Radykalni i solidarni
Nach der Erschießung Itoyas kam es zu Unruhen, die Beamten wurden mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen. Die Polizei fing an, schwarze Männer von der Menschenmenge zu isolieren, Hilfe bekamen sie dabei von den im Basar tätigen Securities, welche andere Anwesende (weiße Menschen und AsiatInnen) gehen ließen.
Das ehemalige Stadion „10. Jahrestag“ (mit dem Bau desselben wurde zehn Jahre nach dem ersten kommunistischen Manifest Nachkriegspolens, dem „Julimanifest“, begonnen) ist ein besonderer Ort in Warschau. Besonders war vor allem das Schicksal des Stadions nach 1989, denn es wurde in einen Basar, dem Jarmark Europa, umgewandelt, der vielen MigrantInnen Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Der Jarmark Europa war jahrelang eine „Multikulti-Insel“ inmitten Warschaus – hier trafen sich VietnamesInnen, GeorgierInnen, UkrainerInnen, NigerianerInnen u.v.a. –, gleichzeitig war er aber auch ständiges Ziel polizeilicher Kontrollen, während denen es – so sagen lokale MenschenrechtsaktivistInnen – immer wieder zu Einschüchterungsversuchen seitens der Exekutive gegenüber den zum Teil illegalisierten VerkäuferInnen gekommen ist. An genau diesem Ort wird ein Nationalstadium für die Fußball EM 2012 entstehen, daher wurde der Basar am 31. Juli geschlossen.
Inside Fortress Europe: 23. Mai 2010
In zivil gekleidete Polizisten kamen am Sonntag Vormittag auf den Basar. Ihr Operationsziel war „die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität“, in diesem Fall der Handel mit gefälschter Markenkleidung und Raubkopien. Zwei der Polizisten kontrollierten einen schwarzen Verkäufer und fragten ihn dezidiert nach Markenkleidung der Firmen Nike und Adidas. Andere HändlerInnen, gleichzeitig AugenzeugInnen der Vorgänge, erzählten später, dass die Polizisten bereits zu diesem Zeitpunkt aggressiv gewesen seien. Einer der Polizisten hatte bereits bei einem früheren Einsatz damit gedroht, eines Tages jemanden zu erschießen. Als der kontrollierte Verkäufer die Waffe des Zivilbeamten sah, lief er davon und konnte schlussendlich entkommen. Daraufhin stürmten die Beamten in einen Tunnel neben dem Busbahnhof und hielten auf brutale Art und Weise einen anderen schwarzen Mann auf, welcher sich zufällig an diesem Ort befand. Im darauf folgenden Gerangel wurde der Mann brutal zu Boden geworfen und seine Hände gefesselt. Als ein weiterer schwarzer Mann versuchte, die Situation zu entschärfen, richtete der Polizist seine Waffe auf ihn. In diesem Moment kam Maxwell Itoya mit hocherhobenen Händen auf die Polizisten zu und sagte, dass letztere die Waffen wieder einstecken sollten, da sie die Menschen verschrecken würden. Weiters sagte er laut einem Augenzeugen in fließendem Polnisch: „Behandle ihn nicht so. Sprich lieber langsam zu ihm, dann wird er sicher auf dich hören.“ (veröffentlicht auf Gazeta.pl) Doch der Beamte hörte nicht zu, statt einen Warnschuss abzugeben, sagte er nur: „Ich werde dich erschießen.“ Dann stieß er Maxwell Itoya von sich und schoss. Statt Erste Hilfe an dem stark blutenden Mann zu leisten, knieten zwei Polizisten nur kurz neben ihm nieder, um danach gleich wieder zu ihren Kollegen zurück zu kehren. Dem Angeschossenen konnten hingegen weder seine Freunde noch das rasch eintreffende Rettungsteam helfen: Maxwell Courage Itoya starb 36-jährig und hinterließ eine Frau und drei Kinder.
Nach der Erschießung Itoyas kam es zu Unruhen, die Beamten wurden mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen. Die Polizei fing an, schwarze Männer von der Menschenmenge zu isolieren, Hilfe bekamen sie dabei von den im Basar tätigen Securities, welche andere Anwesende (weiße Menschen und AsiatInnen) gehen ließen. Insgesamt wurden 32 Personen aufgehalten: 29 Nigerianer, ein Kameruner, ein Guineer und ein Inder. Der Mehrheit wurde „Angriff auf Polizeibeamte“ vorgeworfen. Fast alle verbrachten 48 Stunden im Gefängnis. Einer von ihnen, Agu Chidi, verbrachte 51 Tage in Haft, danach wurde er aus Mangel an Beweisen freigelassen.
