Vom Durchkreuzen der Erwartungen
Wie soll die Begegnung des imaginierten „Wir“ mit den „Anderen“ heute dreidimensional dargestellt werden? Und für wen? Die Debatte über die Musealisierung von Migration, vielerorts in Europa geführt, ist Zeichen für ein sich wandelndes gesellschaftliches Selbstverständnis.
Wie die Geschichten menschlicher Mobilität nach Europa, in den „Westen“, Thema musealer Darstellung und Inszenierung sein können, darüber diskutieren ExpertInnen aus wissenschaftlicher Theorie und musealer Praxis zurzeit lebhaft. Wie soll die Begegnung des imaginierten „Wir“ mit den „Anderen“ heute dreidimensional dargestellt werden? Und für wen? Die Debatte über die Musealisierung von Migration, vielerorts in Europa geführt, ist Zeichen für ein sich wandelndes gesellschaftliches Selbstverständnis: „Einwanderungsländer“ erkennen und reflektieren sich immer deutlicher als solche. Die Frage nach dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ scheint in dem Maße für Ausstellungen virulent zu werden, wie sie sich in (post)migrantischen, transnationalen Alltagswelten verwischt.
Das „Fremde“ war nie weniger konstruiert als das „Eigene“; beide Kategorien sind ohne einander nicht denkbar. Das mag mittlerweile als Binsenweisheit gelten, doch wie wenig alltagstauglich diese Unterteilung in zwei Lager schon immer war, zeigen Ausstellungen nur zögerlich: Beispiele dafür sind die kleine Schau From War to Windrush des Imperial War Museum in London (Juni 2008 – November 2009) oder die Tropen-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau (September 2008 – Januar 2009), die den Blick der (europäischen) BesucherInnen auf sich selbst zurückwenden wollten. So wurde in Berlin die problematische europäische Perspektive auf die geographischen wie imaginären tropischen Regionen thematisiert, die zwischen schwülem Exotismus und paternalistischem Gestus angesichts gesellschaftlichen Elends oszilliert. Dem sollte etwas entgegengesetzt werden; die Phantasmen aus den gemäßigten Breiten wurden mit künstlerischen Positionen aus den unterschiedlichen tropischen Regionen konfrontiert. Die KuratorInnen zeigten, wie die Imaginationen und Dinge sich bewegen: Völkerkundliche Sammlungen des 19. Jahrhunderts wurden aus tropischen und anderen exotischen Gefilden in die Depots der großen Museen geschafft, um die nichteuropäischen „Anderen“ zu charakterisieren. In umgekehrter Richtung zeugt etwa eine ausgestellte Arbeit davon, wie Helikopter Jahrzehnte nach dem Vietnamkrieg dort als ambivalente Symbole des Westens gelten, erschreckend und faszinierend gleichermaßen. Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI) in Paris vertieft die ebenso aktuelle wie konfliktträchtige Frage nach der gesellschaftlichen Produktion des und der „Anderen“ unter dem Titel A chacun ses etrangers? France-Allemagne de 1871 à aujourd’hui – einer Ausstellung in Kooperation mit dem Berliner Deutschen Historischen Museum (dort Oktober 2009 – Januar 2010). Damit sind nur einige aktuelle Beispiele genannt – und dass sie nur der Beginn der Debatte und einer ganzen Reihe von Ausstellungen zum Thema markieren, lassen für den Herbst geplante Tagungen im LWL-Freilichtmuseum in Detmold (Migration und historisches Bauen) sowie im Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund (Stadt – Museum – Migration) vermuten. Kurzum: Migration und Museum sind das Traumpaar der Saison und machen allerorten von sich reden.
In dem allmählich anschwellenden Stimmengewirr hat sich nun München Gehör verschafft: In der Rathausgalerie war vom 10. Juli bis zum 15. September 2009 die Ausstellung Crossing Munich. Orte, Bilder und Debatten der Migration zu sehen, die „als forschendes Ausstellungsprojekt grenzüberschreitend Wissenschaft und Kunst [miteinander verband], um die Geschichte und Gegenwart der Migration in München neu zu erzählen“ – so die Selbstauskunft gleich am Eingang. Unter der Leitung von Andrea Engl und Sabine Hess kooperierten hier das Münchener Kulturreferat mit den Instituten für Ethnologie, Europäische Ethnologie und Geschichte der LMU München; in den mehr als einem Dutzend Ausstellungskapiteln arbeiteten KünstlerInnen, (angehende) EthnologInnen und HistorikerInnen eng zusammen.
