Based on a true Story. „Das Unbestreitbare“ als Faustpfand des Fiktiven.
Wenn sich der fiktive Film „dokumentarisch” gebärdet, sind meist gezinkte Karten im Spiel. Im folgenden drei Beispiele von Filmen, die mittels der Bezugnahme auf „Wahre Geschichten” auf Überwältigung der Rezipienten zielen.
Die wahre Geschichte, gedruckt, gesendet, im Internet abrufbar – ihre Autorität ist so unbestreitbar wie jene des Bieres, welches gemäß dem legendären Reinheitsgebot gebraut wurde. Dessen Film sich ausdrücklich auf das „tatsächlich” Geschehene bezieht (meist schon durch einen Verweis im Vorspann), beginnt mit Einschüchterung und verlangt vom Publikum einen Blankoscheck in Sachen Authentizität. Da ist schon im Ansatz Hopfen und Malz verloren: „Die Frage, ob ein Film authentisch ist, beinhaltet, dass ich zu keinem Kontakt im Kino je gezwungen wurde. (...) Die authentische Distanz des Kinoproduktes drückt sich darin aus, dass treffende Filme zu keinem Zeitpunkt darüber täuschen, dass sie etwas Dargestelltes sind, in das sie den Zuschauer nicht herüberziehen wollen. (...) Authentizität heißt: dass eine Situation stimmig ist, nicht bloß, dass ein Sachverhalt oder die Formen stimmen.” (Alexander Kluge: In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod; Vorwerk 8) Wenn sich der fiktive Film „dokumentarisch” gebärdet, sind meist gezinkte Karten im Spiel. Im folgenden drei Beispiele von Filmen, die mittels der Bezugnahme auf „Wahre Geschichten” auf Überwältigung der Rezipienten zielen.
Der Teufel im Detail: The Exorzism of Emily Rose
Hier die wahre Geschichte aus der BRD der frühen 70erJahre: Eine an Epilepsie erkrankte Studentin leidet an religiösen Wahnvorstellungen und befürchtet, besessen zu sein. Nach einer Folge von Anfällen findet sich ein Priester, der ihr – mit Einverständnis der Familie sowie unter Ausbleiben weiterer medizinischer Versorgung – den Teufel und damit auch den letzten Hauch an Leben austreibt. Die unterlassene Hilfeleistung setzt die Justiz in Gang. Die erzählerische Klammer in „The Exorzism of Emily Rose” (USA 2005; Regie: Scott Derrickson) anlässlich der Verlegung der „wahren Geschichte” in die USA bildet ein Sensationsprozess gegen den exorzierenden Priester mit der abschließenden Einsicht, man dürfe sich nicht nur auf die durch medizinische Gutachten begründete Faktenlage beziehen, sondern müsse metaphysische Erklärungsversuche als gleichwertige Beweismittel akzeptieren – die „true story” als Gleitmittel fundamentalistischer Ideologie. „The Exorzism of Emily Rose“ ist darum bemüht, auf das seit Friedkins „Der Exorzist“ (1973) genreübliche Brimborium zu verzichten (sieht man von einigen teuflischen Umtrieben und der unvermeidlichen „Erscheinung” im Schlussteil ab), um stattdessen auf ein „sowohl-als auch" zu plädieren. Da wird das interkulturelle Verständnis – „Besessenheit“ in Afrika, rituelle „Bewältigung“ – ebenso bemüht wie die „Natur von Erinnerungen und Wahrheiten“ (Regisseur Scott Derrickson). Letztlich sei dies „eine Debatte, die seit Beginn der Menschheit geführt wird. Was glauben wir und was können wir tatsächlich beweisen?“, so Produzent Tripp Vinson. Mit unschuldigem Unterton wird um Fairplay bei der Betrachtung eines vermeidbaren Todesfalles ersucht. Das (rationale) Argument des sichtbar Monströsen als Folge des Todes der Vernunft sei der „spirituellen Weltsicht“ gegenüberzustellen und gleichzusetzen. Solchermaßen wird „The Exorzism of Emily Rose” zu Echo und Begleitpropaganda der Kampagne um die Aufnahme der kreationistisch geprägten These des „intelligenten Designs” als Gegenpol zur Evolutionslehre in die Lehrpläne der US-Schulen.
