Die Theorie scheitert an der Praxis

Warum förderpolitische Ziele der Regierungen nie erreicht werden und wie sich das ändern könnte. Ein Plädoyer.

Was sich in der Kulturförderung ändern sollte:

1) Förderasymmetrie zwischen öffentlichen Kulturbetrieben und privaten, nicht-gewinnorientierten Kulturorganisationen abbauen: Förderungen sollen aufgrund der inhaltlichen Qualität vergeben werden und nicht aufgrund des Alters einer Einrichtung, ihrer Größe und/oder Nähe zur öffentlichen Hand oder einer Partei.

2) Der Prekarisierung von Kunstschaffenden und Kulturarbeiter/innen entgegenwirken: Fair Pay, Mindestgagen, Honorarrichtlinien etc. sollen von Bewertungsgremien eingefordert werden; mehrjährige Verträge werden wertgesichert abgeschlossen; keine zusätzlichen Projektförderungen für institutionalisierte Einrichtungen mit mehrjährigen Förderverträgen

3) Anhebung des Kunstbudgets: 1% des Bundesbudgets sind angemessen.

4) Spendenabsetzbarkeit: für alle Kultureinrichtungen, nicht nur für Museen; Stiftungsrecht reformieren zugunsten gemeinnütziger Stiftungen.

5) Mittelgroße Kulturorganisationen: als Motoren der Innovation fördern.

6) Kinder- und Jugendkultur: besser unterstützen .

7) Abrechnungsmodalitäten: zwischen den Gebietskörperschaften vereinheitlichen und vereinfachen; die Qualität der Kontrolle verbessern.

8) Reform des Urheberrechts: das Recht auf Privatkopie sichern und ein Urhebervertragsrecht einführen.

Unmittelbar nach einer Nationalratswahl muss es möglich sein, erneut rational zu überlegen, welche Aufgaben ein demokratischer Staat zu erledigen hat, speziell natürlich auf den Lebensbereich der Kultur bezogen.

Da Österreich eine demokratische Republik ist, deren Recht vom Volk ausgeht, hatte schon die Verfassung von 1920/29 die Aufgabe, mit den Resten des Feudalismus möglichst gut aufzuräumen. Feudalismus trennt die Gesellschaft nach unterschiedlichen Ständen und spricht den Angehörigen dieser Stände höchst unterschiedliche Rechte zu, die qua Geburt an jeder Person ein Leben lang kleben. (Dass die Verfassung von 1929 nur fünf Jahre später, 1934, von der sogenannten Maiverfassung des austrofaschistischen Staates abgelöst wurde, zeigt, wie schwierig und wie notwendig diese Aufgabe war. Die Grundsätze der Maiverfassung waren nämlich: christlich, deutsch, föderalistisch und ständisch.)

Deshalb stellt die später wieder in Kraft gesetzte Verfassung in Artikel 7 ausdrücklich fest: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechts, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen.“ Dieser so genannte Gleichheitssatz hat nicht nur für die Verteilung von Kulturfördermitteln eine besondere Bedeutung, er ist der entscheidende ethische Grundsatz, in dem auch das gegenwärtige Verständnis von Gerechtigkeit gefasst ist. Er legitimiert die Auflehnung gegen Ungerechtigkeit sowie den Kampf für Verteilungsgerechtigkeit und liefert den dafür notwendigen emotionalen Brennstoff.

Die österreichische Kulturförderungspolitik ist föderalistisch organisiert und vielfältig gesetzlich geregelt. Die Kulturförderungsstellen müssen in Übereinstimmung mit den zentralen Prinzipien des demokratischen Staates und zugleich zielgeleitet ihren Auftrag erfüllen. Die Ziele der Förderpolitik sind von den jeweiligen Regierungen der Länder und des Bundes zu formulieren und von den zuständigen politischen Referent/innen umzusetzen. Dabei müssen sie einerseits kulturelle Neutralität und Offenheit gegenüber den vielfältigen kulturellen und künstlerischen Erscheinungsformen wahren (Selbstbestimmungsrecht der Bürger/innen). Anderseits müssen sie ihren Förderauftrag, also die kulturpolitischen Ziele, verfolgen.

Im Übereinkommen der Bundesregierung von 2008 ist im Kapitel „Kunst und Kultur“ unter anderem folgendes formuliert:

„Der Erhalt und Ausbau der kulturellen Vielfalt und eines offenen kulturellen Klimas, die besondere Förderung des zeitgenössischen Kunstschaffens und der kulturellen Partizipation sind für die Bundesregierung zentrale kulturpolitische Aufgaben. Unser Ziel ist es dabei, möglichst vielen Menschen die Teilhabe an der Wissens- und Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu ermöglichen.“ Weiters bekennt sich die Bundesregierung „zu einer ausreichend dotierten öffentlichen Kulturfinanzierung und zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur“ und sucht den Dialog mit Kunst und Kulturschaffenden. Darüber hinaus sollen Förderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der kreativen Arbeit einen Beitrag leisten, insbesondere für Frauen. Die Aktivierung und Intensivierung der kulturellen Partizipation der Bevölkerung ist ebenfalls ein Ziel, insbesondere „die Zugänglichkeit für sozial schwächere Gruppen österreichweit“. (1)

Wem kommen Förderungen tatsächlich zugute?

