Ein Ort namens „Archiv der Migration“
Wenn eine Gruppe, die lange in einer Gesellschaft lebt, ohne Geschichte da steht, handelt es sich nicht um die mangelnde Integration dieser Gruppe, weil nicht sie diejenige war, die darüber bestimmte, was geschichtlich zu thematisieren wäre, sondern es handelt sich um einen Aspekt von kulturellem Rassismus, weil nicht alle, sondern nur manche einen Zugang zur Geschichtsschreibung haben.
Entwicklungslinien zu einer Forderung
Der folgende Text ist ein Versuch, einige Entwicklungslinien, die zur Forderung nach einem Archiv der Migration führen, zusammenzufügen. Es wurden bei Weitem nicht alle relevanten Zusammenhänge berücksichtigt, so bleiben zum Beispiel Diskussionen aus einer postkolonialen Perspektive oder die früheren Diskussionen über Frauenarchive, Archive der sozialen Bewegungen oder Archive, die die Arbeiterklasse als Subjekt wahrgenommen haben, außen vor. Die postkoloniale Perspektive auf die Geschichte, die Perspektive der Frauengeschichte und der Geschichte von Schwulen und Lesben werden in diesem Heft von anderen AutorInnen behandelt. Trotzdem gibt es da noch viele Themen und Aspekte, die gesondert betrachtet gehören. Ich hoffe diesbezüglich sehr auf eine weitere Diskussion.
Die Entdeckung der Migrationsgeschichte
Aus vielen Geschichten bildet sich die Geschichte, heißt es, aber was ist, wenn die vielfältigen Produktionsmaschinen der Geschichte nicht allen, die in einem nationalstaatlichen Gefüge leben, zugänglich sind? Diese Frage stand am Anfang! Irgendwann in den 1990er-Jahren ging es wieder einmal darum, von offiziellen Stellen nicht (an-)erkannte Jubiläen der Anwerbeverträge (1) kenntlich zu machen. Die Zeit dafür war reif, weil diejenigen, die gekommen sind, um zu gehen, geblieben sind, und weil diejenigen, die geblieben sind, aus ihren Reihen Sprechpositionen entwickelt haben, die nach einem Namen für diese Positionierung suchten.
Zunächst einmal ging es darum, in den allgemeinen diskursiven Lärm der theoretischen Rechtfertigungen zu intervenieren und für die Lücken in der Geschichtsschreibung klarzustellen, worum es da geht: Wenn eine Gruppe, die lange in einer Gesellschaft lebt, ohne Geschichte da steht, handelt es sich nicht um die mangelnde Integration dieser Gruppe, weil nicht sie diejenige war, die darüber bestimmte, was geschichtlich zu thematisieren wäre, sondern es handelt sich um einen Aspekt von kulturellem Rassismus, weil nicht alle, sondern nur manche einen Zugang zur Geschichtsschreibung haben. Die Erkenntnis dieser Art von Normalität und deren Herstellung erfolgte entlang der Linien der Auseinandersetzung über die Verfahren zur Naturalisierung von Ausschließungsmechanismen. Die Namen, die sie trugen und tragen – Rotation, Assimilation, Integration, naiver Multikulturalismus, Diversität, Migrationshintergrund usw. –, markieren Stationen in der Entwicklung dieser Rechtfertigungsverfahren.
Bei diesen stark performativen Begrifflichkeiten ging es immer darum zu zeigen, dass „die anderen“ anders sind – und sie sind anders, weil sie eben „die anderen“ sind –, sowie darum, dass explizit (oder in den letzten Jahrzehnten implizit) die soziopolitische, kulturelle und ökonomische Diskriminierung in der Gesellschaft gerechtfertigt wird. „Die anderen“ haben keine Geschichte, weil sie nicht fähig sind, eine Geschichte zu haben. Wollen sie in die Geschichte eintreten, müssen sie diese oktroyierte negative Differenzierung aufgeben. Dies sollen sie tun, indem sie auf bestimmte, von der Mehrheitsgesellschaft diktierte Verfahren – die oben genannten – in einem langsamen, Generationen übergreifenden Prozess eingehen. Sie tragen selbst die Verantwortung, und wenn es anders sein sollte, müssten sie das mit Entbehrungen, eben mit dem Zugeständnis der Notwendigkeit der Diskriminierungen bezahlen.