Der doppelte Kaspar: Jeder für sich und Gott gegen alle
Da hat einer gelebt und ist doch ein Phantom geblieben: Plötzlich auftauchend, auf gewaltsame Weise früh dem Leben entrissen – das kurze Leben des Kaspar Hauser war und ist für Schriftsteller Historiker, Theater- und Filmemacher von Interesse. Ob der 1833 verstorbene, in Wahrheit der durch Intrige und Verschleppung um Anspruch und Erbe gebrachte badische Erbprinz war, darüber gibt es mittlerweile – unumstößliche Wahrheit – bereits zwei wasserdichte, einander widersprechende genetische Gutachten. Lange bevor Hollywood eine gehörlose Schauspielerin für die besonders glaubwürdige Verkörperung einer Gehörlosen mit dem Oscar auszeichnete, entdeckte Werner Herzog in „Jeder für sich und Gott gegen alle” (BRD 1974) den Doppler- Effekt: Bruno S., von der Gesellschaft ausgegrenzt, dreiundzwanzig Jahre in Pflegeheimen interniert, von den Nazis als geistig behindertes, „unwertes“ Leben eingestuft und nur durch Glück der Ermordung durch jene entgangen, wird als Wiedergänger Kaspar Hausers entdeckt. Werner Herzog, der nicht müde wird, die Herkunft des Kinos vom Jahrmarkt zu betonen, betätigt sich als Schaubudenbesitzer und stellt die „Kuriosität” Bruno S., alias Kaspar Hauser, aus – zwei „wahre Geschichten” verfließen zu einer... Das Klischee vom „nicht spielen, vielmehr sein”, befördert in vielen Rezensionen das von Herzog erstrebte Echtheitszertifikat: „Brunos Identifikation mit der Rolle lässt keine Lücke für falsche Schauspielerei, durch sie kommt, in Abständen verstreut, das Außergewöhnliche in diesen Film.” (Süddeutsche Zeitung, 3.12.74) Harun Farocki hingegen vergleicht Herzogs Film mit Truffauts „Wolfsjungen”: „Dort (im Wolfsjungen) sieht man, wie zwei Erwachsene ein wild aufwachsendes achtjähriges Kind zu zivilisieren suchen. Der Zusammenstoß zwischen Natur und Kultur, eine Darstellung davon, was Erziehung ist (...). Bei Werner Herzog ist das Kaspar Hauser-Thema nur dazu da, um die Rarität eines Menschen, der nicht den üblichen Erziehungsprozess durchlaufen hat, vorzuführen”. Farocki kommt zum Schluss, „Jeder für sich und Gott gegen alle” sei „nur dazu da, um Werner Herzog Gelegenheit zu geben, etwas undeutliche Poesie zu produzieren. Undeutlich, aber natürlich superostentativ.” (Konkret, 26.7. 75) Noch 2001, als Herzog „Invincible” dreht, muss für die Hauptrolle des „Siegfried, der Eisenkönig” alias „Samson, der starke Jude” der amtierende „Stärkste Mann der Welt” herhalten. Für die Pianistin Maria Farra, „jung, schön und ausgestattet mit der Scheu jener, die staatenlos sind” (Drehbuchauszug) wiederum kam selbstverständlich nur eine „wirkliche” Pianistin in Frage. Kein falscher Boden, kein Auffangnetz, wahre Geschichten am laufenden Band: Hier sehen sie, was sie noch nie gesehen haben...
