Ändern, erweitern oder belassen, wie es ist?
Der Freispruch vom 2. Mai ist immer noch nicht gültig. Der Staatsanwalt hat Berufung angemeldet, ob er tatsächlich berufen wird, ist ungewiss. Das Urteil liegt mündlich vor, die schriftliche Urteilsbegründung lässt aber auf sich warten.
Vier Monate sind vergangen, seit sich Fernsehteams und Fotograf_innen im kleinen Saal 180 des Wiener Neustädter Landesgerichts die Sohlen wund traten, um das bessere Bild, die längere Sequenz von jenem Verfahren zu ergattern, das auch in Boulevardmedien als „Skandalprozess“ verhandelt wurde: dem Tierrechtler_innen-Prozess in Wiener Neustadt. Nach monatelanger Observation, Inhaftierung und Anwesenheitspflicht im Strafverfahren fällte Einzelrichterin Sonja Arleth ihr überraschendes Urteil: Freisprüche für alle 13 Angeklagten in allen Punkten. Seither ist es ruhig geworden. Das Verfahren, das auch in bürgerlich-konservativen Medien mit ungewohnt kritischer Distanz zur Justiz verhandelt wurde, macht zurzeit keine Schlagzeilen. Sorgen macht es dennoch.
Der Tierrechtler_innen-Prozess in Wiener Neustadt
Der Freispruch vom 2. Mai ist immer noch nicht gültig. Der Staatsanwalt hat Berufung angemeldet, ob er tatsächlich berufen wird, ist ungewiss. Das Urteil liegt mündlich vor, die schriftliche Urteilsbegründung lässt aber auf sich warten. Weiterhin gibt es kein Aufatmen für die ehemals Beschuldigten. Zwar glaubt niemand ernsthaft daran, dass der Paragraf 278a StGB noch einmal hervorgekramt würde oder dass der Vorwurf der Beteiligung an einer kriminellen Organisation noch einmal erhoben werden könnte – zu dünn war die Beweislage, das muss sich wohl auch der Staatsanwalt eingestehen. Ja, jener Staatsanwalt, der gerade diese dünne Beweislage als Beleg für die Existenz der „kriminellen Organisation“ ansah: Die Polizei habe zwar tief geschürft und trotzdem nichts gefunden, gab Wolfgang Handler sinngemäß zu – doch das sei nur ein Beleg für die „Abschirmungsmaßnahmen“ der kriminellen Organisation, die sich nach außen hin immer freundlich zeige – Stichwort Demos –, aber im Geheimen Brandanschläge plane und Menschen mit dem Tod bedrohe. Wer so argumentiert, braucht in Wahrheit keine Argumente. Es ist die Gegenseite, also die Seite der Beschuldigten, die diesen Kreislauf einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erst mühsam durchbrechen muss. Das gelang den 13 Tierrechts-Aktivist_innen in Wiener Neustadt. Aber es gelang ihnen nicht restlos. Beobachter_innen halten es für möglich, dass das Urteil teilweise aufgehoben wird. Vorwürfe wie Sachbeschädigung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt bis hin zu Tierquälerei und Nötigung stehen weiterhin im Raum. Gewissheit gibt es erst, wenn der Staatsanwalt auf eine Berufung verzichtet oder aber der Fall die nächste Instanz durchlaufen hat.
Wie lange es bis dahin noch dauern wird, weiß niemand. Die Richterin hat keinen Zeitdruck, aber einen Argumentationsdruck. Sie muss das Urteil im Detail lupenrein begründen. Da danach auch der Staatsanwalt – mit gedanklicher Unterstützung aus dem Justizministerium – noch einige Wochen überlegen wird, wie er weiter vorgehen wird, könnte sich laut Beobachter_innen die Causa noch bis ins nächste Jahr ziehen. Doch unabhängig davon, wann das Urteil kommt und wie es ausfällt: Die seelischen Nachwirkungen der Repression, der Freiheitsentziehung und des staatlichen Eindringens in Privat- und Intimsphäre bleiben. Auch die materiellen Folgen durch Jobverlust, Verlust von staatlichen Unterstützungsleistungen wirken nach und bleiben unentschädigt.