Doch welche Auswirkungen der Kulturförderungspolitik sind tatsächlich manifest? Klar ist, dass Faktoren wie Alter, Bildung und Herkunft entscheidend sind für die kulturellen Präferenzen der Bevölkerung. Wem kommt der Löwenanteil der Förderungen also tatsächlich zugute?

Den Älteren mehr als den Jüngeren: Es lässt sich feststellen, dass zum Beispiel das Opernpublikum sowie das Publikum für klassische Konzerte schnell altert. Binnen einer Generation ist es um zehn Jahre älter geworden, in Deutschland liegt der Altersdurchschnitt bei 57 Jahren (2). Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre hingegen sind kulturell bereits anders sozialisiert als ihre Eltern. Sie orientieren sich auch an den Angeboten nicht-staatlicher Kultureinrichtungen wie an klassischen Kulturinitiativen, freiem Theater und Pop. Der für klassisches Musiktheater und klassische Konzerte ansprechbare Bevölkerungsausschnitt wird also schmäler werden. Die Problematik, dass Kinder und Jugendliche in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil wenig profitieren und Künstler/innen, die für Kinder und Jugendliche arbeiten, benachteiligt sind, kann hier nur angedeutet werden.

Welche sozialen Gruppen profitieren mehr? Eine gesellschaftliche Herausforderung, die sich im Kulturbereich zeigt, ist die „soziale Spaltung“. Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt: Der Besucher/innenanteil der formal höher Gebildeten liegt bei allen Kulturangeboten (nicht nur bei denen der „Hochkultur“) weiterhin deutlich über dem der formal weniger Gebildeten. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass diese soziale Spaltung sich eher verstärkt und keineswegs abgenommen hat. (3) Noch immer muss davon ausgegangen werden, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung Kulturangebote, wie sie von Gebietskörperschaften gefördert werden, nicht annimmt und abseits medial vermittelter Kultur weitgehend kulturabstinent ist.(4)

 

Nach wie vor: Verteilung von unten nach oben

Es ist nicht Gegenstand dieses Textes, die sozialen Auswirkungen von kultureller Abstinenz zu erörtern. Doch dass soziale Teilhabe ohne kulturelle Einbindung lückenhaft bleibt und Nachteile mit sich bringt, ist hinreichend belegt. Es kann also gesagt werden, dass öffentliche Kulturförderung im Allgemeinen eine Verteilung von den unteren zu den oberen sozialen Schichten darstellt, dies umso mehr, wenn große Summen für „klassische Hochkultur“ verwendet werden.

Greifen die am stärksten geförderten Kulturbetriebe in Österreich tatsächlich die kultur- und sozialpolitischen Herausforderungen auf? Es gibt – teilweise ehrliche, mitunter auch oberflächliche – Anstrengungen und Versuche der Einrichtungen, das zu tun. Doch das Selbstverständnis des angestammten Publikums sucht in seiner kulturellen Praxis mehr die Distinktion als die Integration, es definiert sich eher über Merkmale wie Kennerschaft und Ansprüche an Virtuosität als über ein „Kultur für alle“-Verständnis. Zudem eignen sich die strukturellen Voraussetzungen und das Repertoire nicht unbedingt für flexibles, zeitnahes Reagieren auf aktuelle Erscheinungen. Auch der Anspruch, zeitgenössische Kunst zu popularisieren, was den gut ausgestatteten Häusern auch aufgrund ihrer Marketingkraft und ihrer öffentlichen Präsenz am ehesten gelingen könnte, trifft auf den Widerstand des angestammten Publikums.

Stehen sie für Vielfalt und Innovation? Auch dort gibt es Widerstand des Publikums, insbesondere was das Repertoire, aber auch was Umsetzungsformen betrifft. Seit sich das freie Theater vom „Schauspielbeamtentum“ (Rolf Schwendter) emanzipiert hat, kommen Innovationen aus dem freien Theater und werden – oft gern und mit intensivem Interesse – von großen Bühnen aufgegriffen, meistens nachdem renommierte Festivals die ersten Schritte gesetzt haben.