Am Marienplatz war die Ausstellung in der Galerie des neogotischen Münchner Rathauses zu sehen – nicht nur ein zentraler Ort, sondern als fünfschiffige Säulenhalle mit Marmorbrunnen und einer acht Meter hohen Glaskuppel auch ein höchst repräsentativer Raum von 650 qm. Dass die Debatte um die Repräsentation migrantischer Communities im Entstehungsprozess von Crossing Munich mehr als ein Hintergrundgeräusch gewesen sein muss, machte schon die äußerst gut besuchte Eröffnung deutlich: Kaum jemand unter den EröffnungsrednerInnen, die oder der nicht das Migrationsmoment in der eigenen Geschichte hervorstrich, sei es nun der Urgroßvater, welcher aus Nordbayern nach München kam oder die eigene Bewegung aus dem Rheinland ins Süddeutsche. Das war freundlich gemeint, offenbarte ein zentrales Dilemma der Debatte und zielte zugleich sicher nicht zufällig am Kern der Ausstellung vorbei.
Neue Fragen statt einfacher Antworten
Wie wurde nun der kuratorische Anspruch, gesellschaftliche Konstruktionen und Inszenierungen von Fremdbildern „neu zu erzählen“, sie zu hinterfragen oder brüchig zu machen, in Crossing Munich handhabbar gemacht? Konstruktionsprozesse lassen sich schließlich nicht ohne weiteres an konkreten Objekten aufzeigen – dazu bedarf es einer narrativen Rahmung, die die Aura von den Objekten selbst auf den Akt der Reflexion über diese verlagert. Die auratische Praxis muss auf die Interpretation übergehen und sich von der Aura des Objekts lösen – was schließlich bedeuten könnte, dass strittige Narrative und kontroverse Auffassungen Gegenstand der Ausstellung werden. Was aber, wenn die reflexive Wendung eine viel kürzere Halbwertszeit im BesucherInnenhirn und -herz hat als das, was ja man eigentlich hatte dekonstruieren wollen? Ganz offensichtlich stehen ja etablierte Modi musealen Erzählens und Zeigens zur Disposition – es gilt, Erwartungshaltungen zu durchkreuzen. Das Publikum darf und soll verunsichert und mit mehr Fragen als Antworten im reflexiven Schwindelzustand wieder auf den Marienplatz treten. Ein Selbstversuch.
Gleich links des Eingangs schwebt ein gigantisches Mobile, vor den Augen der BesucherInnen bewegen sich an seidenen Fäden Bilder und Worte durch den Raum. Folgt man den Bewegungen des Mobiles, entsteht ein facettenreiches Bild des Grauen Verkehrs (so auch der Titel dieser Arbeit), der vom Busbahnhof in der Hansastraße in den Südosten Europas geht. Informelle Netzwerke, die Logistik auf diesem für viele MünchnerInnen abseitigen Umschlagplatz, die soziale Bedeutung der Busverbindungen – all dies zeigt das Mobile und versinnbildlicht durch das Ineinandergehen von fragiler Balance, Flexibilität und ständiger Bewegung die funktionalen Grundlagen des Busbahnhofs Hansastraße. Dass darüber hinaus zwischenmenschliche Kommunikation das eigentliche Fundament des Grauen Verkehrs ist, wird auch in der Abstrahierung der Ausstellung deutlich: Wenn zwei oder mehr BesucherInnen gleichzeitig dem Mobile folgen und ihm eine neue Richtung geben, kommt man entweder unausgesprochen überein und bewegt sich im Gleichklang – oder die Karte, die eben noch vor der eigenen Nase schwebte, verschwindet im Gewirr ...
Wo diese Installation neben der Information einen poetischen Zugang schafft, setzt die Arbeit Rap vom Rand – Representing 089 Meine Stadt auf Selbstironie. Der Austausch der forschenden Studierenden mit lokalen Gangsta-Rappern findet als „Battle Rap“ im Video statt, – und der Umgang mit Sprache, ob nun akademisch oder nicht, und Imaginationen von der Stadt entpuppt mehr Ähnlichkeiten als beide Seiten womöglich vermuteten. Der Klang der Worte und die urbanen Bilder, die Kunst wie Wissenschaft gleichermaßen herstellen und nutzen – stets geht es auch um die eigene Positionierung und die Markierung eines Lebensgefühls, die Abgrenzung von Zuschreibungen oder den Umgang mit Stereotypen. Wie München aussieht, ist immer auch eine Frage von Kameraeinstellung und Lichteinfall. Den Videos folgend wünschte man sich fast ein wenig mehr Gangsta-Rap in der akademischen Welt.
