Die Mitteilung der europäischen Hegemonieansprüche. Notizen zum Kulturverständnis der Europäischen Union.

Lassen wir die Seele beiseite und sagen wir: „Kultur ist das, worüber sich die Europäische Union – in der Vorstellung, die treibende Kraft der menschlichen Entwicklung und Zivilisation zu sein – versucht, in die Zukunft einzuschreiben.“

„Kultur ist die Seele der menschlichen Entwicklung und Zivilisation“ lautet der erste Satz der Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung. Abgesehen davon, dass ich als Materialist größte Schwierigkeiten damit habe, mir etwas unter einer „Seele“, die wiederum „Kultur“ sein soll, vorzustellen, finde ich, dass dieser Satz etwas anderes Interessantes andeutet, was anschließend in der restlichen Mitteilung ausgeführt wird. Lassen wir also die Seele beiseite und sagen wir: „Kultur ist das, worüber sich die Europäische Union – in der Vorstellung, die treibende Kraft der menschlichen Entwicklung und Zivilisation zu sein – versucht, in die Zukunft einzuschreiben.“ Diese Verortung der Kultur ist der Punkt, dem mein Interesse gilt. Wofür steht „Kultur“ im Zusammenhang mit der europäischen Ideologie nach Auffassung der EU-Kommission? „Kultur“ scheint für die Kommission ein Ding zu sein, welches einerseits das Individuum und somit individuelle Entwicklungen vorantreibt und andererseits die Zivilisation, also die gemeinschaftliche Ausrichtung auf gemeinsam gesetzte und geltende Zielvorstellungen: Kultur ist das verbindende Zukunftsdenken, das eine Einheit zwischen Individuum und seiner Gemeinschaft schafft. Wir befinden uns, indem wir diese Mitteilung lesen, inmitten eines institutionellen und offiziellen Kulturverständnisses einer geopolitischen Macht – zumindest will uns die Mitteilung deren Vorstellung vermitteln. Vermieden wird daher der direkte Bezug auf die Nation, die seit dem 18. Jahrhundert zentraler Entwicklungsmotor des offiziellen Kulturverständnisses war. Die Europäische Union präsentiert sich als supranationale Einheit auf dem Weg zur „sanften Macht“, wie in der Mitteilung zu lesen ist. Und dies wohlgemerkt vor dem Hintergrund einer – wie zu lesen ist – „durch die Globalisierung infrage gestellten EU-Identität“. Welche Identität würde da denn infrage gestellt?, könnte ich hier fragend einfügen. Viel interessanter als diese Frage ist aber die Inszenierung der identitären Bedrohung. Was mit der Einführung des Bedrohungsszenarios suggeriert wird, ist, dass Kultur ein universelles Instrument für die Partizipation der kreativen Individuen an der Entwicklung und Erhaltung des gemeinschaftlichen Selbstverständnisses, eben der Identität, ist. Einer Identität, die unbedingt erhalten werden muss, weil sie wichtiges Instrument für die Implementierung der europäischen Zivilisation ist. Wir befinden uns mitten im Bereich der Identitätspolitik. Genau das ist der Zweck jedweden Geredes über Identität. Die Vergangenheit schreibt sich, geschützt durch die EU-Identität, in die Zukunft ein. Kultur ist dabei die Ursache, deren Wirkung Identität ist und die Zivilisation ist die zu erhaltende und auszubauende Grundlage. So viel zum Verständnis des ideologischen Hintergrundes oder besser gesagt des Mythos, der von der Europäischen Kommission gepflegt wird und somit auch als offizieller Mythos der EU angesehen werden kann. Mit welchen kulturellen Instrumenten wird diese gemeinschaftliche Ausrichtung vorangetrieben? In der Mitteilung stehen mehrere Mittel aufgelistet, auf zwei werde ich im Folgenden näher eingehen, die Begriffe „Interkulturalität“ und „Kreativität“. Deren Bedeutungen nähere ich mich mit Fragen nach Wer?, Wie?, Was? und Wo?, entlang diskursanalytischer Fragestellungen.

