Post-Revolutionäres Tunesien

Repression gegen Kulturschaffende, Regierungs-Islamisten unter Druck

„Eine zweite Revolution ist notwendig, ja unumgänglich.“ Das ist wahrscheinlich der Satz, den wir während unseres zehntägigen Besuchs in Tunesien am häufigsten zu hören bekommen. Wir interviewen für eine Radioreportage rund 20 Journalist_innen, Kulturschaffende und Basisaktivist_innen. Außerdem treffen wir Freund_innen, mit denen wir im Jahr 2012 die Aktion boats for people (1) durchgeführt haben. Sie alle waren bei den geschichtsträchtigen Ereignissen im Jänner 2011 mit dabei, sie alle sind von den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahre massiv enttäuscht. Die Wut richtet sich in erster Linie gegen die Islamisten der Partei En-Nahdha, die die aktuelle Übergangsregierung führt. Das Mandat dieser verfassungsgebenden Versammlung ist zwar seit über einem Jahr abgelaufen, trotzdem ist En-Nahdha nicht bereit abzutreten und den Weg für Neuwahlen freizumachen. Die Partei präsentiert sich als gemäßigt, hat aber allzu offensichtlich eine offene Flanke hin zu militanten Salafisten. Zudem hat es die Regierung nicht geschafft, die drängenden ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Aber lassen wir zunächst die Aktivist_innen selbst zu Wort kommen:

Blogger_innen und Filmemacher_innen gegen reaktionäre Kulturpolitik

Wir treffen Lina Ben Mennhi, die mittlerweile weltbekannte Bloggerin aus der Zeit der Revolution. Ihre Zeit ist knapp bemessen, aber in den 20 Minuten, während der wir sie treffen können, gibt uns Lina Ben Mennhi eine absolut klare und gleichzeitig nüchterne, ja illusionslose Synthese zur aktuellen Situation in Tunesien: Die große Hoffnung ist dahin, der arabische Frühling hat sich in einen bitterkalten Winter verwandelt. Die Repression gegen alle, die ihre Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen und dabei die Regierung kritisieren oder gegen vermeintliche religiöse Normen verstoßen, nimmt immer mehr zu, die Kollaboration zwischen En-Nahdha und gewalttätigen Islamisten im In- und Ausland wird immer offensichtlicher. Das für mich augenscheinlichste Resultat dieses beklagenswerten Gesamtzustandes ist in diesem Moment, dass Lina mit zivilem Polizeischutz herum läuft, was ich anfangs nicht bemerke. Erst bei der Hälfte des Interviews sehe ich nach einem Hinweis Linas den Mann mit den Sonnenbrillen einige Tische weiter. Die bittere Ironie der Lage liegt auf der Hand: Lina Ben Mennhi ist seit der Zeit Ben Alis Vorkämpferin gegen den übermächtigen Polizeiapparat, während sie sich nun von selbigen gegen Feinde schützen lassen muss, die aktuell noch viel gefährlicher sind.

Mittwoch Nachmittag gehen wir mit zwei Genossinnen der Organisation Article 13 (2) zur Kashba von Tunis, wo zu diesem Zeitpunkt eine Kundgebung gegen die Regierung stattfindet. Der Grund: Eine Untersuchungskommission (bestehend aus Rechtsanwälten unter der Führung von Taieb Laaguili) hat hieb- und stichfest nachgewiesen, dass die Ermordung der beiden linken Oppositionspolitiker Chokri Belaid und Mohamed Brahmi vom Februar bzw. August 2013 mit hohen Regierungskreisen der En-Nahdha zu tun hat. Die Geschichte ist verworren, es kommen aber immer mehr Tatsachen ans Tageslicht, die die Regierungs-Islamisten in akuten Erklärungsnotstand bringen: Ein ranghoher Salafist aus Libyen, Abdelhakim Belhaj, Anführer der radikal islamistischen Al-Watan Partei, dessen Verstrickung in die Morde bewiesen ist, war von En-Nahdha auf dem roten Teppich empfangen worden. Bereits zuvor hatte die Untersuchungskommission nachgewiesen, dass das Innenministerium von den Mordplänen gewusst, jedoch keinerlei Schutzmaßnahmen für die beiden Politiker ergriffen hatte.

