Die Frage der Demokratie stellen
Die Wahlen sind innerhalb des Systems der repräsentativen Demokratie ein zentraler Schauplatz. Dort wird erstens der Bürgerkrieg, der sonst nirgendwo mehr stattfinden darf, simuliert und zweitens der GladiatorInnenkampf in einer neuzeitlichen Version nachgespielt.
Die Wahlen sind innerhalb des Systems der repräsentativen Demokratie ein zentraler Schauplatz. Dort wird erstens der Bürgerkrieg, der sonst nirgendwo mehr stattfinden darf, simuliert und zweitens der GladiatorInnenkampf in einer neuzeitlichen Version nachgespielt. Als die Bürgerkriegsparteien sehen sich die politischen Parteien und als GladiatorInnen die PolitikerInnen, die ihre Kampfkunst öffentlich bei den Wahlveranstaltungen vorführen. So die Vorstellung seitens derjenigen, die an diesem Spiel unmittelbar beteiligt sind, die organisieren, agitieren usw.
Nun hat sich seit den 1960er Jahren ein Störfaktor in diese so blendend funktionierende Belanglosigkeit eingeschlichen. Das wäre auch nicht so schlimm, wenn dieser Faktor nicht an den Grundlagen des Systems rütteln würde, an der Legitimität des Ganzen. Denn das zentrale Prinzip dieses Spieles besagt, dass die nichtuntergegangenen GladiatorInnen nach dem Kampf in der Arena das Recht haben, dem Publikum Gesetze vorzuschreiben. Diese Gesetze gelten als legitim, weil es eine unmittelbare Interaktion zwischen den GladiatorInnen und dem Publikum in der Wahlkampfarena gab. Die GladiatorInnen dürfen über das Publikum lange Zeit bestimmen, weil dieses kurze Zeit über ihr persönliches Schicksal bestimmen durfte. Ein Vertrag sozusagen. Aber was ist, wenn nicht alle einen Zugang zur Arena – dort wo sie entweder GladiatorInnen oder das Publikum sein können – haben? Im alten Rom war das eindeutig: Die SklavInnen gehörten gar nicht zu den menschlichen Wesen. Nun aber gründet die bürgerliche Gesellschaft seit geraumer Zeit auf dem Prinzip der Öffentlichkeit, d. h. auf der Möglichkeit aller auf einem Territorium Lebenden, außerhalb der Privatsphäre ein Teil des staatlichen Körpers zu werden (um gerade dadurch diesem Körper eine Daseinsberechtigung zu liefern). Was ist aber, wenn es eine Situation gibt, in der Menschen, die gesellschaftlich als menschliche Wesen gelten, keine Berechtigung haben, an der Inszenierung der Öffentlichkeit rechtmäßig teilzunehmen? Allein durch ihre Anwesenheit stellen sie dann das zentrale Prinzip der Legitimität der bürgerlichen Öffentlichkeit infrage: dasjenige, das besagt, dass die wenigen MitspielerInnen von allen legitimiert sind, die Regeln für alle zu beschließen.
Weil sie kein Wahlrecht haben, können sie eben nicht mitspielen. Weil sie nicht mitspielen können, können sie dem Regelbringer auch keine Legitimität erteilen. MigrantInnen sind die Anormalen und Anomalen der spätkapitalistischen Gesellschaften und stellen dadurch die Frage nach der Demokratie. Durch ihre Anwesenheit fragen sie: „Was gibt euch die Berechtigung, über uns zu entscheiden? Was ist der Unterschied, der eure Macht und unsere politische Ohnmacht rechtfertigt?“ Langfristig wird es ohne eine klare demokratische Antwort auf diese Fragen nicht mehr möglich sein, glaubwürdig von Demokratie zu reden. Für ein Viertel der Wiener Bevölkerung ist die Demokratie eine unmittelbar und für drei Viertel eine mittelbar gemeinschaftliche Lüge. Eine Lüge aber bleibt eine Lüge, und durch die Unmöglichkeit ihrer Verdeckung wirkt sie allseits zersetzend. Klar doch, wenn es möglich ist, ein Viertel der Bevölkerung so zu beherrschen, warum soll es nicht möglich sein, die gleichen Verfahren auch auf die anderen Teile der Bevölkerung anzuwenden? Es wäre durchaus vorstellbar, den „nutzlosen Teilen“ der Bevölkerung – egal wie und von wem diese Nutzlosigkeit definiert wird – das Wahlrecht zu entziehen.
Das bedingungslose Wahlrecht für MigrantInnen ist also kein altruistischer Akt, es geht dabei weder um Liebe noch um Hilfe, sondern allein um das Problem, dass dieser Mangel dabei ist, die Demokratie als solche prinzipiell infrage zu stellen.