Der Streitpunkt zwischen den mehrheitsgesellschaftlichen TheoretikerInnen war vor allem, wie lange die Reise auf diesem vorgezeichneten Weg dauern sollte. Die einen behaupteten, dass „die anderen“ von Natur aus, unwiderruflich und unverbesserlich anders sind; die anderen, dass es mehrere Generationen dauern wird, bis „die anderen“ anders, das heißt gleich wie die Mehrheitsgesellschaft sein könnten; und die dritten behaupteten, dass es eh so gut ist, wie es ist, weil die Gesellschaft – wer genau da profitiert, wird nie nachgefragt – eben von der Buntheit profitiert. Die Differenzen sind unüberbrückbar, sie sind langfristig aufhebbar, und sie sind, egal wie sie sind, vor allem nützlich!
Die Erkenntnis dieser normativen und faktischen Normalisierungslinien stand hinter der Auseinandersetzung, die seit den 1990er-Jahren in Österreich zwischen den verschiedenen Formen von Antirassismus stattfand. Die Verfahren zur Naturalisierung zu begreifen, war ein integraler Bestandteil des politischen Antirassismus. Damit wurde das Selbstverständliche, das für alle Normale, das Natürliche und Unhinterfragbare der Möglichkeit einer diskursiven Bearbeitung zugeführt. Es ging in erster Linie um eine taktische Vorgangsweise. Dieses Verfahren brachte aber auch die Geschichte ins Blickfeld, denn das, was da stand, zeigte sich als hergestellt. Somit gerieten der Herstellungsprozess und dessen Transformationen in der Zeit ins Blickfeld. Die oben eingeführte Reihenfolge der Namen für die Verfahren zur Rechtfertigung der Diskriminierungen verweist auch auf die eigenständigen Paradigmen dieser Entwicklung. Manche davon überlappen sich teilweise, so zum Beispiel der naive Multikulturalismus und die Diversität; manche entwickelten sich als diskursives Gegensatzpaar, zum Beispiel die Diskussion um die Assimilation und Integration in den 1980er- und 1990er-Jahren; und dritte wiederum kommunizieren über Jahrzehnte miteinander und ergeben dadurch immer wieder neue theoretische Instrumentalisierungsverfahren.
Die Ausstellungsverfahren und die Migration
Ein Blick in die Geschichte war also ein Blick auf die geschichtlichen Transformationen der Regulierungs-, Diskriminierungs-, Disziplinierungs- und Unterdrückungsverfahren. Will ein politisches Subjekt einen Ausweg aus diesem dichten Erklärungsnetzwerk finden, muss es sich mit der Entstehungsgeschichte dieser Mechanismen beschäftigen und gleichzeitig sich selbst als einen integralen Bestandteil dieses diskursiven Geflechtes nachvollziehbar machen: Selbst- und Fremderkenntnis, Selbst- über Fremd- und Fremd- über Selbsterkenntnis! Das alles muss Teil eines historischen Prozesses sein, der auch anders hätte verlaufen können.
Dieses „Können“ ist von zentraler Bedeutung, denn es geht in diesem Prozess nicht um die Geschichte an sich, sondern um die Geschichte für sich: Geschichte, deren Seiten entlang eines Emanzipationsbegehrens geblättert werden. Damit ist ein weiterer Prozess eingeleitet worden, nämlich derjenige, der aus dem Bewusstsein entspringt, dass erstens die Menschen handelnde Individuen sind und dass zweitens Migration einen historischen Prozess darstellt, der oberhalb der Geschichte des Nationalstaates stattfindet und insofern einer gesonderten Behandlung bedarf.