Die Atmosphäre auf der Demo ist wütend und entschlossen, rund 300 Menschen haben sich versammelt. Es folgend Reden von mehreren Oppositionspolitikern, dann – für uns recht plötzlich und unerwartet – ein Hagel an Eiern auf die symbolisch postierten Plakate der Regierungspolitiker und Minister. Hintergrund: Der Filmemacher Nasridin Sihili attackierte vor einigen Wochen den Kulturminister mit einem Ei. Letzterer gehört, wie eine Mehrzahl der Minister, der Regierungspartei En-Nahdha an und ist bei fortschrittlichen Kulturschaffenden entsprechend verhasst. Der Ei-Angriff ist zu einer Art Symbol für den Protest geworden. Vor kurzer Zeit wiederholte eine 17 Jahre junge Frau den Ei-Anschlag – das Ei traf den Minister noch nicht mal, dennoch drohen der Aktivistin sechs Monate Knast …

Noch bevor wir den Ort des Geschehens verlassen, machen wir auf dem großen Platz oberhalb der Kashba ein Interview mit dem Filmemacher Nejib Abidi, der vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen wurde. Im Sommer wurde er mit sieben seiner politischen Freund_innen in einer nächtlichen Polizei-Aktion in seiner Wohnung festgenommen, während sie zusammen an seinem Dokumentarfilm über Polizeirepression arbeiteten. Als Vorwand für den Polizeiübergriff diente der Vorwurf des Konsums von Marihuana. Nejib ist auf freiem Fuß, wartet aber auf seinen Prozess und kann sich nun nicht frei bewegen, noch nicht einmal Tunis verlassen. Es wird entscheidend sein, den Verlauf der Gerichtsverhandlungen zu verfolgen und von Europa aus Solidarität zu bekunden.

Der Kampf um eine säkulare Universität

Wir besuchen das Büro der UGET, der tunesischen Studierenden-Gewerkschaft, wo wir von drei Aktivisten empfangen werden. In diesem Gespräch geht es vor allem um die Rolle der UGET und der fortschrittlichen Studierenden im Kampf gegen Ben Ali und nun gegen die Islamisten. Vor kurzer Zeit hätten islamistische Studierende beispielsweise das Literaturinstitut blockiert und Studierende, Professor_innen sowie den Dekan angegriffen, um auf diese Art dagegen zu protestieren, dass voll verschleierte Frauen auf der Uni nicht zugelassen werden. Des Weiteren wollten die En-Nahdha-nahen Studierenden durchsetzen, dass auf der Uni die Geschlechtertrennung eingeführt werde, dass es Gebetsräume geben solle, ja sogar dass für die Gläubigen Infrastruktur bis hin zu Schlafräumen eingerichtet werden. All das würde den Aktionsradius der Islamisten auf der Uni massiv ausweiten und Frauenrechte sowie säkularen Unterricht weiter einschränken. Ein zusätzliches Problem sei, dass die Polizei bei ihrer Repression äußert zwielichtig und undurchsichtig agiert. Angeblich hat En-Nahdha 20 Prozent des Polizeiapparats ausgetauscht und mit Leuten besetzt, die in ihrem Sinne handeln.

Die Internationalisierung des Djihad sei äußerst gefährlich, so auch der Umstand, dass tausende junge Tunesier_innen für den Krieg in Syrien angeworben wurden. Dafür würden – im Gegensatz zur Zeit unter Ben Ali – die Moscheen offenstehen. Besonders der Umstand, dass in den letzten Wochen offenbar wurde, dass hunderte Frauen aus Tunesien nach Syrien rekrutiert wurden, um für die Djihad-Kämpfer Sexarbeit zu leisten (und das zum Teil unter krassen Zwangsverhältnissen), wird im ganzen Land und auch von unseren Freund_innen intensiv diskutiert.

Feministischer Hip-Hop gegen Frauenunterdrückung und djihadistische Gewalt

Wir treffen auch die Rapperin Medusa, die mit ihrem Song Hold on einen Hit gelandet hat. Sie ist auf dem Feld des feministischen Hip-Hop Pionierin und mittlerweile weit über die Grenzen Tunesiens bekannt. „Meine Familie hat mich immer unterstützt – seit ich klein bin, mache ich Breakdance. Das ist für tunesische Verhältnisse reichlich ungewöhnlich.“ Befragt zur aktuellen Situation meint sie: „Es ist bereits vorgekommen, dass Salafisten mich physisch angreifen wollten. Das war bei einer Kundgebung vor einem Monat, bei der es um das Recht auf Abtreibung ging. Eine feministische Organisation hatte dazu aufgerufen, und ich rappte ein paar meiner Nummern. Selbst auf der Bühne fühle ich mich nicht wirklich sicher. Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, und selbst in den Momenten, in denen ich performe, muss ich wachsam sein.“