Manche glaubten, im Wiener Neustädter Urteil den Beweis dafür zu sehen, dass beim §278a und ff kein Änderungsbedarf bestehe – denn am Ende würden „die Unschuldigen“ ja ohnehin nicht verurteilt. Diese Argumentation übersieht, dass es nur mit großer Anstrengung der Verteidigung gelang, die Beschuldigten „freizubeweisen“. Und sie ignoriert die Tatsache, dass es bei den 278er-Paragrafen nicht in erster Linie darum geht, Gerichtsurteile herbeizuführen – sondern darum, der Polizei eine Handhabe zu geben, Menschen zu observieren.
§278 und der Fall der Kunststudierenden J., A., I. und B.
Dass dem so ist, illustriert auch der zweite aktuelle Fall, in dem politische Aktivist_innen von einem §278-Vorwurf betroffen sind: Während Sonja Arleth an ihrem Urteil schreibt, brüten die Beamt_innen der Weisungsabteilung des Justizministeriums über dem Abschlussbericht des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) über die vier Kunststudierenden J., A., I. und B. (Namen d. Red. bekannt, Anm.), die im Sommer 2010 mehrere Wochen in U-Haft saßen, weil der Staat sie der Bildung einer terroristischen Vereinigung (278b StGB) verdächtigte. Während bei den 13 Tierrechtler_innen die Vorwürfe zwischen dem Zeitpunkt der Inhaftierung und dem Datum der Fertigstellung der polizeilichen Abschlussberichte immer mehr zerbröselten, kamen bei J., A., I. und B. nach der Enthaftung völlig neu gelagerte Vorwürfe hinzu. Ursprünglich hatte man ihnen angelastet, am 28. Juni 2010 zwei Mülltonnen bei einer AMS-Filiale in Wien-Margareten angezündet und danach ein Bekenner_innenvideo ins Netz gestellt zu haben. Warum es dafür U-Haft gibt? Hier gehe es nicht um Sachbeschädigung – sondern darum, „die Mülltonnen als Brandbeschleuniger zu verwenden, um das AMS anzuzünden“. Noch dazu seien die drei (die vierte Person kam erst später dazu) Beschuldigten zentrale Figuren des Uni brennt-Protestes, so ein weiterer „Vorwurf“. Wie die Polizei darauf kam – wo die Uni brennt-Demos zur Zeit des Mülltonnenbrands doch schon beendet waren? Richtig: Die Uni-Demos waren bespitzelt worden. Die Polizei hatte noch vor dem AMS-Vorfall Material über die vier Beschuldigten zusammengetragen. Hausdurchsuchungen in mehreren Wohnungen und dem Vereinslokal Kaleidoskop sollten dann weiteres „Belastendes“ zutage fördern – Flyer beispielsweise, oder aber einen Bauplan für einen Radioverstärker, der kurzerhand als Bombenbastelanleitung umgedeutet wurde.
So viel Mühe sich der Verfassungsschutz auch gemacht hat, die vier Studierenden in Verdacht zu ziehen, dem U-Haft-Gericht reichte dies schließlich doch nicht. J., A., I. und B. wurden am 23. August nach fünf bzw. sieben Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Vorwurf „Terroristische Vereinigung“ habe sich nicht erhärtet, hieß es danach. Doch dabei blieb es nicht lange. Im Herbst zog das LVT einen neuen Vorwurf aus der Tasche: „Vorbereitung einer Häftlingsbefreiung“ und eine potenzielle „Störung des Flugbetriebs“. Als Beleg diente ein Video, auf dem die Abschiebung eines Asylwerbers von der Schubhaft bis zum Abflug in Wien-Schwechat dokumentiert wurde. Waren J., A., I. und B. laut LVT noch im Sommer eine terroristische Vereinigung zur Veränderung der Bildungspolitik gewesen, so wurden sie im Herbst flugs zu einer Terrorgruppe zum Wandel der Asylpolitik. Nur eines blieb gleich: der „Verdacht einer terroristischen Vereinigung“ (Zitat LVT). Und während im AMS-Fall zwar kryptisch von „geplanten Brandanschlägen“ die Rede war, aber keine Beweise vorlagen, nutzte man jetzt das Abschiebevideo als Beleg dafür, dass mithilfe des Videos künftig „Verhinderungen von Abschiebungen“ durchgeführt werden sollten. Fazit: „Terroristische Vereinigung“ (§278b StGB) und jetzt neu: „Verübung einer terroristischen Straftat“ (§278c).
Eine weitere 278er-Anklage gegen Polit-Aktivist_innen?
