Macao
Macao ist der Name eines neuen autonomen Zentrums für Kunst in Mailand, einer Stadt, der es bis heute nicht gelungen ist, weder ein Museum für zeitgenössische Kunst noch ein öffentliches Zentrum für experimentelle Kunst zu errichten.
Zum Kampf um ein neues autonomes Zentrum für Kunst in Mailand.
Von konstituierenden Kämpfen zu neuen Institutionen
Macao ist der Name eines neuen autonomen Zentrums für Kunst in Mailand, einer Stadt, der es bis heute nicht gelungen ist, weder ein Museum für zeitgenössische Kunst noch ein öffentliches Zentrum für experimentelle Kunst zu errichten. Macao ist im Zuge einer italienweiten Mobilisierung entstanden, die seit einem Jahr über Besetzungen versucht, kulturelle Räume zu schaffen und neue kommunale Einrichtungen zu etablieren. Eine transversale Bewegung, bei der Bewohner_innen, Theater-, Kunst- und Kulturarbeiter_innen mitmachen, die die Geografie der politischen Bewegungen der letzten 20 Jahre durchschreitet, überschreitet und reterritorialisiert. In diese Geografie sind Erfahrungen eingeschrieben: jene des Teatro Valle Occupato, des Cinema Palazzo und L’Angelo Mai in Rom, der Sale Docks und des Teatro Marinoni in Venedig, des Asilo della Creatività e della Conoscenza in Neapel, des Teatro Coppola in Catania, des Cantieri Arsenale und des Teatro Garibaldi Aperto in Palermo. Im Großraum Mailand sind viele Künstler_innen heute für Macao aktiv, die seit zehn Jahren Seite an Seite mit Bürger_innen für die Errichtung eines Kulturzentrums kämpfen und sich damit gegen die Gentrifizierung des Isola-Viertels wehren. Einige von ihnen sammelten auch bereits Erfahrungen im Kampf des Isola Art Centers für dieselbe Sache.(1)
Die Künstler_in als Arbeiter_in: wie dem Schuldenmachen entkommen?
Seit etwas mehr als einem Jahr treffen sich bildende Künstler_innen, Tontechniker_innen, Kritiker_innen, Journalist_innen, Video-Cutter_innen, Musiker_innen, Designer_innen, Kulturmanager_innen, Choreograf_innen, Elektriker_innen u. a. m., um über ihre Rolle als Arbeiter_innen zu diskutieren. In diesen Zusammenkünften wird über so manche Illusion gesprochen, die teils Ursache für Ausbeutung und die Produktion von Ungleichheit sind. Umso mehr als in Mailand der Theater-, Medien-, Unterhaltungs-, Mode- und Design-Sektor den bedeutendsten Sektor ökonomischer Produktion ausmacht und sich rühmt, jedes Jahr 66.000 neue Arbeiter_innen zu beschäftigen. Ein Heer an Super-Spezialisierten, die viel Geld in Master Degrees und Diplome investiert haben und die in einem Arbeitsmarkt landen, der durch Unterbezahlung und befristete Verträge gekennzeichnet ist.
In der Krise bürdet der Kapitalismus genau diese Verantwortung für Risiken und Kosten den Arbeiter_innen auf, weil private Firmen und der Staat nicht mehr bereit sind, diese zu tragen. All diese Arbeiter_innen fühlen sich, mehr oder weniger latent, unfähig und schuldig, nicht erfolgreich genug zu sein. Sowohl Arbeitgeber_innen als auch der Staat lehren uns, ihnen gegenüber permanent in der Schuld zu stehen, vor allem dann, wenn sie uns einmal die Chance dazu geben, das Loch zu füllen, das durch unsere Unfähigkeit zur Selbstverwirklichung entsteht. Dank dieses Mechanismus haben wir jedes Recht und jede vertragliche Macht verloren. Wir werden als isolierte Individuen betrachtet, während die Firmenmonopole, das Finanzwesen und der Staat mehr und mehr ökonomische sowie politische Macht in ihren Händen vereinen. Dies führt wiederum zum exponentiellen Anstieg von Ungleichheit und einer ungerechten Einkommensverteilung.
Kunst als Transformationsprozess: die Sprache ist der Kampf
Seit 1. April 2012 ist Macao als das neue Zentrum für Kunst und Kultur in Mailand online. So beginnt ein einmonatiger Countdown, begleitet von einer virösen Kampagne, die ihre Vollendung in der Besetzung des Torre Galfa findet, einem seit 15 Jahren leerstehenden Wolkenkratzer im Herzen Mailands. Der Torre Galfa ist Eigentum von Salvatore Ligresti, einem der wichtigsten Bau- und Finanzspekulanten, der auch schon mehr als einmal wegen Korruption verurteilt und des Mafia-Verdachts beschuldigt wurde.
Die Abkürzung Macao äfft die Konstruktion der großen musealen Abkürzungen nach, wie MoMA, MACBA, MAMbo, MAXXI, MACRO etc., begründet aber eine neue Vorstellung von Museum: ein Museum von Künstler_innen – entstanden im Kampf.