Das Stichwort zu ersterem Sachverhalt ist Subjektivierung und das zu letzterem die Autonomie der Migration. Diese zwei Linien werden in zwei paradigmatischen Ausstellungen behandelt. Die erste wird in Österreich im Jahr 2004 in der von der Initiative Minderheiten initiierten und im Wien Museum realisierten Ausstellung gastarbajteri verfolgt. Die zweite Linie hat sich im Ausstellungswesen vor allem in Deutschland bemerkbar gemacht. Die bis heute wichtigste Ausstellung in diesem Kontext war das während der Rot-Grünen-Regierungskoalition realisierte Projekt Migration in Köln im Jahr 2006. Die Differenzen zwischen diesen zwei Ausstellungen waren beträchtlich, sie widersprachen sich aber nicht, sondern verfolgten bis heute gültige und einflussreiche Geschichtsauffassungen. Einen gravierenden Unterschied zwischen beiden gab es jedoch, was das Vorfeld anbelangt: Während die Kölner Ausstellung auf die Erfahrungen von dem in Köln lokalisierten DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e. V. aufbaute, das unmittelbar in die Ausstellung involviert war, mussten sich die Wiener AusstellungsmacherInnen einen Großteil der Exponate im Zuge einer dreijährigen Recherchearbeit aus privaten Beständen zusammensuchen. Genau dieser Tatbestand führte damals zu Anregungen in Richtung Wien Museum, eine Sammeltätigkeit mit der Ausrichtung Migration zu beginnen. Dieses Vorhaben wurde jedoch, warum auch immer, nicht realisiert. (2) Genau an diesen Punkt knüpfte die von Arif Akkilic und mir initiierte und durchgeführte Kampagne Für ein Archiv der Migration, jetzt! (3) im Jahr 2012 an.
Zur Notwendigkeit eines Archivs der Migration
Warum also ein Archiv der Migration? Zunächst einmal, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass für die Rekonstruktion der Subjektposition einer beträchtlichen Gruppe von Menschen – von 8,5 Millionen BürgerInnen sind mehr als eine Million ohne Staatsbürgerschaft registriert – in der derzeitigen österreichischen Gesellschaft kaum subjektbezogene Dokumente oder Objekte gesammelt werden. Es gibt nirgendwo eine Stelle, deren Sammeltätigkeit auf das Tun von MigrantInnen, sei es als organisierte Einheiten oder als Individuen, ausgerichtet ist. Dies kann kein Zufall sein, sondern ist ein Zeichen für eine Gesellschaftsordnung, für eine vorherrschende Normalität, die perspektivisch gesehen von einer Subjektposition der Betroffenen verändert werden muss.
Darum ist die Forderung nach einem Archiv der Migration eine, die sich auf die Demokratisierung der Gesellschaft richtet. Es geht um die tatkräftige Anerkennung der Tatsache, dass Österreich eine Einwanderungsgesellschaft ist, und es geht darum, den Menschen, die bisher als Zweite-Klasse-BürgerInnen galten, eine – und zwar ihre – Geschichte zuzugestehen. Es geht um eine Geschichte der MigrantInnen, die sich auf dem Weg zwischen zwei oder mehreren Nationalstaaten abspielt; eine Geschichte, die ihnen bisher ungeahnte Handlungspotenziale als Bestandteil der bestehenden Wirklichkeit zugesteht; eine Geschichte, die sie und ihre Organisationen als Beitrag zur Entwicklung und Demokratisierung der Gesellschaft anerkennt; eine Geschichte, die als ein integraler Bestandteil der großen nationalstaatlichen – aber auch einer anderen europäischen und weltgeschichtlichen – Entwicklung gelten soll; eine Geschichte, die ihnen Kontinuitäten in der Entwicklung, aber auch Brüche zugesteht usw.
Diese Geschichte muss einen Ort haben, wo gesammelt, geordnet und für weitere Nutzungen aufbewahrt wird. Dieser Ort heißt Archiv der Migration.
Fußnoten
(1) 1964 wurde der Anwerbevertrag zwischen Österreich und der Türkei und 1966 der zwischen Österreich und Jugoslawien unterzeichnet. Nächstes Jahr gibt es das 50-jährige Jubiläum. Und wieder sind es, so viel mir bekannt ist, nur die AktivistInnen in Wien, Linz, Innsbruck und Bregenz – die meisten davon migrationshintergründig –, die zum Andenken daran Veranstaltungen vorbereiten.
(2) Diese Einstellung änderte sich mit der Zeit. Vor Kurzem erklärte das Wien Museum in einem Folder, dass zum Thema Migration schwerpunktmäßig gesammelt werde. Aber nach welchen Richtlinien passiert das? Wer sammelt da was über wen? Und was sind die Schwerpunkte: Werden da Koffer oder wird etwas anderes gesammelt? Wir hoffen, dass die Antworten auf diese Fragen bald einen Weg in die Öffentlichkeit finden werden.
(3) Zur Kampagne siehe: www.wienwoche.org/de/80/für_ein_archiv_der_migration,_jetzt und www.archivdermigration.at/de/kampagne/kampagne
Ljubomir Bratić ist Philosoph, einer der InitiatorInnen des Arbeitskreises „Archiv der Migration“ und freier Publizist, lebt in Wien.