Was danach geschah
Erste Medienberichte, die auf polizeilichen Meldungen aufbauten, erklärten den Tod des Verkäufers als Notwehr, da die Polizisten sich gegen „aggressive Afrikaner“ verteidigen hätten müssen. Laut diesen Berichten hat der tödlich verletzte „Aggressor“ versucht, dem Beamten die Waffe zu entreißen. Auf diese Art hätte er ihn zum Schuss provoziert. Weiters war zu lesen, dass das spätere Opfer bereits zu einem früheren Zeitpunkt wegen Wirtschaftskriminalität verurteilt worden war. Dies empörte zahlreiche AugenzeugInnen, und später an MedienvertreterInnen übermittelte Berichte und Videoaufnahmen änderten die weitere Darstellung der Ereignisse. Einige Medien stützten sich beispielsweise auf einen Bericht von Dominika Cieślikowska, einer interkulturellen Psychologin, die zufällig vor Ort gewesen war. In einem Brief, den sie an MedienvertreterInnen ausschickte, stand folgendes: „Ich habe den Eindruck, dass Polizei und Medien bei ihren Darstellungen der Ereignisse zwei Dinge miteinander vermischen: erstens, die Situation in der es eigentlich kein besonderes Ärgernis gab, aber in Folge derer ein Mann umgebracht wurde; und zweitens jene, die durch die Tötung eines Unschuldigen provoziert wurde. Dies ist tatsächlich eine andere Situation, nämlich zig Zivilisten, die sich Reihen von schwer bewaffneten Polizisten, darunter Mitglieder der Anti-Terror Brigade, gegenüber sahen“. Weiters fügte sie hinzu, dass den Vorkommnissen weitere rassistische und diskriminierende Aktionen gefolgt waren. Unter anderem wurden die SIM Karten einiger Verhafteter (bis zum heutigen Tag) beschlagnahmt. Einem der Männer wurde gegen seinen Willen eine Injektion verabreicht. So „berauscht“ wurde er zum Verhör gebracht.
Katarzyna Krukowska, die Frau eines festgenommenen Mannes, erzählte der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, dass die Polizisten um 6 Uhr früh zu ihrem Haus gekommen waren: „Sie fragten, ob mein Mann Drogen nimmt und ob er mich schlägt. Als ich gemeinsam mit anderen Ehefrauen wartete, haben uns die Polizisten aus Spaß mit ihren Handys gefilmt.“
Urteilsfindung oder struktureller Rassismus
Vorwürfe bezüglich der rassistischen Motivation hinter den Handlungen der Polizisten versuchte der Pressesprecher der Warschauer Polizei, Maciej Karczyński, zu widerlegen. Er versicherte hingegen, dass Polizisten den illegalen Handel kontrollieren sollen. Dies sei das einzige Kriterium, nach dem sie sich zu orientieren hätten. Niemand hätte die Hautfarbe der Verdächtigen, deren Größe oder Haarlänge beachtet.
Eine Klärung der Vorkommnisse sollen zwei Untersuchungen bringen. Laut Staatsanwältin Renata Mazur betrifft die erste den Vorwurf des „Angriffes auf Polizeibeamte“. Die andere befasst sich mit der „eventuellen Überschreitung der Befugnisse durch einen Polizisten (Kursivsetzung durch den Autor), die eine unbeabsichtigte Tötung nach sich zog“. Die Schuldfrage scheint in der ersten Untersuchung geklärt zu sein, wohingegen sie in der zweiten mit dem Wort „eventuell“ in Zweifel gezogen wird. Die Öffentlichkeit weiß nicht, in welchem Stadium sich die Untersuchungen befinden: Aufgrund des „unvollständigen Beweismaterials“ können keine Informationen weitergegeben werden, so die Staatsanwaltschaft.
Aktionen des Kollektivs (RAS)
Als Reaktion auf die Erschießung Maxwell Courage Itoyas durch einen Polizeibeamten bildete sich das Kollektiv Solidarität mit Max, ein Kollektiv bestehend aus AktivistInnen aus den Bereichen Menschenrechtsarbeit, Feminismus und Anarchismus, welches eng mit VertreterInnen migrantischer Communities zusammen arbeitet. Zu den vertretenen Forderungen gehörten und gehören Schutz vor Abschiebung aller AugenzeugInnen, Hilfe für die Familie des Opfers und Aufklärung der rechtlichen Situation von 32 Personen, welche nach den Unruhen, die dem Tod Itoyas folgten, verhaftet wurden. Unter dem neuen Namen Radykalna Akcja Solidarna (RAS) wendet sich das Kollektiv nun auch gegen Migrationsregime der Europäischen Union.
