Gemütlichkeit, welche Gemütlichkeit! Wenn es kein Recht auf Faulheit gibt, welches soziale Recht gibt es dann?
"Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen... Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft." Das sagte Anfang April, dem Monat, der dem 1. Mai vorausgeht, Gerhard Schröder der Bildzeitung für die Ausgabe eines Freitags, der Tag, der dem Wochenende vorausgeht.
"Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen... Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft." Das sagte Anfang April, dem Monat, der dem 1. Mai vorausgeht, Gerhard Schröder der Bildzeitung für die Ausgabe eines Freitags, der Tag, der dem Wochenende vorausgeht. Wenn sich ein sozialdemokratischer Bundeskanzler ohne Widerspruch seiner grünen RegierungskollegInnen angesichts der trotz guter Konjunktur nur schleppend kleiner werdenden Schlangen vor den Arbeitsämtern solche Gedanken macht, ist in den Köpfen und folglich darum herum einiges passiert. Wahrscheinlich weiß er es gar nicht, aber er bedient sich aus dem Fundus einer alten Debatte der ArbeiterInnenbewegung: Geht es um die Befreiung der ArbeiterInnen von ihren ExpropiateurInnen oder um die Befreiung von der Arbeit selbst? Als Sozialdemokrat und ehemaliger Jungbolschewist in deren Jugendorganisation ist er linientreu. Im Kontext mit dem Problem Arbeitslosigkeit wurde diese Debatte bislang nicht explizit so geführt.
Was hat dies aber mit Gemütlichkeit zu tun? Ich lade Sie dazu ein, mir zu folgen, Gemütlichkeit so sehr aus dem Kulturellen ins Politische zu rücken, dass sie nachgerade ideologisch wird.
Gemütlichkeit ist nichts von absoluter Bedeutung. Weder ist sie klassenübergreifend, noch hat sie ein Geschlecht. Dies trifft sowohl auf das erweiterte, politisierte wie auch popularisierte Verständnis des Wortes zu: Sowenig eine Kirtagsrauferei gleichermaßen für Männer und Frauen gemütlich ist, ist es der renovierte Bauernhof im Waldviertel/ Mühlviertel quer zur "Klassenlage". Mit dieser Erkenntnis hätten wir bereits den ersten Schritt zur Politisierung der Gemütlichkeit getan.
Gemütlichkeit ist nicht nur nicht allgemeingültig. Das Gegenteil ist der Fall: Sie ist Katalysator bei der Synthetisierung von Identitäten. Der Umstand, dass für die einen nicht gemütlich ist, was es den anderen schon ist, beflügelt letztere geradezu. Sie zelebrieren ihre Gemütlichkeit.
Gemütlichkeit strebt nach Hegemonie. Andersrum: Es gibt immer - nur - hegemoniale Gemütlichkeit. Oder einfacher: die herrschende Gemütlichkeit ist immer die Gemütlichkeit der Herrschenden. Wenn sie sich denn überhaupt quantifizieren lässt: Das Maß der erlebbaren Gemütlichkeit ist kontingent. (Siehe dazu auch die Einleitung!) Hier kommt Macht ins Spiel. Willkommen in der Politik.
Gemütlichkeit bezeichnet vage etwas, das auf der Haben-Seite des individuellen Lebens steht. Sie liegt irgendwo zwischen der Mühsal und der Muße. Wenn sie auch eher jenseits der "Arbeit" existiert, gibt es sie ebenso in derselben ("g'müatliche Hack'n"). Wir werden weiter unten sehen, dass eben diese Lokalisierung der Grund für ihre schlechte Konjunkturlage ist. Der physische und zeitliche Ort der "Nicht-Arbeit" verschwindet. Wo soll Gemütlichkeit noch stattfinden?! Aber schön der Reihe nach. Gehen wir zwei Gemütlichkeiten zurück. Und blicken wir dabei nicht zu weit über den Tellerrand, bleiben also in Österreich.
