Eine Kulturpolitik für die EU – Europa durch Kultur verändern ist möglich

Die Herrn Kaczyński, Orban und Salvini verbünden sich. Sie fordern die Festung Europa, den Bau von Mauern. Sie zelebrieren nationale Mythen und beschwören nationalistische Visionen und Kulturvorstellungen. Sie missbrauchen Kultur für ihren Feldzug gegen eine EU, die auf humanistischen Werten aufbaut. Ein Plädoyer von Philippe Kern für eine neue europäische Kulturpolitik und eine EU, die mehr ist, als ein Binnenmarkt.

Die Herrn Kaczyński, Orban und Salvini verbünden sich. Sie fordern die Festung Europa, den Bau von Mauern. Sie zelebrieren nationale Mythen und beschwören nationalistische Visionen und Kulturvorstellungen. Sie beschuldigen die EU, nationale Identitäten zu bedrohen [1]. Historisch betrachtet hat Kulturpolitik zum Aufbau von Nationalstaaten beigetragen. Heute wird sie für einen Feldzug gegen eine humanistische Vision von Europa ins Treffen geführt - ein Europa, das kulturellen Austausch willkommen heißt, freie Meinungsäußerung, Vielfalt und gegenseitiges Verständnis fördert. Die Autoritären befeuern Xenophobie und nationalistische Vorstellungen, die das europäische Ideal zerstören. Sie zeigen, dass das Fundament Europas gefährdet ist, wenn Kultur nicht mitgedacht wird. 

Wie kann die Kulturverwaltung für die Förderung der Werte von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, auf denen die Europäische Union aufbaut, relevant werden? Wie können Kunst und Kultur zur Stärkung von Toleranz, Empathie oder gegenseitigem Verständnis, die die Grundlage für eine stärkere Union sind, beitragen? Was könnte eine europäische Politik für Kultur, die humanistische Werte verkörpert, sein? 

Heute ist Kulturpolitik auf EU-Ebene im wesentlichen auf zwei Bereiche beschränkt: die Förderung europaweiter Netzwerke, welche die Zusammenarbeit zwischen europäischen Kulturorganisationen unterstützen. Diese kommen nur sehr wenigen künstlerischen Projekten zugute, die zwar innerhalb von Kunstkreisen, aber kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind; und die Förderung nationaler Kulturinstitute (vor allem das British Council und das Goethe Institut), um im Bereich der Kulturdiplomatie einige Leuchtturmprojekte durchzuführen. Das Ziel einer strategischen, eigenständigen Politik der Europäischen Union im Kulturbereich muss erst genährt werden. 

Die EU hat ihre Fähigkeit, wichtige Initiativen im Kulturbereich setzen zu können, gezeigt. Ich würde hervorheben: 

  • die Marke „Europäische Kulturhauptstadt“ (1985),
  • das Europa Cinemas Netzwerk, welches das unabhängige nationale Kino darin unterstützt, Verbreitung in Lichtspieltheatern in der gesamten Europäischen Union zu finden (1992), 
  • der Beitritt zur UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt, die es Staaten ermöglicht, ihre lokale Kulturwirtschaft zu unterstützen (2005),
  • die Schaffung des Garantiefonds, um Investitionen in den Sektor zu stimulieren (2016).  

Das EU-Jahresbudget für Kultur (ungefähr 250 Millionen Euro) beträgt weniger als ein Viertel dessen, was Netflix alleine dieses Jahr für europäische Film- und TV-Produktionen ausgibt. Der aktuell für Kultur verantwortliche EU-Kommissar hat nur eingeschränkt Kompetenzen (sein Verantwortungsbereich umfasst nicht den audiovisuellen Bereich) mit geringem öffentlichem Profil und politischem Gewicht. Gleichzeitig werden sich jene Behörden, die massive EU-Förderprogramme für regionale Entwicklung und auswärtige Beziehungen verwalten, immer mehr der Bedeutung von Kultur für ökonomische und soziale Entwicklung bewusst. Um was zu erreichen? Kulturstraßen, Erhaltung des Erbes um Tourismus zu befördern oder Cocktail-Diplomatie? 

Es braucht eine klare Vision der EU für eine Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts in allen Dimensionen der EU-Aktivitäten, insbesondere in den auswärtigen Beziehungen, der Entwicklungs-, Nachbarschafts- und Innovationspolitik. Wir müssen uns eine neue Kulturbürokratie vorstellen, die die bereichsübergreifende Wirkung von Kultur auf viele verschiedene Politikbereiche ebenso erkennt, wie die wichtige Rolle von Städten in der Neudefinition der Bedeutung von Investitionen in die Kultur als Teil urbaner ökonomischer und sozialer Wiederbelebung.   

Bei Kulturpolitik geht es längst nicht mehr nur um die Verwaltung von Kunst, die Förderung nationaler Kunst im Ausland, das Überleben von Kunst in der Konsumgesellschaft oder ihre Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Damit die Welt eine Gesellschaft, getragen von gegenseitigem Verständnis, wird, ist es unabdingbar, dass politische Entscheidungen das Ziel kultureller Vielfalt integrieren und ermöglichen, dass verschiedene „Kulturen“ gemeinsam leben und arbeiten. Kulturpolitik ist mehr denn je ein Instrument, um globalen Herausforderungen (Nachhaltigkeit) zu begegnen, UnternehmerInnen und Zivilgesellschaft zu vernetzen, Wissen zu erlangen oder interkulturellen Dialog und Zusammenarbeit zu schaffen, letztlich eine friedlichere und geeintere Welt zu erreichen.  