Macao positioniert sich als Alternative zu einer als autonom konzipierten Kunst, die durch den Kreislauf der Galerien, des Sammlungswesens und der frisierten Kritik aufgewertet sowie durch beliebige Transformationen der Wirklichkeit eingeschränkt wird. Darüber hinaus verweigert sich Macao jenem verbreiteten Mechanismus der Ästhetisierung der Kämpfe, wonach die künstlerischen Distributionskreisläufe/-wege die kritischen Inhalte und die Praktiken des Kampfes lieben, wenn sie nur dekontextualisiert von ihrem Entstehungsprozess und in ein kommerzielles Produkt transformiert werden.
Macao will mit Nachdruck bekräftigen, dass Praktiken, die eine direkte Transformation der Wirklichkeit anstreben, bewusst performative Prozesse sein können, die alle unsere Kompetenzen als Künstler_innen, Kommunikator_innen, Theoretiker_innen, Philosoph_innen, Architekt_innen … benötigen. Das Teilen von Wissen inmitten eines Kampfes, der auf einen realen Wandel abzielt, ist der einzige Weg, auf dem Macao künstlerische und kulturelle Produktion für möglich hält.
Finanzblase, Immobilienspekulation, politisches Impeachment
In wenigen Tagen überschwemmt Macao das Hochhaus mit tausenden von Bürger_innen, die alle bereit sind, ihre Zeit, ihre Güter und Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, um ein neues Museum von Grund auf zu errichten. Es bilden sich Arbeitsgruppen zur Architektur, zur darstellenden Kunst, zu Theorie, zu Video, zum Internet, zu Kommunikation, zu Hacker- und Montage Hardware, zu Gardening und für Elektriker_innen, Installateur_innen und Barkeeper_innen. Die wichtigsten universitären Institute und Akademien beginnen, ihre Vorlesungen ins Torre Galfa zu verlegen. Die 109 Meter Höhe, die von Macao in Blau getaucht werden, das Museum, das von den Bürger_innen selbst konstruiert wurde, macht seine Runde um die Welt: Am Werk ist eine imaginative kollektive Produktion von unten, eine des Kampfes und der Mobilisierung.
Was bedeutet es, wenn ein Hochhaus von 32 Stockwerken inmitten Mailands leer steht und 15 Jahre nicht benutzt wird? Und das, während im selben Viertel, gegen die Zustimmung der Bewohner_innen und ohne jede Rücksichtnahme auf die wenigen verbleibenden Grünflächen, in Höchstgeschwindigkeit neue Hochhäuser errichtet werden? Es bedeutet, dass in diesen Zeiten der Krise ein Großteil der Immobilienspekulation in dieser Stadt auf einer Wertsteigerung beruht, die völlig ohne Nutzen für das Kollektiv der Bewohner_innen selbst ist. Es bedeutet, dass die Immobilienbesitzer_innen absolut kein Interesse an einer Vermietung oder dem Verkauf haben, weil dies auf dem Realitätenmarkt einer Abwertung gleich kommen würde und sie es daher bevorzugen, die Immobilien als Vermögenswerte für Bankgarantien zu nutzen. Dies ist der Grund, warum viele Gebäude der Stadt keinen anderen Nutzen haben, als Milliarden von Euro in Bankgarantien zu erwerben. Dies geschieht über Gesellschaften wie Imco und Sinergia, der Gruppe Ligresti, die wiederum dem Versicherungsunternehmen Fondiaria-Sai dienen, dem Hauptschuldner von Mediobanca und Unicredit (zwei Kolosse des italienischen Bankenwesens), ganz zu schweigen von den zukünftigen Erwerbsprämien von Unipol. Es ist überflüssig zu betonen, dass hinter diesen Seilschaften die Interessen der wichtigsten politischen Parteien Italiens stehen.
Was ist legal und was legitim? Krise der Repräsentation und direkten Demokratie
Trotz der Unterstützung von Nobelpreisträger_innen, internationalen Kulturinstituten und unzähligen Unterstützungserklärungen müssen wir uns gegen starke Mächte zur Wehr setzen. Während der Besetzung des Hochhauses hielten wir es daher für angebracht, ein Verteidigungsschreiben gegenüber der Polizei und der Justiz zu verfassen. Wir hielten zusammen mit einigen der besten italienischen Verfassungsexpert_innen, auf Basis der Artikel 3, 9, und 43 der italienischen Verfassung fest, dass eine politische Bürger_innenbewegung im Recht ist, die Verantwortung über einen Privatbesitz zu übernehmen, wenn evident ist, dass die aktuelle Verwendung dem Kollektiv einen Schaden zufügt. Mit dieser politischen Bestätigung auf juristischem Boden bekräftigten wir mit Mitteln einer kämpferischen Praxis, dass Privateigentum kein absolutes Dogma darstellt. Dieses Konzept muss sich vielmehr dem Rahmen des öffentlichen Nutzens im weiteren Sinne unterwerfen. Einen öffentlichen Nutzen, der sich im Sinne der Konstruktion einer Gemeinschaft und den Prozessen der direkten Demokratie versteht – Instanzen, mindestens ebenso bedeutend wie das Konzept des Privatbesitzes.