Interkulturalität

Der Begriff der Interkulturalität wird in der Mitteilung durch eine Differenzierung eingeführt. Einer zwischen „kultureller Vielfalt“ und „interkulturellem Dialog“. Unter „kultureller Vielfalt“ wird vor allem eine Intensivierung der schon bestehenden Austauschprogramme zwischen den EU-Mitgliedstaaten angestrebt. „Interkultureller Dialog“, auf den ich mich hier beschränken möchte, bedeutet die Reproduktion der sonst in den Fremdengesetzen geläufigen rechtlichen Trennung zwischen „EU-BürgerInnen“ und so genannten „Drittstaatsangehörigen“ auf dem kulturpolitischen Feld. Der Begriff des „interkulturellen Dialogs“ wird eingeführt, weil es auch diejenigen gibt, die, so scheint es, nicht so selbstverständlich zu der „kulturellen Vielfalt“ gehören, sondern mit denen erst ein Dialog geführt werden soll. Ich bin kein Freund des andauernden Dialoggebets. Ich finde es, milde gesagt, heuchlerisch, von Dialogen zu reden, solange es keine gemeinsame Bühne gibt, auf der sich zwei oder auch mehrere Gleichberechtigte in dergleichen vertiefen können. Wohlgemerkt, eine politische Bühne, denn wir sind zutiefst ins politische Feld hineingeraten. Es gibt diese Bühne eben nicht, auf der sich die zwölf Millionen MigrantInnen innerhalb der EU an der Entwicklung des Kulturverständnisses und der Kulturinstitutionen der EU beteiligen könnten. Sie sind nach wie vor diejenigen, deren Stimmen kein rationaler Gehalt erteilt wird, sie können höchstens über ihre AdvokatInnen und FürsprecherInnen, also sekundär und filtriert, an diesen Prozessen teilnehmen. Ein Beispiel, wie solche europäischen Dialogaufrufungen auf nationaler Ebene im Lande Österreich vollzogen werden, wäre 2008 als Jahr des Interkulturellen Dialoges. In das dafür zuständigen Nationalkomitee wurde zunächst keine einzige Selbstorganisation von MigrantInnen zur Teilnahme eingeladen. Dies erfolgte erst nach Interventionen der freien Kulturszene. Die Einladung, dabei zu sein, ist noch lange keine Entscheidungsbefugnis. Die haben die HüterInnen der Nationalkultur und ihrer Institutionen für sich reserviert. Das ist die funktionale Logik solcher Aufrufe zur Interkulturalität. Wobei ich mir hier noch die Frage erlaube, was die Fremdenpolizei in Gestalt des Bundesministeriums für Inneres in einem kulturellen Gremium zu suchen hat? Der interkulturelle Dialog ist eine Sache der AdvokatInnen und er wird innerhalb der bestehenden rassistischen Verhältnisse, in Form gegenseitiger Beteuerung über die Notwendigkeit eines solchen, geführt. Das ist auf der österreichischen nationalen Ebene so und, wie mir scheint, wird diese Linie auf EU-Ebene entsprechend vorbereitet. Zumindest ist mir aus der vorliegenden Mitteilung nicht ersichtlich, wie ein tatsächlich ernst zu nehmender interkultureller Dialog stattfinden soll. In der Europäischen Union hatten und haben die MigrantInnen die Rolle der Metöken. Sie sind dazu verurteilt, politisch entrechtet zu leben. Sie gehören nicht zum Demos, die Citoyenrechte werden ihnen verweigert. Dies wäre für mich ein zentraler Punkt, an dem der in der Mitteilung immer wieder aufscheinende Begriff „Partizipation“ gemessen werden muss. Solange nicht alle auf allen Ebenen partizipieren, müssen diejenigen, die partizipieren, sich ganz banal die Frage stellen, auf wessen Kosten sie dies tun. Solange über die MigrantInnen die wohlwollenden Vorstellungen der europäischen Eliten ergossen werden, ohne dass sie die Möglichkeit haben, an der Entstehung dieser Vorstellungen zu arbeiten, kann das Ganze nur als Farce bezeichnet werden.