Soweit der Faktenstand von Ende April, als der Abschlussbericht des LVT an die Staatsanwaltschaft übergeben wurde. Was ist seither passiert? Nichts. Der Fall liegt im Justizministerium, dort wird nun beraten, was weiter damit geschehen soll. Die Oberstaatsanwaltschaft weiß von nichts. „Wir sind dafür nicht zuständig“, sagt die dortige Sprecherin. Alles wartet darauf, dass im Ministerium darüber entschieden wird, ob es zu einer weiteren 278er-Anklage gegen Polit-Aktivist_innen kommt oder nicht.
Einerseits ist es zermürbend für die vier Betroffenen, weiter auf Gewissheit zu warten. Andererseits verwundert es nicht, dass es etwas länger dauert. Denn im Ministerium und auch innerhalb der ÖVP scheint es bezüglich der Paragrafen 278ff keine klare Haltung zu geben. Ändern, erweitern oder doch alles so belassen, wie es ist? Die Frage, wie prinzipiell mit den Mafia- und Terrorismusparagrafen umgegangen wird, ist von der Frage, wie über Berufung im Wiener Neustädter Fall und über die Anklage im Kunststudierenden-Fall entschieden wird, wohl nicht zu trennen. Das Ministerium muss sich überlegen, ob es klug ist, einen weiteren potenziellen „Skandalprozess“ loszutreten – Medienrummel inklusive. Optimistische Stimmen meinen, Wiener Neustadt sei den BeamtInnen im Ministerium eine Lehre gewesen – eine derart brüchige Anklage werde es kein zweites Mal mehr geben, zumal unter öffentlicher Beobachtung. Andere wiederum meinen, dass es im Ministerium durchaus mächtige Personen gibt, die der repressiven Ader des LVT einiges abgewinnen können.
Fest steht, dass die Paragrafen 278a und ff den Strafverfolgungsbehörden ausreichend Spielraum geben, auch nur dem leisesten Verdacht mit potenten Observationsmaßnahmen nachzugehen. Es braucht auch nicht besonders viel, um Anklage zu erheben: Ist eine kriminelle oder terroristische Vereinigung einmal gedanklich konstruiert, finden sich schnell alle möglichen Verdächtigen, die diese Vereinigung mit Informationen gefüttert oder „auf andere Weise unterstützt“ (so steht es im Gesetz) haben sollen.
Novellierung der Paragrafen 278a ff?
Was ist eigentlich aus der Ankündigung des Justizministeriums geworden, man werde den Paragrafen novellieren? Diese Ankündigung wurde zwischenzeitlich revidiert, später hieß es dann wieder, man werde das Wiener Neustädter Urteil „evaluieren“, sobald es vorliegt, und erst dann über eine Gesetzesänderung nachdenken. Fragt sich: Warum sollten genau jene Beamt_innen, die trotz aller herben Kritik schon bei dessen letzter Novellierung dennoch an der wässrigen, viel zu weit gefassten Regelung festhielten, jetzt plötzlich kritikfähig sein? Das Argument, hier werde politischer Aktivismus kriminalisiert, lassen Spitzenjurist_innen des Ministeriums ohnehin nicht gelten. „Wer an einer legalen Demonstration teilnimmt, geht kein Risiko ein. Aber unter Verdacht geraten kann jeder, auch ungerechtfertigt“, erklärte Christian Pilnacek, Sektionsleiter im Justizministerium, im STANDARD-Interview am 28. Mai 2011.
Die leise Drohung, die hier mitschwingt, ist zynisch: Denn es ist genau dieser Mafiaparagraf, der bewirkt, dass ein „ungerechtfertigter Verdacht“ gar nicht als solcher enttarnt werden kann. Schließlich spielt es nur eine zweitrangige Rolle, ob jemand Straftaten begangen hat oder nicht. Es reicht, in Verbindung mit Menschen zu stehen, die möglicherweise gerechtfertigt verdächtigt werden.
Wie auch immer im Fall von J., A., I. und B. entschieden wird: Sollte die Staatsanwaltschaft tatsächlich den §278c StGB heranziehen (Verübung einer terroristischen Straftat), dann wäre sie gut beraten, sich den letzten Absatz des Gesetzes ganz genau durchzulesen. Hier steht nämlich: „Die Tat gilt nicht als terroristische Straftat, wenn sie auf die Herstellung oder Wiederherstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse oder die Ausübung oder Wahrung von Menschenrechten ausgerichtet ist.“
Maria Sterkl ist Redakteurin bei derStandard.at und DIE ZEIT