Zum Zeitpunkt des Interviews kommt Medusa gerade von einer Tour durch Mauretanien, Marokko, Senegal, Ägypten und Libanon zurück. Das Internet sei bei der Verbreitung der Musik und der dazugehörigen Inhalte nicht zu ersetzen, meint Medusa. Und so eilte ihr Ruf ihr voraus, und die Kids in Marokko oder Senegal kannten bereits ihre Lieder. In den Ländern, die Medusa bei ihrer Tour bereiste, sind drei Jahre nach dem sogenannten arabischen Frühling ähnliche Probleme virulent: Überall geht es darum, patriarchale Strukturen zurückzudrängen, die durch die Internationalisierung des konservativen Islam an Auftrieb gewonnen haben. „Die Salafisten sind absolut gegen die Dinge, die ich in meinen Songs fördern will: Ich singe ja über den Freiheitskampf der Frauen, über Gleichheit, über das Recht auf Abtreibung. Die Salafisten hingegen wollen Frauen unterdrücken, sie zu Objekten ihrer sexuellen Begierde machen und sie auf Gebärmaschinen reduzieren, die nur dazu da sind, die Kinder großzuziehen. Ich verurteile in meinen Raps diese Haltung und spreche meine Meinung frei aus.“ Auch nach Europa hat Medusa bereits vielversprechende musikalische und politische Kontakte geknüpft: So berichtet die Rapperin von der Kooperation mit der großartigen schwedischen Band The Knife – im nächsten Jahr soll ein gemeinsamer Videoclip produziert werden.

Wir treffen auch Thameur Mekki, einem linken Musikjournalisten, der im Unterstützungskomitee für Klay BBJ, den momentan wohl bekanntesten Rapper Tunesiens, arbeitet. Dieser war im Sommer während eines Konzerts direkt von der Bühne weg verhaftet worden, ist mittlerweile aber wieder frei. In seinen Texten kritisiert er Polizeigewalt und die soziale, ökonomische und politische Misere. Weld 15 (fils du 15), ein anderer bekannter Rapper, der von Repression betroffenen ist, befindet sich aktuell auf der Flucht. Thameur Mekki arbeitet an der Schnittstelle zwischen Unterstützungs-NGOs und Basisbewegungen, organisiert für die Repressionsopfer psychologische Unterstützung sowie Anwälte, Medien etc.

Eine neue Revolution?

Wir verlassen das Land mit dem Eindruck, dass ein neuer Kampfzyklus in Tunesien nicht unwahrscheinlich ist. Der Umstand, dass auch die Ökonomie in Tunesien am Boden liegt, hat dazu geführt, dass nicht nur linke Tunesier_innen En-Nahdha ablehnen: Aktuelle Umfragewerte ergeben, dass En-Nahdha bei 10 bis maximal 20 Prozent der Stimmen liegt.

Viele unserer Freund_innen bedauern zwar, dass die beiden großen Gelegenheiten, En-Nahdha und die gesamte Regierung aus dem Amt zu werfen, nach den Morden an Chokri Belaid vom Februar 2013 bzw. an Mohamed Brahmi vom August 2013 versäumt wurden. Zu diesen Zeitpunkten war offenbar die Unzufriedenheit am größten, während die Leute aktuell zwar wahnsinnig unzufrieden, aber doch ziemlich paralysiert seien. Vor allem der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT würde zu sehr auf Verhandlungen setzen, die schon seit Monaten stocken, anstatt entschlossen zu agieren. Eine große Gefahr bestünde in der Internationalisierung der dumpfen Reaktion in Form von Islamisten in der Regierung und auf der Straße. Es scheint dennoch, dass viele Tunesier_innen die Schnauze voll haben und dringend eine neuerliche, gründliche Veränderung erwarten.

Weiterlesen, weiterhören

Lina Ben Mhenni (2011): Vernetzt Euch!, Ullstein Verlag.

www.atunisiangirl.blogspot.co.at

Suchbegriffe, um Medusas Musik im Internet zu hören: „Medusa Rap Tunisien“

Fußnoten

(1) Boats for people setzte sich zum Ziel, die mörderische Abschottungspolitik der europäischen Union zu kritisieren und solidarische Verbindungen zwischen antirassistischen Gruppen an der südlichen und nördlichen Seite des Mittelmeers zu knüpfen. www.afrique-europe-interact.net

(2) Die antirassistische Gruppe Article 13 hat sich nach dem 13. Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte benannt – davon ausgehend, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Land zu verlassen und in ein anderes Land einzureisen. Die Gruppe hat sich nach der Aktion boats for people gegründet und kämpft unter anderem für die Rechte von subsaharischen Migrant_innen in Tunesien sowie für globale Bewegungsfreiheit.

Dieter Alexander Behr lebt in Wien und im Burgenland und arbeitet beim Europäischen Bürger_innen Forum und beim Netzwerk Afrique Europe Interact. Er war Ende September 2013 in Tunesien, um für eine Radiosendung zum Blick von Jugendlichen auf die tunesische Revolution zu recherchieren.