EU-Europa als visuelles Narrativ
Die EU-Integration ist nicht allein ein politisch-ökonomischer, sondern vor allem auch ein mentaler Prozess.
Die EU-Integration ist nicht allein ein politisch-ökonomischer, sondern vor allem auch ein mentaler Prozess. Die Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität ("wir Europäer") scheint derzeit allerdings ein Problemfeld zu sein: Der Befund eines "Mythendefizits" (Wolfgangs Schmale), an dem Europa scheitern könne, evoziert zunehmend entsprechende identitätspolitische Anstrengungen auf EU-Ebene, die allerdings zumeist auf das Repertoire der "invention of tradition" der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Suche nach Gemeinsamkeiten, die "uns Europäer" nun verbinden sollen, führt zu Konzepten eines gemeinsamen "kulturellen Erbes" über die Jahrhunderte hinweg, wie es etwa die Imagologie der Euro-Geldscheine vermitteln soll, oder zur Suche nach europäischen "Gedächtnisorten", die nun als historische Bezugspunkte eines "gemeinsamen" Fundaments des "Hauses Europa" (so einer der Topoi der Beschreibung europäischer Identität im Spannungsfeld von supranationaler Einheit und nationalstaatlicher Differenzierung) fungieren sollen.
Offenkundig genügt es nicht, die Europäische Union als rational-politisch organisiertes Staatengebilde zu konzipieren – das Projekt EU-Europa bedarf nach Meinung der relevanten Instanzen einer emotionalen Fundierung, eines kollektiven Gefühls von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit. "Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben" – dieser Ausspruch von Jacques Delors wurde zum vielzitierten Verweis auf dieses "Identitätsbegehren".
In der Aufladung von EU-Europa zur Pathosformel kommen die geläufigen Tools nationaler Identitätsbildung zur Anwendung – Symbole und Rituale des Nationalen wie Fahne, Hymne, Feiertage; Vorstellungen einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, wie sie etwa in Ausstellungen, Museumsprojekten, Geschichtsbüchern, Unterrichtsmaterialen, TV-Dokumentationen, aber auch in Publikationen der EU vermittelt werden.
Erstaunlich an den Strategien zur Generierung eines kollektiven europäischen Wir-Gefühls ist die Unreflektiertheit, mit der auf das Repertoire des Nationalen zurückgegriffen wird – und mit der die rezente geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung ignoriert wird. Ein Blick auf die theoretisch-methodischen Zugangsweisen zur Frage der Generierung von kollektiven Selbstbildern (Identitäten) würde ein Problembewusstsein dafür schaffen, welche Mechanismen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion mit der Behauptung von gemeinsamen Merkmalen, auf denen die Identität eines Kollektivs beruht, verbunden sind: Identitätsstiftung bedeutet immer auch die Grenze zwischen der Wir-Gruppe und den "Anderen" zu ziehen, das Eigene durch die Abgrenzung vom nichtzugehörigen "Fremden" zu definieren. "Das sind wir" oder "das ist unser Gegenteil", so formuliert Jan Assmann dieses binäre Prinzip, das in die Rede über das, was den Charakter eines Kollektivs ausmachen soll, eingeschrieben ist. Dies wird etwa im erwähnten Bildprogramm der Euro-Geldscheine als Rekurs auf die architektonischen Symbole einer durch das Christentum geprägten Kultur, auf der Europa basiere, visualisiert.
Die Unreflektiertheit, mit der – bei aller Vielfalt – von einer gemeinsamen kulturellen Basis, einem gemeinsamen europäischen Erbe gesprochen wird, negiert zudem die Grundannahme der neueren Nationsforschung, die davon ausgeht, dass es gerade nicht objektiv feststellbare Gemeinsamkeiten sind, die ein Kollektiv, eine Nation verbinden, sondern dass es die Vorstellung (Imagination) von Gemeinsamkeiten ist, auf der das nationale Selbstverständnis beruht. Die Konstruktion dieser Vorstellungen wird durch Diskurse bzw. Narrative generiert; Identität – das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe – ist demnach das Ergebnis der permanenten (Re-)Produktion dieser Narrative in der öffentlichen Kommunikation. Im Hinblick auf die Entwicklung eines europäischen "Wir"-Gefühls haben europäische Identitätspolitiken bislang allerdings wenig Wirkungskraft gezeigt.
