die Auswirkungen sichtbar sind. Das Kapital wird – ungeachtet der sozialen Umwälzungen – einen Weg finden, um aus diesem geerbten Müll wiederum Profit zu schlagen.
Richard B lebt in London und ist bei Bloomsbury Fightback! organisiert.
Übersetzung aus dem Englischen: Patricia Köstring und Clemens Apprich.
Anmerkung
Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels für www.metamute.org, die Webplattform des Londoner Mute Magazine.