Zu den Aktionen des Kollektivs zählt beispielsweise die Organisation einer spontanen Solidaritätskundgebung (24.5.10) am Ort des Geschehens. Weiters ging innerhalb von 48 Stunden nach der Erschießung die Website www.max-solidarity.pl online, welche laufend über Protestaktionen und Entwicklungen berichtet. Parallel dazu wurde eine Petition an Premier Donald Tusk verfasst, in der gefordert wurde, systemimmanente Lösungsvorschläge für die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung zu etablieren.
Am 29. Mai 2010 fand ein Happening statt: Der Platz wurde von AktivistInnen in Maxwell Itoya Platz unbenannt und ein Straßenschild aufgehängt. Weiters wurde eine Anzeige aufgeklebt, welche an Maxwell Itoyas Tod, aber auch an weitere Opfer polizeilicher Gewalt, erinnern soll. Eine Demonstration gegen Repression und Polizeigewalt folgte am 30. Mai 2010. Diese wurde gemeinsam mit MigrantInnen organisiert, es nahmen rund 400 Personen teil. Darüber hinaus verfassten Personen aus Wissenschaft, Kultur und Kunst ein Statement an den Staatsanwalt Andrzej Seremet, in dem sie die vollständige Sammlung aller Beweise – also die der Polizei UND der AugenzeugInnen – forderten. Sowohl dieses Statement als auch die Petition an den Premier wurden online veröffentlicht. Selbst in Paris demonstrierten am 9. Juni 2010 rund 1.500 AktivistInnen vor der polnischen Botschaft. Am gleichen Tag wurde auf der Plattform Facebook die Gruppe Solidarisch mit Maxwell gegründet.
Ein weiterer essentieller Bestandteil der gemeinsamen Arbeit war und ist der Protest gegen die rassistischen Darstellungen der Ereignisse durch polnische Medien und Behörden. Letzteres ansprechend gingen zwei Briefe an den polnischen und europäischen Ombudsmann betreffend „Überschreitung von Befugnissen durch die Polizei“. Es folgte eine Beschwerde gegen deren Pressesprecher Maciej Karczyński wegen unrechtmäßiger und unredlicher Verbreitung von Informationen rund um den Tod Maxwell Itoyas. An Medien- und PressevertreterInnen wurde ein „Appell betreffend der Darstellung von ImmigrantInnen“, unterzeichnet von acht zivilgesellschaftlichen Organisationen, geschickt. Am 1. Juli initiierten wir eine Internationale Woche der Solidarität mit MigrantInnen. An diesem Tag fanden eine Pressekonferenz zum Thema „Rechtliche Situation der AugenzeugInnen des Todes Maxwell Itoyas – Probleme von MigrantInnen in Polen“ und eine Solidaritätskundgebung für Agu Chidi statt. Weiters veranstalteten wir in Warschau eine Diskussion zum Thema „Die Situation von MigrantInnen in Polen. Behandlung von MigrantInnen durch StaatsbeamtInnen“. Während der ganzen Woche fanden in mehreren europäischen Staaten – u. a. in Spanien, Frankreich, Deutschland und Island – Solidaritätsaktionen statt. Mit Ende Juni 2010 begannen wir mit dem Projekt „Aktion/Beobachtung“. Dessen Ziel war das Monitoring der Handlungen von StaatsbeamtInnen am Warschauer Basar und die direkte Reaktion auf Überschreitungen, Gewalt und rassistischen Handlungen seitens Polizei, StadtwächterInnen oder ZollbeamtInnen.
In diesem Moment entwickelt sich die Website Max-Solidarity in eine Plattform gegen Grenzen weiter, vor allem weil die Aktivitäten des RAS Kollektives über den Fall Itoya hinausgehen. Wir wollen uns vermehrt mit Problemen, auf die die in Polen und der EU lebenden MigrantInnen täglich stoßen, befassen und gegen die jeweiligen Formen von staatlichen Repressionen vorgehen. Wichtig ist hierbei die nationale und internationale Vernetzungen und Zusammenarbeit mit migrantischen Gruppen und „No border“ Kollektiven.
Radykalna Akcja Solidarna ist ein 2010 in Polen entstandener Zusammenschuss von feministischen, anarchistischen und Menschenrechts-AktivistInnen.
Übersetzung: Paweł Kamiński