Betrachtet man Kollektive als "imagined communities" (Benedict Anderson), so ist Europa dennoch kein weißer Fleck auf der mental map kollektiver Vorstellungen: Im öffentlichen Kommunikationsraum zirkulieren permanent Narrationen (d.h. diskursive bzw. visuelle Darstellungen) von Europa, die das Denken über dieses Projekt entscheidend prägen.
Die Generierung der kollektiven Vorstellungen über EU-Europa, seine gegenwärtige Verfasstheit und seine "gemeinsame" Kultur und Geschichte erfolgt allerdings nicht allein, oder nicht einmal vorrangig durch jene Texte, die gemeinhin als repräsentativ für die Europäische Union angesehen werden (da sie von den repräsentativen politischen Organen produziert werden) – Verträge, Gesetzestexte, Verordnungen, offizielle Erklärungen etc. Es sind wohl eher die in der medialen Kommunikation ständig präsenten Narrative der Berichterstattung über das Themenfeld Europa, von denen die Vorstellungen/ Imaginationen über EU-Europa bestimmt werden.
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den visuellen Narrativen zu. Auf der Ebene des Visuellen bzw. des Kanons visuell kommunizierter Symbole setzen zum einen die klassischen Formen von (identitäts-)politischer Selbstdarstellung an: symbolische Repräsentationen des Kollektivs, wie sie etwa in Fahnen, Regierungsgebäuden, auf Geldscheinen und Münzen, Briefmarken etc., aber auch in den visuellen Strategien von Imagekampagnen zu finden sind. Die These, von der das Projekt "Iconclash. Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europa" ausgeht, richtet sich – über die Ebene der offiziellen Darstellungen bzw. Kampagnen zur Stärkung einer europäischen Identität hinaus – auf die scheinbar neutralen, "authentischen" fotografischen Abbildungen der Realität, die in den (all-)täglichen medialen surroundings der europäischen Kommunikationsgesellschaften zirkulieren.
Bilder sind weniger als Abbildungen denn als Visualisierungen der Realität zu betrachten; insofern besitzen sie hohe demokratiepolitische Relevanz hinsichtlich der Formung von kulturellen Wahrnehmungsmustern, kollektiven Vorstellungen über die politische und soziale Wirklichkeit sowie über deren Ordnungsprinzipien und Machtstrukturen. In medial produzierten visuellen Darstellungen werden Vorstellungen von Zusammengehörigkeit einerseits, von "Alterität" bzw. "Fremdheit" andererseits oft viel wirksamer geprägt, als dies auf der Text- bzw. Inhaltsebene geschieht.
Gerade weil die fotografischen Darstellungen der "Wirklichkeit" in der medialen Wahrnehmung mit dem Versprechen einer unmittelbaren Wiedergabe der Realität (Evidenz) verbunden sind, entfalten sie ein wirkungsmächtiges Potenzial im Hinblick auf die Generierung von affektiven, emotional getönten Vorstellungen von Europa (im positiven wie im negativen Sinn). Auf diese Weise werden die durch Bilder vermittelten Normen und Werte handlungsleitend und beeinflussen die politische Praxis.
Diese These folgt den theoretischen Ansätzen des visual turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften, wonach davon auszugehen ist, dass Bildern eine entscheidende Rolle bei der Prägung kollektiver Vorstellungen zukommt. In den öffentlich kommunizierten Bilderwelten werden die demokratiepolitischen Handlungsspielräume, die Normen- und Wertehorizonte und die Zukunftsentwürfe, aber auch die Grenzziehungen des Projekts Europa verhandelt: Ihnen kommt eine Schlüsselfunktion im vielschichtigen europäischen Integrationsprozess als einem Prozess der Generierung kollektiver Vorstellungen (Imaginationen) über Europa zu. Diese visuellen Darstellungen begründen allerdings nur scheinbar ein Repertoire an "gemeinsamen" Bildern – die in Bilder eingeschriebenen Sinnzusammenhänge sind offen für eine Vielzahl von Bedeutungszuschreibungen, etwa für national gefärbte Codierungen und Wahrnehmungsweisen.