Der Fluch der bösen Tat: München
Steven Spielbergs „München” beruft sich im Vorspann im Plural auf „wahre Geschichten”. Die eine ist die Entführung und Ermordung israelischer Sportler durch ein Kommando des „Schwarzen September” während der Olympischen Spiele 1972 in München. Die zweite: Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir beauftragt in einer Geheimsitzung ein Kommando des Mossad mit der Liquidierung der überlebenden Geiselnehmer sowie von deren Hintermännern. In Spielbergs Geschichte der „wahren Geschichten“ ist es ein junger, bis dahin Büroarbeiten zugeteilter Mossad-Mitarbeiter, allerdings Sohn eines Kriegshelden, der mit der Aufgabe betraut wird. Nicht obwohl, vielmehr weil er und die weiteren Mitglieder seines Kommandos keinerlei operative Erfahrung haben und daher auch im Schutz der Anonymität agieren können, sollen sie „das Problem” lösen. Je erfolgreicher sie sind, desto mehr plagen den Einsatzleiter Zweifel, ob der Kreislauf der Gewalt jemals gestoppt werden kann. Dass der Held des Filmes nicht nur entdeckt, dass die „Anderen” auch ein Gesicht und eine Geschichte haben, sondern gegen Ende des Filmes sogar über den Wahrheitsgehalt der „wahren Geschichten” seiner Auftraggeber reflektiert, mag innerhalb der Hollywood-Konvention nicht alltäglich sein (obgleich „politische Filme” derzeit en vogue sind). Doch der (behauptete) Anspruch kollidiert mit dem Gewerbe. „München” funktioniert letztlich wie eine verknappte (und verfeinerte) Variante der Fernsehserie „24”, freilich mit einer vagen humanistischen Botschaft versehen, die lauten könnte: Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend Böses muss gebären. Oder auch: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu. Da ist der Ruf nach ein bisschen Frieden. Und da ist die Antwort des Box-Office: Gekauft!
Wahre Geschichten des Kinos
Beispiel l: Chico Marx steht plötzlich, wie aus dem Boden gewurzelt, in der Maske von Groucho Marx vor Margaret Dumont. Sie traut ihren Augen nicht, denn Groucho hat eben ihr Zimmer verlassen. Dumont: „But I’ve seen it with my own eyes!” Darauf Chico ungerührt: „Whom do you believe? Me or your own eyes?” Dieser Dialog aus „Duck Soup” (USA 1933; Regie: Leo McCarey) ist nicht nur angewandter „Marxismus”, sondern auch eine Schlüsselszene über das Kino. Beispiel 2: Im „Wald der Dämonen” hat ein Räuber einen Samurai getötet und dessen Frau vergewaltigt (heißt es): Ein Zeuge, der Räuber, die Frau, sowie, durch den Mund eines Geisterbeschwörers, der tote Samurai, erzählen, was passiert ist. Die vier Versionen des Ereignisses unterscheiden sich diametral, dennoch ist jede einzelne glaubwürdig... Ob wahr oder gelogen, entscheidet bei „Rashomon” (Japan 1950; Regie: Akira Kurosawa) der Zuschauer, dabei möglicherweise eine fünfte Version entwickelnd.
Beispiel 3: Rosebud: Dem vergeblichen Unterfangen des Journalisten Thompson, die Bedeutung dieses letzten Wortes des Zeitungsmagnaten Kane zu entschlüsseln, steht das auseinander strebende Zeugnis derer, die Kane kennen gelernt haben, gegenüber. Die „wahre Geschichte” des Pressezaren Hearst ist allenfalls Ausgangsmaterial für die Ablösung vom System der „wahren Geschichten”: „Kane war egoistisch und selbstlos, ein Idealist, ein Windbeutel, ein großer und ein unbedeutender Mann. Es hängt davon ab, wer von ihm spricht. Er wird nie aus der Objektivität eines Autors beurteilt, und der Sinn des Films liegt nicht in der Auflösung des Rätsels, sondern in der Art und Weise seiner Darstellung.” (Orson Welles über "Citizen Kane"; USA 1940, Regie: Orson Welles) Ebenso wenig, wie ein Kind dem älteren Herren, der ihm Süßigkeiten anbietet, folgen sollte, ist Vertrauen in die Dealer der „wahren Geschichten” angebracht. Die wahren Geschichten des Kinos entziehen sich dem Faktenschwindel, der Besserwisserei und der Wahrscheinlichkeitskrämerei. Die Wahrheit, so lehren sie uns, verbirgt sich auf der Suche nach ihr, ist eine Frage der Perspektive, der Phantasie und des fröhlichen Zweifels.
Kurt Hofmann ist freier Publizist und Veranstalter, lebt in Wien.