Bei Kulturpolitik geht es darum, sicherzustellen, dass Kunst und Geisteswissenschaften intensiv an der Debatte, die die Zukunft unserer Gesellschaften formt, teilhaben, damit Empathie, Vorstellungsgraft und Schönheit mobilisiert werden. Bei Kulturpolitik geht es darum, zu berücksichtigen, wie sich Biotechnologie und Computeralgorithmen auf die Produktion kultureller Güter und Dienste, auf das kreative Schaffen und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt als Menschheit auswirken. Und bei Kulturpolitik geht es auch darum, in jenen Laboratorien präsent zu sein, die humanistische Werte verteidigen. 


Was sollten die Prioritäten der EU sein? 

  • Ernsthaft jene Organisationen einbeziehen, die aufgrund ihrer Führerschaft oder finanziellen Investitionen in Kultur relevant sind: insbesondere Städte, Kultur- und Kreativsektoren sowie Drittstaaten, die ihre Kreativsektoren in einer post-industriellen Wirtschaft entwickeln wollen. 
  • Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt der europäischen Sprachen, Dialekten, Traditionen und Geschichten zu ergreifen, damit das immaterielle Erbe und wertvolle Identitäten des Kontinents bewahrt werden. 
  • Die Bedeutung der KulturarbeiterInnen anzuerkennen und ihre Bemühungen zu unterstützen, ein Europa zu schaffen, das für Talente und Investitionen auf Basis von Zusammenarbeit, Kreativität, Spaß, UnternehmerInnenschaft attraktiv ist - und Nachhaltigkeit, Integration und sozialen Zusammenhalt fördert. 
  • Der Nachfrage von Drittstaaten nach europäischer Expertise im Bereich des Kulturaustausches und in der Förderung aufstrebender Kreativität nachzukommen, bei gleichzeitiger Förderung der Meinungsfreiheit als Basis für die Entwicklung eines starken Kreativsektors. 
  • KünstlerInnen und KulturarbeiterInnen zu befähigen, sich mit Fragen der Innovation und Technologie in multidisziplinären Zugängen auseinanderzusetzen (beispielsweise sicherzustellen, dass Forschung zu künstlicher Intelligenz von den europäischen humanistischen Werten angeleitet wird und diesen treu bleibt). 
  • Dafür zu sorgen, dass sich die europäischen BürgerInnen der Kreativen des Kontinents und des geteilten Kulturerbes bewusst und stolz darauf sind. 
  • Die Mobilität von KulturarbeiterInnen, verknüpft mit den spezifischen Zielsetzungen für innovative und kreative Zusammenarbeit, entscheidend zu fördern.  
  • Mobilisierung des diplomatischen Netzwerks und der Expertise der EU im Kulturbereich, um die außenpolitische Strategie der EU und eine Entwicklungsagenda zu unterstützen, die weltweit eine Vielfalt kultureller Ausdruckformen auf Basis lokaler Kapazitäten fördert. 

Auf der regulatorischen Ebene muss die EU die Internetgiganten durch eine Reform des Urheberrechts und das Wettbewerbsrecht dazu zwingen, zu kultureller Vielfalt beizutragen. Ihre Politik der Standardisierung zur Schaffung des Binnenmarkts wird als Bedrohung für kulturelle Vielfalt gesehen, die eher die Dominanz internationaler Akteure (Gestern Time Warner oder Sky, heute Disney, Google, Amazon, Apple und Netflix) fördert und den Untergang lokaler ProduzentInnen und DistributorInnen kreativer Werke stützt, die nicht konkurrieren können. 

Eine globale Gesellschaft, eine zunehmend vernetzte Welt ist am Entstehen. Europa muss ein Zielort für Talente, Ideen und Investitionen bleiben. Die EU-Kulturpolitik sollte dies widerspiegeln und Investitionen in Kultur als eine ebenso transformierende Kraft wie Technologie erkennen. Sie sollte ein für die Welt offenes Europa anstreben und an einer Allianz der Zivilisationen arbeiten, stolz auf ihre Ideale und Werte. Die EU Kulturagenda sollte eine Generation mobilisieren, deren Kultur digital und global ist. 

Die europäischen Wahlen finden bald statt (Mai 2019). Sie werden für die Zukunft Europas entscheidend sein. Es ist Zeit, dass die Europäische Union das Beste aus ihrem kreativen Potential macht und sich in eine Position bringt, in der sie Verbündete des europäischen Projekts mobilisiert, damit lokale und internationale Initiativen der großen Idee von Europa zum Durchbruch verhelfen [2]. Wir wollen das die große Idee von Europa mehr ist als ein Binnenmarkt und eine Union ökonomischer, finanzieller und nationalistischer Interessen. Wir wollen kein Europa der Nationalisten und Xenophoben. 

   

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[1] Gemäß Artikel 167 des Vertrags von Lissabon soll die EU „einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ leisten. 

 [2] Artikel von Bono in der FAZ vom 27.08.2018, Europa müsse „von einem Gedanken zu einem Gefühl werden.“ 

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Dieser Beitrag von Philippe Kern wurde erstmals im KEA Blog am 3. September in Englisch unter dem Titel "A Cultural Policy for the European Union – Culture to transform Europe“ veröffentlicht.
Übersetzung und Hervorhebung: IG Kultur Österreich;

Philippe Kern ist Gründer und Geschäftsführer von KEA European Affairs, einem Brüsseler Beratungsunternehmen. Sein Arbeitsfokus liegt auf den Bereichen Kreativwirtschaft, Urheberrechte, Wettbewerbs- und Handelsrecht.