Darüber hinaus vermitteln Bilder – oft in Gegensatz zu den Pathosformeln des Europa-Diskurses – Einblick in subkutane Machtstrukturen. So finden sich kaum Verweise auf die demokratische Partizipation der BürgerInnengesellschaft; vielmehr erscheint die Akteursebene politischen Handelns weitgehend auf die politische Führungselite beschränkt, deren harmonisches Zusammenwirken durch das immer wiederkehrende Format der "Familienfotos" bei den EU-Gipfeltreffen unterstrichen wird. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger kommen hingegen zumeist nur als Kollektiv ins Bild, das entweder seinem Unmut über die Politik der EU in Form von Demonstrationen und anderen Protestformen (wie etwa Autobahnblockaden) oder aber seiner EU-Euphorie Ausdruck gibt – der Jubel nach den Volksabstimmungen in den Beitrittsländern zählt zu den visuellen Ikonen des europäischen Bildgedächtnisses.
Die Frage nach den Vorstellungen, die im visuellen Narrativ EU-Europas generiert werden – über die Akteure und die agenda (demokratie-)politischen Handelns auf europäischer Ebene, über das Territorium und seine Grenzen, über soziale und Gender-Ordnungen, aber auch über kulturelle Hierarchisierungen innerhalb Europas bzw. hinsichtlich der osteuropäischen Beitrittsländer und über das Andere des europäischen Wertekanons – eröffnet einen kulturwissenschaftlich reflektierten, kritischen Zugang zum Thema "europäische Identität". Es kann im wissenschaftlichen Feld nicht darum gehen – wie in manchen EU-Ausschreibungen angedeutet –, zur "Stärkung einer europäischen Identität beizutragen", sondern vielmehr darum, den Prozess der europäischen Identitätsbildung zu analysieren und auf die darin eingeschriebenen "verborgenen Mechanismen der Macht" (Pierre Bourdieu) bzw. auf demokratiepolitisch problematische Aspekte einer EU-Identitätspolitik aufmerksam zu machen.
Heidemarie Uhl ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wissenschaftliche Leiterin des Projekts "Iconclash. Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europa" (Gertraud Diendorfer, Vrääth Öhner, Oliver Rathkolb, Katharina Wegan)
Offenkundig genügt es nicht, die Europäische Union als rational-politisch organisiertes Staatengebilde zu konzipieren – das Projekt EU-Europa bedarf nach Meinung der relevanten Instanzen einer emotionalen Fundierung, eines kollektiven Gefühls von Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit. "Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben" – dieser Ausspruch von Jacques Delors wurde zum vielzitierten Verweis auf dieses "Identitätsbegehren".
In der Aufladung von EU-Europa zur Pathosformel kommen die geläufigen Tools nationaler Identitätsbildung zur Anwendung – Symbole und Rituale des Nationalen wie Fahne, Hymne, Feiertage; Vorstellungen einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, wie sie etwa in Ausstellungen, Museumsprojekten, Geschichtsbüchern, Unterrichtsmaterialen, TV-Dokumentationen, aber auch in Publikationen der EU vermittelt werden.