Die Gemütlichkeit des österreichischen Bürgertums war der Austrofaschismus. Jene mittelmäßige Herrschaftsform, die Klerus, Landbourgeoisie und Nichtallzugroßkapital vor einen politischen Karren spannt, welcher bei Bedarf die Teile des Proletariats, denen es an vaterländischen Gefühlen mangelt, platt walzt. Eine Gesellschaft streift in Loden durch den Fichtenwald. Sie errichtet die Höhenstraße oder die Glocknerstraße und keine Autobahnen. Aus der Sicht der Bürger (Bourgeois, nicht Citoyen) war diese Gesellschaft vollendet gemütlich: Ökonomische Absicherung und politische Dominanz, ohne sich dafür besonders anstrengen zu müssen. Denn - im kapitalistischen Sinne - zuwege gebracht hat diese Gesellschaft nichts. Die katastrophalen Wirtschaftsdaten konnten dieser österreichisch bürgerlichen Gemütlichkeit nichts anhaben. Sie hatte keine wirkliche Vorstellung von Entwicklung, es gab keine Modernisierungsvision. Ganz im Gegenteil: in der "Trabrennplatzrede" proklamierte Kanzler Dollfuß 1933 rückwärtsgewandte Werte: Das Mittelalter sei keine finstere Zeit.
Österreich hätte der wahre deutsche Staat zu sein und dürfe nicht wie Deutschland vor dem Proletariat kapitulieren, meinte der Heimwehrführer und kurzzeitige Innenminister Fey. Damit formulierte er am besten den tief sitzenden Abscheu gegen alles Plebejische. Diese Regung blieb von allem Ständestaatlichen am besten bis heute konserviert. Auch wenn der Austrofaschismus historisch besehen ein kurzes Intermezzo blieb, war es doch ein dezidiert politisches Projekt des österreichischen Klein- und Mittelbürgertums, welches - in heutiger Begrifflichkeit ausgedrückt - am Reformstau gescheitert ist. Es gibt kein besseres Beispiel für den "Extremismus der Mitte". Es mag davon nicht mehr viel sichtbar sein. Immerhin steht aber die österreichische Volkspartei für Kontinuität . "Wir können Gott danken, dass wir Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler haben", meinte ein betagter Herr auf einer ÖVP-Veranstaltung in Wien knapp nach Regierungsantritt.
Der Einfachheit halber wollen wir hier davon absehen, dass oben erwähnter Reformstau zuallererst durch den Nationalsozialismus gelöst wurde. Die Modernisierung der österreichischen Gesellschaft im fordistischen Sinne wird heute allgemein, wenn auch fälschlich, allein sozialdemokratisch gelesen. Wie auch immer verstehen wir sie hier als konsistente Gemütlichkeit - die Gemütlichkeit des Proletariats (genauer: des weißen männlichen Proletariats). Wiederum mag das paradox erscheinen: Fließband und VW-Golf-Eins (als ideeller Nachfolger des "Volkswagens") als Inbegriff von Gemütlichkeit. Sozialdemokratische Stellvertretung hat in Österreich epidemisch gemütliche Ausmaße und weit über die Grenzen Anerkennung und Aufmerksamkeit erlangt. Zum Unterschied vom ersten Gemütlichkeitsmodell ist dieses ein Erfolgsmodell. Es erwies sich auch über viele Jahrzehnte als enorm hegemoniefähig.
Beispiel 1: Die über 20 Jahre ausgestrahlte, bereits vergilbte BAWAG-Werbung: Zwei Werbespots, die jeweils eine Familie beim Glücklichsein und Sparen zeigt; alleine der Name der Bank - Bank für Arbeit & Wirtschaft - steht für das gemütliche Wirtschaftskonzept. (Dass heute ein Ministerium nahezu gleichlautend heißt, bedeutet keine Kontinuität!)
Beispiel 2: Die Folge "Der Hausabbruch" aus der ORF-Fernsehserie "Ein echter Wiener geht nicht unter", welche selbst diese Gemütlichkeit sowie ihre Klassensituation repräsentiert. Der bundesdeutsche Herr Hauke ("Ha-U-Ka-E") hat den Auftrag, das Mietshaus, welches Schauplatz der Serie ist, zu kaufen und hernach abzureissen. Sein Wiener Unterhändler versucht, ihn zu bremsen. Obgleich selbst offensichtlich "ÖVPler", gibt er dem stürmischen Deutschen mehrmals zu erkennen, dass "hier" nichts zu überstürzen sei: "Schauen Sie, in Wien kann man nichts über's Knie brechen", meint er immer wieder teils entschuldigend, aber doch immer auch mit dem Roten Wien solidarisch kokettierend. Das Haus bleibt stehen.
