Keine Wahl für niemanden?
Sicher ist jedoch, dass neue Zyklen von Massenprotesten kommen werden und dass jede wahlpolitische Alternative von Links aus diesen Bewegungen ihre Themen und ihre Energie beziehen muss. Es gilt also, Wahlalternativen aus sozialen Bewegungen heraus zu entwickeln und nicht aus den anachronistischen Traditionsbeständen einer dritten, vierten oder siebenundzwanzigsten Internationale (und den dementsprechenden Bündnissen unter Gruppen dieser Orientierungen).
Bundesdeutsche Grüne überholen in Sachen Abbau sozialer Rechte alpenländische Rechtsextreme mit links, kommunistische Regierungsbestandteile in Italien verlängern Kriegseinsätze im Irak, DIE LINKE zerstört in Koalition mit der SPD kommunale Sozialleistungen in Berlin munter mit … Offensichtlich kann eine bloße Willensbekundung gegen die allgegenwärtigen Imperative des neoliberalen Kapitalismus nichts ausrichten. Zumindest nicht viel, vor allem wenn soziale Kämpfe nicht eine gewisse Massenwirksamkeit erreichen. Eingedenk dessen ist auch der Spielraum für eine linke Wahlalternative gering, dessen sollte mensch sich bei Überlegungen nach möglichen Beiträgen zu einer solchen bewusst sein. Auf Seiten der Linken geht die parlamentarische Repräsentation oft erst dann ab, wenn sie nicht mehr existiert. Dass links der „Mitte“ in Italien (erstmals seit der Befreiung vom Faschismus) keine Kräfte in Senat und Abgeordnetenkammer existieren, bedeutet eine eklatante Schwächung der Linken – auch der außerparlamentarischen. Linke, widerständige, antirassistische Initiativen auch auf parlamentarischer oder massenmedialer Ebene sichtbarer zu machen, als dies im Rahmen der eigenen alternativen Strukturen möglich ist, ist eine nicht zu vernachlässigende Stärker einer auf repräsentativer Ebene verankerten Linken. Tatsächlich ist etwa die eklatante Rechtsverschiebung des politischen Spektrums nach der letzten Wahl in Italien nicht nur Effekt gesellschaftlicher Regression, sondern befördert diese selbst auch, indem sie z.B. im massenmedialen Raum gesellschaftliche Widerstände und Alternativen mehr und mehr aus dem Blickfeld rücken (und hier sind nicht nur Berlusconis TV-Sender gemeint, bei denen das ohnedies nie anders war).
Ein wichtiger Aspekt kann die „Sprachrohr-Funktion“ für soziale Bewegungen sein, die Möglichkeit also, gesellschaftliche Widerstände deutlicher sichtbar zu machen oder alternativen Bewegungen auf gesetzlicher Ebene einen – wie auch immer beschränkten – Ausdruck zu geben. Dies gilt ebenso für das zur Verfügung stellen von Infrastruktur, Geldmitteln und anderen Ressourcen. Diese sind für Bewegungen und Kampagnen äußerst wichtig und aus eigener Kraft oft nur schwer aufzustellen. Mehr wird wohl auch für eine erfolgreich auf dem Terrain der repräsentativen Demokratie gelandete Alternative nicht zu machen.
Ohne Bewegung keine Linke
Wirksame Veränderungen gehen immer von sozialen (Massen)Bewegungen an der Basis der Gesellschaft aus – auch wenn sie, meist in Form von Gesetzen – formal-politisch ihren Ausdruck finden. Die Zersetzung des fordistischen Disziplinarregimes ist ein Effekt der 68er-Bewegung, die Straffreiheit der Abtreibung jener der autonomen Frauenbewegung. Dementsprechend muss jede Überlegung zur Neuentwicklung einer parlamentarischen Linken von ihrem Verhältnis zu den sozialen Bewegungen ihren Ausgang nehmen – und seien diese auch noch so klein und schwächlich wie hierzulande. Es gibt Widerstand gegen Abschiebungen und menschenfeindliche „Ausländergesetze“, Bewegungen, die für gesellschaftliche Freiräume und für das Recht auf Wohnen kämpfen sind im Aufschwung, die Debatten um eine „solidarische Ökonomie“ und um das „bedingungslose Grundeinkommen“ sind lebendig und vielfältig, die Solidarität gegen die Repression von TierrechtsaktivistInnen konnte eine erstaunliche gesellschaftliche Breite erreichen, in der Mayday-Bewegung drückt sich zumindest der Anfang einer breiteren Bewegung der prekär Lebenden und Arbeitenden aus: Alle diese Beispiele (und die hier nicht genannten obendrein) sind gewiss momentan keine gesellschaftlich breit wirksamen Strömungen, und doch zeigen sie, dass auch in ruhigen Zeiten die aktiven Bemühungen um emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen existieren. Eine zeitgemäße linke Wahlalternative muss die Vorrangigkeit (und Vielfältigkeit) sozialer Bewegungen zur Grundlage ihres politischen Handelns machen, will sie nicht dort landen, wo viele linke Projekte in immer kürzerer Zeit angekommen sind: Bei der Mit-Verwaltung herrschaftlich verfasster Zustände. Dem antiquierten Modell der stabilen, konstituierten Partei gälte es eine bewegliche und sich stets aufs neue in Frage stellende, „konstituierende“ Form repräsentativer Organisation gegenüberzustellen, so schwierig das im Moment auch erscheinen mag.