Erstaunlich an den Strategien zur Generierung eines kollektiven europäischen Wir-Gefühls ist die Unreflektiertheit, mit der auf das Repertoire des Nationalen zurückgegriffen wird – und mit der die rezente geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung ignoriert wird. Ein Blick auf die theoretisch-methodischen Zugangsweisen zur Frage der Generierung von kollektiven Selbstbildern (Identitäten) würde ein Problembewusstsein dafür schaffen, welche Mechanismen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion mit der Behauptung von gemeinsamen Merkmalen, auf denen die Identität eines Kollektivs beruht, verbunden sind: Identitätsstiftung bedeutet immer auch die Grenze zwischen der Wir-Gruppe und den "Anderen" zu ziehen, das Eigene durch die Abgrenzung vom nichtzugehörigen "Fremden" zu definieren. "Das sind wir" oder "das ist unser Gegenteil", so formuliert Jan Assmann dieses binäre Prinzip, das in die Rede über das, was den Charakter eines Kollektivs ausmachen soll, eingeschrieben ist. Dies wird etwa im erwähnten Bildprogramm der Euro-Geldscheine als Rekurs auf die architektonischen Symbole einer durch das Christentum geprägten Kultur, auf der Europa basiere, visualisiert.
Die Unreflektiertheit, mit der – bei aller Vielfalt – von einer gemeinsamen kulturellen Basis, einem gemeinsamen europäischen Erbe gesprochen wird, negiert zudem die Grundannahme der neueren Nationsforschung, die davon ausgeht, dass es gerade nicht objektiv feststellbare Gemeinsamkeiten sind, die ein Kollektiv, eine Nation verbinden, sondern dass es die Vorstellung (Imagination) von Gemeinsamkeiten ist, auf der das nationale Selbstverständnis beruht. Die Konstruktion dieser Vorstellungen wird durch Diskurse bzw. Narrative generiert; Identität – das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe – ist demnach das Ergebnis der permanenten (Re-)Produktion dieser Narrative in der öffentlichen Kommunikation. Im Hinblick auf die Entwicklung eines europäischen "Wir"-Gefühls haben europäische Identitätspolitiken bislang allerdings wenig Wirkungskraft gezeigt.
Betrachtet man Kollektive als "imagined communities" (Benedict Anderson), so ist Europa dennoch kein weißer Fleck auf der mental map kollektiver Vorstellungen: Im öffentlichen Kommunikationsraum zirkulieren permanent Narrationen (d.h. diskursive bzw. visuelle Darstellungen) von Europa, die das Denken über dieses Projekt entscheidend prägen.
Die Generierung der kollektiven Vorstellungen über EU-Europa, seine gegenwärtige Verfasstheit und seine "gemeinsame" Kultur und Geschichte erfolgt allerdings nicht allein, oder nicht einmal vorrangig durch jene Texte, die gemeinhin als repräsentativ für die Europäische Union angesehen werden (da sie von den repräsentativen politischen Organen produziert werden) – Verträge, Gesetzestexte, Verordnungen, offizielle Erklärungen etc. Es sind wohl eher die in der medialen Kommunikation ständig präsenten Narrative der Berichterstattung über das Themenfeld Europa, von denen die Vorstellungen/ Imaginationen über EU-Europa bestimmt werden.
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den visuellen Narrativen zu. Auf der Ebene des Visuellen bzw. des Kanons visuell kommunizierter Symbole setzen zum einen die klassischen Formen von (identitäts-)politischer Selbstdarstellung an: symbolische Repräsentationen des Kollektivs, wie sie etwa in Fahnen, Regierungsgebäuden, auf Geldscheinen und Münzen, Briefmarken etc., aber auch in den visuellen Strategien von Imagekampagnen zu finden sind. Die These, von der das Projekt "Iconclash. Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europa" ausgeht, richtet sich – über die Ebene der offiziellen Darstellungen bzw. Kampagnen zur Stärkung einer europäischen Identität hinaus – auf die scheinbar neutralen, "authentischen" fotografischen Abbildungen der Realität, die in den (all-)täglichen medialen surroundings der europäischen Kommunikationsgesellschaften zirkulieren.
Bilder sind weniger als Abbildungen denn als Visualisierungen der Realität zu betrachten; insofern besitzen sie hohe demokratiepolitische Relevanz hinsichtlich der Formung von kulturellen Wahrnehmungsmustern, kollektiven Vorstellungen über die politische und soziale Wirklichkeit sowie über deren Ordnungsprinzipien und Machtstrukturen. In medial produzierten visuellen Darstellungen werden Vorstellungen von Zusammengehörigkeit einerseits, von "Alterität" bzw. "Fremdheit" andererseits oft viel wirksamer geprägt, als dies auf der Text- bzw. Inhaltsebene geschieht.