Tatsächlich ist die Förderpolitik also Lichtjahre von der Verwirklichung ihrer hehren Ziele entfernt. Und diese Tatsache ändert sich auch nicht im Verlauf der Jahre, im Gegenteil: Die Förderasymmetrie zwischen den Kultureinrichtungen der Gebietskörperschaften und den privaten Kultureinrichtungen – zumeist Initiativen aus der Bevölkerung, die sich in Vereinsform organisieren – nimmt allerorts zu und hat teilweise schon groteske Ausmaße angenommen.

Der Staat formuliert also kulturpolitische Ziele, die er durch den Betrieb seiner eigenen Kultureinrichtungen konterkariert.

Es gilt als eine zentrale staatliche Aufgabe, Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen Aktivitäten vorzugeben. Dazu gehören neben einem klaren rechtlichen Rahmen auch Regelungen, die negative Auswirkungen wirtschaftlicher Entwicklungen wie Monopolbildung oder Einschränkungen des Marktzugangs für neu eintretende Akteur/innen verhindern sollen.

Auch wenn der Kulturbereich zu keinem Zeitpunkt der neueren Geschichte als klassischer Gütermarkt verstanden werden kann, ist es dennoch bemerkenswert, dass in diesem Bereich, wo der Staat als wichtigster Akteur tätig ist, die Zugangs- und Arbeitsbedingungen für Kulturanbieter/innen derartig unterschiedlich sind, wie in der Kultur – und dies völlig unabhängig von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung der Exekutivgewalt. Die Maxime „Mehr Privat – weniger Staat“, die zum Beispiel der ÖVP-Staatssekretär für Kunst, Franz Morak, in den Jahren 2000 bis 2006 für sich in Anspruch genommen hat, führte nicht dazu, dass private Kultureinrichtungen gegenüber den staatlichen an Boden gewannen. Dass in Österreich (und vielen anderen Ländern) auf allen Ebenen der Verwaltung der Staat wichtigster Akteur im kulturellen Markt ist, ist unbestritten. Der „freie“ Markt als solcher, wo mehr oder weniger ohne staatliche Unterstützung agiert wird, ist schwach entwickelt. Der Staat agiert einerseits als Träger eigener kultureller Einrichtungen und andererseits als Förderer privater kultureller Initiativen, die von einzelnen Künstler/innen oder von privaten Vereinen getragen werden. Während der Staat als Eigentümer von Gesellschaften eine Vielzahl von Regelungen und Standards (zum Beispiel auch Kollektivverträge) einhält, herrscht im privaten Bereich eine relative Regellosigkeit. Dies führt zu höchst unterschiedlichen Produktions- und Arbeitsbedingungen für Kreative, je nachdem ob sie für eine staatliche oder eine private Einrichtung tätig sind. Das führt auch zu einer höchst unterschiedlichen öffentlichen Präsenz und in der Folge auch zu einer höchst unterschiedlichen statistischen Dokumentation. (5)

Beabsichtigt sind diese Differenzen nicht, doch sie haben eine Vielzahl von negativen Auswirkungen für die Entwicklung und den Fortbestand einer vielfältigen und lebendigen Kulturlandschaft. Die Folgen für die kulturelle Teilhabe der Bevölkerung und die verfassungsrechtliche Gleichheit der Staatsbürger/innen sind aber noch gravierender. Wer die Förderpolitik mit Bezug auf die von ihr am stärksten Begünstigten analysiert, kann zu keinem anderen Schluss als jenem kommen, dass genau nicht die im Regierungsübereinkommen genannten „sozial schwächeren Gruppen“ aus der Kulturförderungspolitik einen Nutzen ziehen, sondern dass sie für die sozial stärksten Gruppen (mit)zahlen.

Die wichtigste Forderung an eine neue (alte) Regierung muss daher sein, einen Weg zu finden, ihre zuletzt selbst formulierten Ziele zu erreichen. Der Gleichheitssatz der Bundesverfassung kann als Werkzeug dienen.

(1) Regierungsprogramm 2008-2013:  http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=32966

(2) Norbert Sievers: Die unzulängliche Zugänglichkeit der Kultur. Kulturelle Teilhabe und Sozialstruktur. Keynote zur Podiumsdiskussion „KULTUR FÜR WEN?“ 1.2.2011 in Wien

(3) Horst W. Opaschowski , 2009: Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben. Gütersloh.

(4) Siehe zum Beispiel: IFES Kulturstudie 2007, Kulturstudie Vorarlberg 2010

(5) Die Statistik Austria zählt in ihrer Kulturstatistik zum Beispiel nur die Besucher/innen von Bundes-, Landes- und Stadttheatern sowie jene der Wiener Privattheater und der Vereinigten Bühnen Wien, nicht jedoch jene der freien Theater.

Juliane Alton ist Geschäftsführerin der IG Kultur Vorarlberg und im Vorstand der IG Kultur Österreich