Dass in Zeiten von Finanzkrisen, Arbeitsplatzabbau und beschleunigter Inflation nicht mehr Widerstand existiert, ist zum Teil mit den noch immer wirksamen Residuen österreichischer Sozialpartnerschafts-Ideologie zu erklären, aber auch auf eine generelle Phase der Erschöpfung nach dem Abschwung der globalen Protestbewegung und jener gegen den Irakkrieg zurückzuführen. Sicher ist jedoch, dass neue Zyklen von Massenprotesten kommen werden und dass jede wahlpolitische Alternative von Links aus diesen Bewegungen ihre Themen und ihre Energie beziehen muss. Es gilt also, Wahlalternativen aus sozialen Bewegungen heraus zu entwickeln und nicht aus den anachronistischen Traditionsbeständen einer dritten, vierten oder siebenundzwanzigsten Internationale (und den dementsprechenden Bündnissen unter Gruppen dieser Orientierungen). Erst so entstünde erst die Möglichkeit, sinnvoll über den Einsatz von (persönlichen) Ressourcen für ein Wahlprojekt zu diskutieren. Politisches Vereinheitlichungs- bzw. Einheitsdenken und das Ausfechten taktischer Machtkämpfe werden dann nicht Hauptbestand der Auseinandersetzungen sein, vielleicht aber die kollektive Suche nach einem Umgang miteinander, der Differenzen als Stärke akzeptiert und auch interne Kommunikationsprozesse als Teil des Projekts emanzipatorischer Veränderung versteht und kritisch hinterfragt.
Was ist heute links?
Eine wesentliche Bestimmung einer heutigen Linken ist die Abkehr von zwei tragenden Säulen der Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, nämlich von „Arbeit“ und „Staat“. Beide taugen auch nicht ansatzweise zur Umwerfung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist” (Marx). „Arbeit“ nicht, da sie – auch in der neoliberalen Form – das wesentliche Vergesellschaftungsmittel der kapitalistischen Herrschaft ist, und der „Staat“ noch weniger – als politischer Garant ebenjener. Der Hinweis auf die Geschichte der fehlgeschlagenen Emanzipationsversuche des 20. Jahrhunderts mag an dieser Stelle genügen. Ohne die enorme gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit und Staat einfach wegzudiskutieren (wie dies im Anarchismus gerne geschieht), gilt es weniger, diese „abzuschaffen“ (eines jener Lieblingsworte vieler Linker von denen niemand weiß, was das bedeutet), sondern vielmehr jene Bewegungen, Initiativen und Projekte miteinander in Beziehung zu setzen, die bereits im Hier und Jetzt über die herrschaftliche Vergesellschaftung durch Arbeit und Staat hinausweisen bzw. versuchen, sich dem Sog ihrer Herrschaft zu entziehen.