Gerade weil die fotografischen Darstellungen der "Wirklichkeit" in der medialen Wahrnehmung mit dem Versprechen einer unmittelbaren Wiedergabe der Realität (Evidenz) verbunden sind, entfalten sie ein wirkungsmächtiges Potenzial im Hinblick auf die Generierung von affektiven, emotional getönten Vorstellungen von Europa (im positiven wie im negativen Sinn). Auf diese Weise werden die durch Bilder vermittelten Normen und Werte handlungsleitend und beeinflussen die politische Praxis.
Diese These folgt den theoretischen Ansätzen des visual turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften, wonach davon auszugehen ist, dass Bildern eine entscheidende Rolle bei der Prägung kollektiver Vorstellungen zukommt. In den öffentlich kommunizierten Bilderwelten werden die demokratiepolitischen Handlungsspielräume, die Normen- und Wertehorizonte und die Zukunftsentwürfe, aber auch die Grenzziehungen des Projekts Europa verhandelt: Ihnen kommt eine Schlüsselfunktion im vielschichtigen europäischen Integrationsprozess als einem Prozess der Generierung kollektiver Vorstellungen (Imaginationen) über Europa zu. Diese visuellen Darstellungen begründen allerdings nur scheinbar ein Repertoire an "gemeinsamen" Bildern – die in Bilder eingeschriebenen Sinnzusammenhänge sind offen für eine Vielzahl von Bedeutungszuschreibungen, etwa für national gefärbte Codierungen und Wahrnehmungsweisen.
Darüber hinaus vermitteln Bilder – oft in Gegensatz zu den Pathosformeln des Europa-Diskurses – Einblick in subkutane Machtstrukturen. So finden sich kaum Verweise auf die demokratische Partizipation der BürgerInnengesellschaft; vielmehr erscheint die Akteursebene politischen Handelns weitgehend auf die politische Führungselite beschränkt, deren harmonisches Zusammenwirken durch das immer wiederkehrende Format der "Familienfotos" bei den EU-Gipfeltreffen unterstrichen wird. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger kommen hingegen zumeist nur als Kollektiv ins Bild, das entweder seinem Unmut über die Politik der EU in Form von Demonstrationen und anderen Protestformen (wie etwa Autobahnblockaden) oder aber seiner EU-Euphorie Ausdruck gibt – der Jubel nach den Volksabstimmungen in den Beitrittsländern zählt zu den visuellen Ikonen des europäischen Bildgedächtnisses.
Die Frage nach den Vorstellungen, die im visuellen Narrativ EU-Europas generiert werden – über die Akteure und die agenda (demokratie-)politischen Handelns auf europäischer Ebene, über das Territorium und seine Grenzen, über soziale und Gender-Ordnungen, aber auch über kulturelle Hierarchisierungen innerhalb Europas bzw. hinsichtlich der osteuropäischen Beitrittsländer und über das Andere des europäischen Wertekanons – eröffnet einen kulturwissenschaftlich reflektierten, kritischen Zugang zum Thema "europäische Identität". Es kann im wissenschaftlichen Feld nicht darum gehen – wie in manchen EU-Ausschreibungen angedeutet –, zur "Stärkung einer europäischen Identität beizutragen", sondern vielmehr darum, den Prozess der europäischen Identitätsbildung zu analysieren und auf die darin eingeschriebenen "verborgenen Mechanismen der Macht" (Pierre Bourdieu) bzw. auf demokratiepolitisch problematische Aspekte einer EU-Identitätspolitik aufmerksam zu machen.
Heidemarie Uhl ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wissenschaftliche Leiterin des Projekts "Iconclash. Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europa" (Gertraud Diendorfer, Vrääth Öhner, Oliver Rathkolb, Katharina Wegan)