Die privatisierte Demokratie
– Zur aktuellen Degeneration des Politischen
Idioten sind – so die alten Griechen – diejenigen, die sich ihrem Privatleben, nicht aber den politischen Angelegenheiten ihrer Gemeinschaft widmen. Heute, in einer Zeit, in der wir andauernd dazu aufgefordert werden, uns als politische Wesen zu verstehen, scheinen die klassischen Epochen der Idiotie endgültig vorüber. Bei immer mehr, aber gerade unmaßgeblichen Gelegenheiten, ist unsere Meinung gefragt und werden Wahlen inszeniert – man denke nur an die boomenden Volksbefragungen. Kurzum, wir zelebrieren eine Demokratiekultur, in der jeder über Wahlen am öffentlichen Leben teilhaben kann und soll. Die Wahlentscheidung sei dabei das um und auf – und der gesellschaftliche Kontext von vornherein klar: „Wir leben schließlich in einer freien Welt.“ Der rechte Weg zu einer Selbstregierung des Volkes sei damit – so meint man – bereits gefunden. Der einzig emanzipatorisch zu optimierende Bereich wäre dann bloß noch die Frage nach mehr oder weniger direkter Demokratie – und diese wird ohnehin als die Lösung sämtlicher politischer Probleme verherrlicht.
Ist dem aber wirklich so? Geht es nur mehr um die Beseitigung von undemokratischen Altlasten, geht es nur mehr darum, die Demokratie zu „reinigen“? – Oder liegt hier nicht ein grundsätzliches Missverständnis vor?
Zum einen hat uns die neoliberale Betriebswirtschaft gelehrt, dem privaten Vorteil nachzujagen. Sie hat uns gelehrt, die Reflexionen über unser (die Politik bestimmendes) Wirtschaftssystem gerade nur soweit zu treiben, um zu erkennen, dass wir uns um dessen systemisches Funktionieren keine Sorgen zu machen hätten – ja, dass wir uns davon gar nicht bekümmern lassen dürften, ohne das System (und seine Selbstreinigungskraft) zu gefährden.
Übertragen auf das Politische hieße das dann: „Mach dir keine Gedanken über das Funktionieren einer Gesellschaft, es könnte ihr bloß schaden. Betreibe vielmehr dein persönliches Streben nach Glück, dein ganz privates persuit of happyness. Dessen Durchsetzung darfst du dann von der Gemeinschaft politisch einfordern.“
Zum anderen zeigt sich ein derart reduziertes Politikverständnis an Sozialpolitik, die auf eine autoritäre Befürsorgungspolitik hinausläuft. Als Leitfigur dieser Entmündigungspolitik mag hier „der kleine Mann auf der Straße“ gelten, für den Politik gemacht werden soll. Mit anderen Worten heißt das dann wieder: „Mach dir keine Sorgen über das gesellschaftliche System – Hauptsache, es wird alles für deine Interessen – und das sind naturgemäß Privatinteressen – geregelt ..."
Beide Konzeptionen moderner Idiotie, die des wirtschaftlich eigeninitiativen Unternehmers und die des befürsorgten kleinen Mannes, ergänzen einander und beruhen auf einer Verleugnung des Politischen als die wesensbestimmende Kategorie des Menschen.
Nun ist es klar, dass ein moderner Unternehmer allen demokratischen (Stör-)Impulsen reserviert gegenüberstehen wird. Er hat es auch nicht nötig, sich politisch zu engagieren. Das Wirtschaften allein ist der Königsweg zu politischer Macht. – Wie aber sieht es für den „kleinen Mann“ aus, der eine demokratische Politik bitter nötig hat? Kann man ihm politische Eigeninitiative zumuten? Und wird er dann nicht das ganze Wirtschaftssystem aus Kurzsichtigkeit gefährden?
Natürlich sind derartige Befürchtungen nicht unbegründet, allerdings nur dann, wenn man den Menschen eine subhumane Persönlichkeitsstruktur unterstellt und sie dementsprechend behandelt: Hat man die Menschen von reflexionsfähigen Selbst- und Fremdbeobachtern (und seien diese noch so einfach!) zu bedürfnisbefriedigenden Regelbefolgern erniedrigt, so muss man auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen ein möglichst dichtes Netz von Regeln knüpfen, um quasi alle Beziehungsmöglichkeiten im Detail erfassen zu können und um deren missbräuchlichem Ausleben vorzubeugen.
Derzeit zeigen sich solch fürsorglich bevormundende Mikronormierungstendenzen an etwa dem beginnenden Bonus-Malus-System des Gesundheitswesens. Im Schatten der Fürsorglichkeit verbirgt sich hier eine neue Form des biopolitischen Autoritarismus in einer pseudodemokratischen Aufmachung (die auch das Wesen der Demokratie auf eine Diktatur der Mehrheit reduziert).
Dieser Autoritarismus betrifft aber nicht nur den Bereich der Verbote, er betrifft und „motiviert“ auch das Positive – das, was wir tun sollen: Um den, durch die „wirtschaftlichen Sachzwänge“ ohnehin Entmündigten eine persönliche politische Kompetenz vorzugaukeln, werden die Einzelnen etwa dazu ermuntert, in ihren privaten Marotten öffentlich aufzutreten, um Wahlen und Rankings in Castingshows und Internetforen für sich zu entscheiden.
Damit soll offenbar den, gegenüber dem Meinungsbildungsprozess vorrangig erachteten, demokratischen Wahl- und Entscheidungsbedürfnissen Genüge getan werden: Hier werde – so meint man – Öffentlichkeit und Abstimmung, hier werde Demokratie geübt. – Der alte Spruch: „Das Private ist politisch“ wird so auf eine paradoxe Weise ernst genommen und verwirklicht. Er gewinnt damit einen gänzlich neuen, einen pervers-politischen Charakter: den der pseudopolitischen Idiotie.
Peter Moeschl ist Facharzt für Chirurgie. Zahlreiche Projekte zu den Schnittstellen von Medizin und Kulturwissenschaften sowie Kunst- und kulturtheoretische Publikationen, u.a. auf dem Gebiet der Kritischen Psychologie, Philosophie, Kunsttheorie, sowie der strukturalen Psychoanalyse.