Welche Ambivalenzen und prekären Bedingungen Arbeitsmigration gegenwärtig mit sich bringt, darauf geht die Comic-Installation Eiskalte Händchen: Die neuen ‚Gastarbeiter‘ ein. „Werksverträge“ ermöglichen einen zeitlich befristeten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt – doch deren UnterzeichnerInnen existieren offiziell nicht als MigrantInnen, sondern allein und im wörtlichen Sinne durch ihre arbeitende Hand. In der Bildsprache des Comics tritt einerseits die transnationale Systematik von General- und Subunternehmen zutage, die des kontinuierlichen Nachschubs niedrig entlohnter „Hände“ bedarf. Andererseits zeigt der Comic die Konsequenzen des vom bisherigen Leben getrennten Arbeitsalltags für die Menschen, zu denen eben jene arbeitende Hand gehört, und ihr soziales Umfeld im Herkunftsland. Eiskalte Händchen macht deutlich, wie komplex die Verflechtungen zwischen einer ökonomischen Logik auf der Makroebene und den individuellen Träumen von einem „besseren Leben“ sind – und wie sie gleichermaßen transnationale Bewegungen erzeugen.
Ein anderes Erzählen von Migration
München ist in den Debatten um Migration, Repräsentation und migrantischen Alltag in Deutschland ein symbolträchtiger Ort – nicht zuletzt war der Hauptbahnhof für viele der so genannten Gastarbeiter die erste Station auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Doch die hier beschriebenen Begegnungen mit einzelnen Arbeiten zeigen – wie auch die gesamte Ausstellung –, dass das Phänomen, der Diskurs und die Erfahrungen von Migration nicht zu „verorten“ sind – es betrifft die, die kommen ebenso wie die, die schon da waren. In einem Stadtspaziergang löst sich auch die Ausstellung von ihrem Ort und lädt ein, die Münchener Innenstadt zu durchkreuzen: Der auswärtigen Nutzerin erschließt sich zwar nicht, warum jener Text über den jugoslawischen „Autoput“ just zwischen Odeonsplatz und Sendlinger Tor zu hören ist, doch das zeigt womöglich nur ein weiteres Mal, dass Migrationserfahrung nicht ortsgebunden ist. In Workshops, einer Balkanbar, Stadtsalons und in Kooperationen mit Münchner Institutionen tun die Ausstellungsmacherinnen ein Übriges, die Positionen der Präsentierten und der Betrachtenden zu überlagern, Erwartungen zu durchkreuzen. Genau dies ist auch das Resultat des Selbstversuchs. Der Blick auf die vermeintlich „Anderen“ macht nur dann Sinn, wenn er auch das „Eigene“ fragwürdig erscheinen lässt – hoffentlich erschien auch anderen BesucherInnen diese Wendung des Blick so aufschlussreich und provozierend zugleich, dass sie sich in der „Forschungsstation“ über das umfassende Material und die Handbibliothek hermachten. Machtstrukturen, Geschlechterrollen, Identitätspolitiken und Institutionen – hier wird neu, anders, kreuz und quer durch Münchner Stadtlandschaften von Migration erzählt. Einer dem Experimentellen zugewandten und dennoch stringenten Ausstellungsarchitektur sowie dem grau-goldenen Schimmern, mit dem die GestalterInnen die Ausstellung hinterlegt haben, ist es zu verdanken, dass der rote Faden dabei nie ganz verloren geht.
Crossing Munich fordert ein breites Publikum auf zu einer „inneren Ethnologie“ (Foucault), einem ebenso neugierigen wie skeptischem Blick auf die „eigene Kultur“, in der Migration schon immer mehr Normalität als Ausnahme war. Die Ausstellung navigiert BesucherInnen imaginär an Orte weitab des Münchner Rathauses: Statt der Repräsentation geglückter Migrationsprozesse steht das wechselseitige Befragen im Vordergrund – man darf höchst gespannt sein, wie die Debatte nach Crossing Munich weitergeht und wo das ungleiche Paar Migration und Museum sich als nächstes blicken lässt.
Anmerkung Der vorliegende Text ist eine bearbeitete Version des Beitrags von Kerstin Poehls für den Ausstellungskatalog zu Crossing Munich.
Crossing Munich
Kerstin Poehls hat eine PostDoc-Stelle am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Forschungsprojektes Exhibiting Europe, beschäftigt sich mit der musealen Inszenierung von Migration und der Frage, wie dabei Grenzen Europas mitproduziert und dargestellt werden. Zuletzt erschien von ihr „Europa backstage“ (Bielefeld 2009).