Die repressive und reaktionäre Antwort auf diese Feststellung folgte aufs Wort. Die Ministerin für Inneres, Annamaria Cancellieri, gab der mailändischen Polizei das direkte Mandat, das Torre Galfa zu räumen. Einige Tage später entdeckten wir, dass Piergiorgio Peluso, der Sohn dieser Ministerin, Direktor von Fondiaria-Sai ist, jene Gesellschaft, die Eigentümerin des Hochhauses ist. Eine Bande von Kriminellen, die seit Jahren auf Kosten der Stadt und zum Schaden der Bevölkerung spekuliert und die versucht, uns – mit militärischen Mitteln – beizubringen, was Legalität bedeuten soll? Eine Vielzahl von Bürger_innen glaubt hingegen, dass es legitim wäre, all ihre Kräfte, Zeit und Kompetenzen einzusetzen, um etwas Gutes für die Gemeinschaft zu tun. Es ist an der Zeit, dass die Demokratie wieder den Wert der politischen Selbstorganisation entdeckt. Sie muss sich vom System der Vollmachten emanzipieren, da sie durch diese nur unwirksam, aber auf jeden Fall ungenügend, wenn nicht sogar schädlich wird.
Gemeingüter: jenseits des Öffentlichen und jenseits des Privaten
Nach fünf Tagen der Besetzung der Via Galvani, der Straße vor dem Hochhaus, gibt Macao eine Pressekonferenz: Vor den Mikrofonen der Zeitungen und TV-Stationen schlägt Macao vor, ein anderes Gebäude zu besetzen. Die anwesende Menge wird über zwei unterschiedliche U-Bahnlinien geleitet, um die Behörden irrezuführen. Nach einem euphorischen Umzug der Massen betreten wir zu Hunderten und unter den Augen aller den Palazzo Citterio, einen wunderbaren Palast im Brera-Viertel von Mailand, der seit dem 18. Jahrhundert vernachlässigt wird. Dieser Palast ist Objekt eines Revitalisierungsprojekts, das darauf abzielt, eine riesige museale Landschaft, ähnlich dem Louvre, zu schaffen: In Wirklichkeit steht es aber seit 40 Jahren leer. Das Vorhaben wurde nie Realität, und vor nur zwei Jahren wurde von den zuständigen Behörden wieder 52 Millionen Euro in das Projekt gesteckt. Macao hat vorgeschlagen, das Museum von Grund auf neu zu errichten, indem die Bevölkerung mit einbezogen wird und sowohl über die Art des Vorhabens seitens der Behörden als auch über die Natur der aufwendeten Mittel zur Realisierung Klarheit herrschen sollte. Die Antwort des Ministeriums für Kultur kommt sofort: „Es ist meine persönliche Überzeugung, aber ich denke nicht nur meine eigene, dass keine authentische kulturelle Bewegung, keine authentische kulturelle Produktion, aus einem Akt der Illegalität heraus entstehen kann.“ Nur wenige Tage später wird Macao mit einem riesigen Aufgebot an polizeilichen und militärischen Mitteln geräumt. Gegenüber den Spießbürger_innen, die versuchen, Macao auf eine Gruppe von Jugendlichen zu reduzieren, die Platz für ihre Kunst und nicht mehr als ein bisschen Arbeit benötigen, antworten wir mit der Besetzung des wichtigsten musealen Projekts der Stadt. Wir bekräftigen damit, dass der Kampf um das Allgemeingut sowohl den schlecht geführten Privatbesitz als auch die schlecht verwalteten öffentlichen Güter betrifft.
Momentan besetzt Macao den ehemaligen Schlachthof des Obst- und Gemüsemarktes und bekräftigt damit, dass einem von Bürger_innen begründetes Museum gleiche Legitimität zukommt wie den etablierten Institutionen. Damit will Macao auch eine öffentliche Debatte darüber auslösen, welche Anpassungen des Rechts angesichts der finanziellen und demokratischen Krisen notwendig wären. Allgemeingüter sind nichts Naturgegebenes: Sie erwachsen aus Kämpfen, in denen Bürger_innen ihre Notwendigkeit markieren und die Bedingungen der Geschäftsführung selbst festlegen. Diese neuen Formen der Selbstregierung sind eine konkrete und reale Antwort auf den programmatischen Selbstmord unseres Systems des neoliberalen Regierens.
Emanuele Braga ist Künstler, Choreograph und Aktivist. Er lebt in Mailand und arbeitet zur Rolle von Künstler_innen sowie zu Modellen kultureller Produktion im Kontext von Praxen und Kämpfen der urbanen Transformation. Er ist Mitglied der Kollektive RHA ZE, Balletto Civile, Lavoratori dell’arte, Macao und Isola Art Center.
Übersetzung aus dem Italienischen: Cornelia Bruell
Fußnote
(1) Das Buch „Fight-Specific Isola“ wird im Herbst 2012 im Archive Books Verlag Berlin erscheinen.