Bezüglich „Arbeit“ wäre – vor dem Hintergrund der postfordistischen Transformation eben jener – ein dreiteiliger politischer Zugang sinnvoll: a) Die Trennung von Arbeit und Einkommen (garantiertes Grundeinkommen), b) die Verknüpfung von Projekten solidarischer, d.h. nicht profit-, dafür aber gebrauchswertorientierter Ökonomie und c) eine radikale Verkürzung der (Lebens)Arbeitszeit (die der enormen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte Rechnung trägt). Die drei Punkte sind dabei nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern ergeben vielmehr erst in ihrer gemeinsamen Formulierung die Möglichkeit der Überwindung von Spaltungen zwischen Gruppen von Individuen wie z.B. „Normalbeschäftigten“, Erwerbsarbeitslosen, prekären KünstlerInnen, Scheinselbständigen und illegalisierten migrantischen ArbeiterInnen und nicht zuletzt Frauen und Männern. Eine eingehende Analyse hierzu kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, es sei aber auf das immer noch höchst aktuelle Buch von Marco Revelli, „Die gesellschaftliche Linke“, verwiesen, dem der vorliegende Text viele Ideen verdankt. In jedem Fall gilt es, sich von den Gespenstern der Vergangenheit, die in einer Veränderung der Eigentumsstruktur bereits den wesentlichen emanzipatorischen Akt sozioökonomischen Handelns gesehen haben, zu verabschieden, um Perspektiven heraus aus dem Zwang zur Arbeit (und aus den Zwängen staatlicher Armutsverwaltung) und hin zur Freiheit des Tätig-Seins entwickeln zu können. Forderungen wie „Arbeit für Alle!“ können das trotz oder vielmehr gerade wegen ihres populistischen Gehalts (zum Glück) nicht.
Weniger Staat, weniger Privat!
Hinsichtlich des „Staates“ bzw. seines Abbaus ist es ebenfalls notwendig, mit der Chimäre des Staates als Gegenpol zur kapitalistischen Ökonomie zu brechen. Gerade der im neoliberalen Kapitalismus angeblich geschwächte Staat mutiert unter dem von ihm mit geschaffenen Dogma der „Allmacht der Ökonomie“ zu einer zunehmend gewaltförmigen, mithin ganz und gar nicht schwachen Regierung seiner Untertanen. „Selbstführungstechniken“ und „Eigenverantwortung“ mögen die aktuellen ideologischen Maximen sein, denen, die sich ihnen nicht fügen wollen (bzw. können) begegnen die postmodernen Staatsapparate jedoch in einer längst überwunden geglaubten und unmittelbaren Zwangsförmigkeit. TierrechtlerInnen und Langzeitarbeitslose können ein Lied davon singen, und nicht nur sie. Dagegen wären einerseits „klassisch“ libertäre Werte wie z.B. BürgerInnenrechte zu mobilisieren (im Kampf gegen Überwachungswahn, Militarismus und Polizeirepression wäre gerade von der gerne ignorierten US-amerikanischen Linken einiges zu lernen), andererseits wird eine kommende Politik Wege und Mittel (er)finden müssen, wie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse jenseits der staatlichen Form ablaufen können, wie also eine „nichtstaatliche Öffentlichkeit“ (Paolo Virno) geschaffen werden kann, die genau jene für die nationalstaatlich-bürgerliche Variante konstitutive Trennung von „privat“ und „öffentlich“ und die dazu quer liegende, aber gleichzeitig existierende von „Staat“ und „Gesellschaft“ hinter sich lässt. Ob und wie sich derartige Bemühungen in eine transnationale (europäische?, globale??) Form bringen ließen, wäre Gegenstand nicht nur der theoretischen Debatte: Das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit, die Anerkennung der „Autonomie der Migration“ beschreibt hier den Ausgangspunkt, von dem aus auch gegen die überaus zähen und wirksamen rassistischen Ideologien angegangen werden kann. Zu wenig Globalisierung ist also unsere Ausgangsproblematik, nicht zu viel!
Die hier angerissenen Themenfelder mögen arg grundsätzlich erscheinen, ich denke aber, dass eine Linke, die aus der Defensive herauskommen will, sich den Problemen der Gegenwart grundsätzlich stellen sollte, und da helfen keine vermeintlich sicheren Gewissheiten, sondern nur selber denken – Irrwege und Fehler werden dabei ebenso unumgänglich sein wie das Hinterfragen der eigenen (organisatorischen) Identität. Der fragmentarischen Form der ins Treffen geführten Aspekte ist es bereits abzulesen: Der vorliegende Text versteht sich als Gedankenanstoß und nicht als Antwort auf jene Fragen, die doch erst Gegenstand einer möglichen Diskussion sein sollen. Es ist jedenfalls an der Zeit, eine solche zu beginnen, denn wer weiß, wie lange uns bis zum Zerbrechen der nächsten Regierung noch bleibt. Möge es nicht allzu lange sein.
Martin Birkner ist tätig als Theoretiker, ITArbeiter und Mitherausgeber der grundrisse. Zeitschrift für linke theorie & debatteund lebt in Wien