Kreativität

Kreativität ist wohl einer der schillerndsten Begriffe des letzten Jahrzehnts. Er begegnet uns mit so einer Vehemenz, dass es schwierig ist, sich nicht mit ihm zu befassen. Zunächst ist zu konstatieren, dass dieser Begriff an sich nichts Neues ist. Während des Kalten Krieges, vor allem in den 60er und 70er Jahren, spielten die Begriffe Schöpfertum versus Kreativität in der ideologischen Konfrontation zweier Blöcke eine nicht unwesentliche Rolle. In den Achtzigern verstummte diese Diskussion wieder. Nun aber haben wir seit den Neunzigern ein Revival, und zwar nur von einem dieser alten Begriffe, der offensichtlich als Sieger der Debatte präsentiert wird, nämlich dem der Kreativität. Auffallend dabei ist, dass Kreativität als Eigenschaft eines Individuums gedacht und permanent mit einer ökonomischen Verwertung in Verbindung gebracht wird. Kreativität ist jene Eigenschaft, die den Tellerwäscher zum Millionär machen soll. Umgekehrt gilt dies natürlich auch: Diejenigen, die keine kreative Ader besitzen, müssen bis in alle Ewigkeit Teller schrubben. Und genau das ist der Punkt: Wir haben in der EU fünf Millionen Menschen als kreative Mitbeteiligte im Sektor Kultur und gleichzeitig wird nicht über ihre durch und durch prekarisierten Arbeitsverhältnisse diskutiert. Die Kreativität ist eine Eigenschaft, die den ideologischen Entwicklungslinien der Individualisierung zuzurechnen ist. Vor allem durch selbstausbeuterische Arbeitsverhältnisse charakterisiert, nimmt sie eine wichtige Stellung in der neoliberalen Ideologie ein und wird eingesetzt, um die gewachsenen Strukturen der kritischen Kulturorganisationen zu schwächen oder zum Verschwinden zu bringen. Die Frage aber ist und bleibt: Warum wird der Widerspruch zwischen der Forderung nach Kreativität und ihrer Äußerung in der Realität, nämlich als Prekarität der Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse, wieso wird dieser Widerspruch zwischen Konkurrenz und sozialem Schutz nirgendwo in der Mitteilung angesprochen?

Was fehlt noch in der Mitteilung?

Neben den sozialen Aspekten von Kultur bleibt vor allem der große Bereich der Medien und Kommunikation in der Mitteilung unerwähnt. Wie kann es sein, dass dieser Bereich nicht mehr gemeinsam mit Kultur gedacht wird, wo noch in den 70er Jahren Kultur, Medien und Kommunikationstechnologie weltweit gemeinsam auf UNESCO-Ebene diskutiert wurden? Seit dieser Zeit aber hat es einen enormen Konzentrationsprozess der Medien gegeben. Und im Rahmen der UNESCO wird heute die Diskussion der westlichen Vorherrschaft über die Kommunikationsmittel tunlichst vermieden. Lieber wird dafür, wie im Jahr 2005, Kultur und deren Artenschutz mittels einer Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt hochgespielt. Die weltweit wirksamen Medien sind im Besitz einiger weniger Großkonzerne und sind zur zentralen Stütze eines Industrie- und Finanzkapitals geworden. Als Ergebnis der Resignation, oder auch verursacht durch den Druck der großen Medienkonzerne, werden Medien – und damit der gesamte Kommunikationsbereich – nicht mehr als zum Bereich der Kultur und ihrer Fragestellungen gehörend diskutiert, werden letztlich Fragen der Kommunikationstechnologie auf offizieller weltpolitischer Ebene – anders als auf den Sozialforen oder in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft – gar nicht mehr diskutiert. Diese Trennung der Bereiche von Kommunikation und Kultur steht hinter der verschwindenden Bedeutung des Begriffes der „Kulturindustrie“.[1] Dieser Begriff ist eng mit den informationsvermittelnden Einrichtungen, Radio, Magazinen und Fernsehen verbunden. Wenn die Medien nicht mehr Objekt von Diskussionen sind, weil der „Triumph des investierten Kapitals“ total ist, verliert auch der Begriff der Kulturindustrie an Diskussionsrelevanz. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno sind wir nicht mehr am Anfang dieser Entwicklung, sondern erleben gewissermaßen deren Abschluss. Dies ist auch der Zeitpunkt, an dem wir andere Begriffe brauchen, um diese Entwicklung wieder verständlich und somit auch bekämpfbar zu machen. Dass die medienspezifischen Fragen gemeinsam mit Kulturfragen diskutiert werden müssen, hat eine eminent demokratiepolitische Wichtigkeit. Es kann keine Kulturpolitik geben, die sich außerhalb von medien- und kommunikationspolitischen Fragestellungen abspielt. Das der Mitteilung der Europäischen Kommission zu entnehmende Schweigen zu Fragen der Förderung unabhängiger Medien, der Vielfalt der Informationsquellen, den Eigentumsformen von Medien und verschiedenen Formen des Medienzuganges ist Zeichen dafür, dass Fragen der Kultur in Rahmen der Europäischen Union einen anderen Wert als einen demokratiepolitischen haben, dass sie der Vorantreibung der Hegemonie der ökonomischen und neokolonialen Globalplayer dienen. Kultur ist notwendig, wie die Mitteilung uns mitteilt, damit die EU „ihre Präsenz auf der internationalen Bühne ausbauen kann.“

1 vgl. auch Gerald Raunig in dieser Ausgabe

Ljubomir Bratić ist Philosoph und Publizist, lebt in Wien.