Wie die verstaatlichten Industrien Hochburgen der politischen und ökonomischen Hegemonie der Sozialdemokratie waren, sollen hier die vielen Gewerkschaftsheime als Hochburgen dieser Gemütlichkeit gelten. Hallenbäder, Kantinen und große neonbeleuchtete Speisesäle als günstige Urlaubsdestinationen an zumindest aus heutiger Sicht nicht sehr sehnsüchtigen Orten. Heute sind sie alle verlassen, verkauft. Nicht einmal mehr Grund und Boden hat sich der Gewerkschaftsbund behalten. Wir schreiben den 4.2.2000. Es gibt keine Gemütlichkeit mehr.
Wir sind jetzt in der Zeit danach angekommen. Postfordismus ist angesagt. Die Krise des Fordismus ist wesentlich älter als eineinhalb Jahre. An ihrer Bewältigung wird auch schon länger gearbeitet. Zum politischen Programm und mobilisierenden Konstitutiv gerann die Demontage des fordistischen Kompromisses aber erst mit Blau-Schwarz. Wir erleben dieses Projekt als Revanchismus: Die FPÖ war stets vom bipolaren System der Interessenkooperation und des Proporzes in der Sozialpartnerschaft ausgeschlossen geblieben, und die ÖVP erlebte sich politisch-ideologisch - zurecht - als schon längst führend, aber doch immer hintennach (das hinzukommende tiefsitzende Ressentiment gegen alles Subalterne und somit auch gegen dessen Kultur & Gemütlichkeit wurde oben bereits erwähnt). Postfordismus ist aber keine Imagination. Genauso wenig sind jetzt einfach nur andere Leute am Ruder - auch wenn das Fast-Regierungsübereinkommen SPÖ-ÖVP kaum erträglicher war. "Postfordismus" ist gleichbedeutend mit der Herausbildung neuer ökonomischer, sozialer und politischer Strukturen und Abläufe innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems. Das Wort markiert weniger einen von rechts besetzten Kampfbegriff oder eine konservative Offensive, wie das in vielen linken politischen Kreisen missverstanden wird, denn eine reale Entwicklung kapitalistischer Gesellschaft und Produktionsweise. Politisch betrachtet allerdings verläuft die Krise des Fordismus synchron mit der Krise emanzipatorischer - im weitesten Sinne sozialistischer - Politik. Dies ist auf die weitreichende Verquickung der verschiedensten linken Ansätze mit dem fordistischen Projekt zurückzuführen. Auch wenn es keinesfalls zutrifft, werden nationaler Wohlfahrtstaat, Klassenkompromiss und Massenproletarisierung sowie Massenkonsum heute vielfach "links" konnotiert.
Die Grundfesten der Zweiten Republik wackeln. Da braucht es keine Herolde der Dritten oder Vierten Republik. Alle Bereiche des Lebens werden gleichsam selbsttätig einer Neubewertung unterzogen. Hier können wir wieder den Bogen zum Anfang spannen. Die Sphären von Arbeit und Nichtarbeit entschärfen sich, gehen ineinander über. In einer Art Hyper-Kontrollgesellschaft begreifen sich immer mehr Menschen 24 Stunden dem gesellschaftlichen Funktionieren verpflichtet, das hier als kapitalistisches gemeint ist. Die New Economy - definiert als Ausweitung ökonomischer Formen auf das Soziale, mithin der Verankerung des alles durchdringenden Wettbewerbsprinzips auch auf der individuellen Ebene - kennt keine Gemütlichkeit.
Was aber ist mit dem Recht auf Faulheit? Aus dem politischen Diskurs droht dieser Aspekt zu verschwinden. Wo ist der Platz, an dem sich eine Gesellschaft über ihre "pace" klarwerden kann? Verweigerung scheint hier zunächst das probate Mittel, diese Frage auf die Tagesordnung zu bekommen; das Recht auf Faulheit eine sinnvolle Forderung. Soziale und ökonomische Nachhaltigkeit sind derzeit weitgehend unbesetzte Themen. Sie zu besetzen ist ungemütlich. Noch fehlt die politische Akteurin, die die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Arbeit in den Mittelpunkt rückt. Noch ist der politische Ort nicht gefunden, an dem klar ist, dass wir arbeiten, um zu leben und nicht umgekehrt; an dem Arbeit neubewertet und nicht mehr nur verwertet ist; an dem schließlich das "Recht auf Faulheit" das soziale Recht schlechthin ist. Jetzt werden Sie sagen: Das ist Sozialismus oder mehr. Gut.
Yoyo Tischler ist Mitarbeiter von MALMOE, Kunststofftechniker und lebt in Wien.