Das Land ist für uns alle gleich
Seit er zwölf ist, lebt Numan von seiner Familie getrennt. Er kam teils zu Fuß, teils mit Regionalbussen und Lastwägen nach Österreich, seine Reise ging über den Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien und Ungarn. Im Flüchtlingslager Traiskirchen wurde er bald als Organisator von Flüchtlingsprotesten aktiv.
Gespräch mit Muhammed Numan vom Vienna Refugee Protest Camp.
Muhammed Numan ist in Pakistan geboren, wuchs aber im Oman als Sohn von Arbeitsmigrant_innen auf. Seit er zwölf ist, lebt Numan von seiner Familie getrennt. Er kam teils zu Fuß, teils mit Regionalbussen und Lastwägen nach Österreich, seine Reise ging über den Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien und Ungarn. Im Flüchtlingslager Traiskirchen wurde er bald als Organisator von Flüchtlingsprotesten aktiv. Das folgende Gespräch hat Bue Hansen im Refugee Camp im Sigmund-Freud-Park geführt, wenige Tage bevor die dort Protestierenden in der benachbarten Votivkirche Zuflucht gesucht haben.
Kulturrisse: Wie ist die Lage zurzeit im Zusammenhang mit den Protesten?
Muhammed Numan: Wir durchwandern einen finsteren Ort. Wir überleben gerade so, wir kennen den Weg nicht, wissen nicht, wo wir hingehen können und worin der nächste Schritt besteht. Es ist eine sehr üble Situation. Die Leute wollen uns helfen, aber sie wissen nicht, wie sie uns helfen können.
Trotzdem glaube ich, dass wir daran Anteil nehmen müssen, wenn ein Flüchtling oder wer auch immer ein Problem hat. Wenn wir diese Dinge miteinander teilen, dann werden wir immer mehr Mobilisierungen schaffen, und mit den Mobilisierungen können wir alles ändern. Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst sie mit deinen FreundInnen teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir kämpfen müssen, werden wir zusammenkommen, und es wird kraftvoller sein.
Wie nennt ihr einander im Camp? FreundInnen, Brüder, GenossInnen?
Im Camp gibt es viele FreundInnen, die uns unterstützen, StudentInnen und andere – die nenne ich FreundInnen. Und wenn wir ums Feuer sitzen und ein Plenum beginnen, dann sage ich: Ich habe eine Familie, ich bin in einer Familie. Zurzeit habe ich keine eigene Familie. Aber ich bin stolz zu sagen, dass ich hier eine wunderbare Familie gefunden habe.
Wie erlebst du das Lager hier in Wien im Vergleich zu dem in Traiskirchen?
Du fragst nach dem Unterschied zwischen den schlechten Zuständen in Traiskirchen und den schlechten Zuständen hier? Klar, es ist ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, um hier zu zelten, es ist sehr kalt. Also was ist der Unterschied zwischen den Lagern? Naja, wenn du ins Lager Traiskirchen gehst, dann wirst du niemanden lächeln sehen. Ich hab’ in den zwei Monaten, die ich dort verbracht habe, niemanden je lächeln gesehen. Hier in unserem Camp in Wien kannst du Leute treffen, die aus der Grundversorgung rausgeflogen sind, die alles verloren haben, und du wirst ein breites Lächeln in ihren Gesichtern sehen.
Ich weiß nicht, ob das einfach so passiert oder damit zusammenhängt, wie wir denken oder dass wir eine tolle Gruppe sind … Aber die Leute lieben es, im Freien zu campen. Hier haben sie ihre Freiheit: Sie können tun, was sie tun wollen, sagen, was sie sagen wollen. In Traiskirchen haben sie keine Rechte.
Hier im Camp habe ich, um Mitternacht oder am Morgen, immer wieder eine Menge Leute gesehen, die Spaß miteinander hatten und ein schönes Lächeln im Gesicht trugen. Nichts davon habe ich jemals in Traiskirchen gesehen. Das ist der Unterschied zwischen einem eigenen Lager und einem Regierungslager.
Ihr kämpft für eure Rechte, und ich habe den Eindruck, dass es da um viel mehr geht als um Forderungen an die österreichische Regierung.
Als Menschen haben wir Rechte. Wenn dir als Mensch deine Rechte nicht gegeben werden, was machst du dann? Ich kann nur sagen: Bitte stärke mir den Rücken, und ich werde dir den deinen stärken, damit wir gemeinsam die Kraft haben, unsere Rechte einzufordern. Wir brauchen unsere Rechte, wir brauchen Demokratie – wo sind sie denn, im 21. Jahrhundert?
Es ist Müll, zu sagen, dass wir heute, in diesem Jahrhundert, so entwickelt sind. Nein, wir verpassen etwas! Wir haben uns entwickelt, ja, wir waren schon auf dem Mond, obwohl wir vor ein paar hundert Jahren noch zu Fuß gegangen oder auf Tieren geritten sind. Damals haben wir nicht daran gedacht, in andere Länder zu gehen. Wir haben unser Wissen entwickelt und so viele Dinge aufgebaut, und doch fangen wir an, Grenzen zu schaffen! Wenn du hierher kommst oder dort und dort hin willst, musst du jetzt um Erlaubnis bitten. Das war früher nicht so.
Wenn wir in Zukunft auf dem Mond leben sollten, werden wir uns dort Land aneignen. Was werden wir tun, wenn es uns in ferner Zukunft möglich ist, dort zu leben? Genau dasselbe! Wir haben uns entwickelt, aber wir sagen „das da gehört dir“ und „das hier gehört mir“. Aber das Land ist für uns alle gleich! Nimm die Vögel: Der Himmel ist nur ein einziger, alles ist eins. Wenn das Wetter kalt wird oder der Winter in den Sommer übergeht, dann fragen die Vögel einander nicht um Erlaubnis, sie ziehen einfach weiter. Das ist die Freiheit des Lebens. Oder das riesige Meer: Das Meer ist mehr als dreimal so groß wie die Landmassen. Und im Meer gibt es viele Lebewesen, die überall hinreisen, und zwar ohne zu fragen. Das Meer ist mit allen Flüssen verbunden, es verändert sich ständig. Das Wasser aus dem Westen bewegt sich Richtung Asien und vermischt sich: Da gibt es keine Grenze, keine Begrenzung.
Wir sehen die schlechte Seite der Dinge oft nicht, die wir bauen oder entwickeln. Das ist, als ob man den Leuten sagen würde: Wenn ihr von der Landstraße zum Karlsplatz wollt, müsst ihr den Weg über den Prater nehmen. Du könntest die Strecke vielleicht in fünf Minuten zurücklegen, aber du hast das Recht dazu nicht.
Bue Rübner Hansen lebt in Wien und macht unter anderem Radio bei ORANGE 94.0 (www.soundsofmovement.noblogs.org) sowie ein Doktorat in London. Außerdem ist er Teil des Radical Collective Care Practices Project
(www.radicalcollectivecare.blogspot.co.at).
Übersetzung: Manuela Zechner