Ökonomische Verarmung und Verarmung der Subjektivität
Parallel zur ökonomischen Verarmung produziert der Liberalismus eine Verarmung der Subjektivität. Betrifft die ökonomische Verarmung die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise, indem sie stark ausgeprägte Hierarchien und Polaritäten bezüglich Einkommen, Status etc. erzeugt, so funktioniert die subjektive Verarmung horizontal, sie betrifft die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit.
Parallel zur ökonomischen Verarmung produziert der Liberalismus eine Verarmung der Subjektivität. Betrifft die ökonomische Verarmung die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise, indem sie stark ausgeprägte Hierarchien und Polaritäten bezüglich Einkommen, Status etc. erzeugt, so funktioniert die subjektive Verarmung horizontal, sie betrifft die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit. In den Sicherheitsgesellschaften leben Reiche und Arme in „ein und derselben Welt“, in dem Sinne, dass sie denselben Semiotiken der Information, der Werbung, des Fernsehens, der Kunst und Kultur ausgesetzt sind. Die Produktion dieser allseits geteilten semiotischen Welt bildet in unseren Gesellschaften ein spezifisches Element der Regierung.
Kunst und Kultur als Techniken der Regierung von Subjektivität
Kunst und Kultur sind ein gutes Beispiel dafür, wie die neoliberalen Regierungstechniken funktionieren: einerseits durch ökonomische Verarmungspolitiken, die die Bedingungen der Beschäftigung, Arbeit und Arbeitslosigkeit von KünstlerInnen und TechnikerInnen betreffen; sowie andererseits durch Kulturpolitiken, die eine Verarmung der Subjektivität – der KünstlerInnen und TechnikerInnen wie auch der Öffentlichkeiten – betreiben, indem sie Professionalisierungsprogramme installieren und künstlerische Exzellenzbereiche konstruieren. Ich beziehe mich im Weiteren auf das französische Beispiel der Intermittents du spectacle, das ich am besten kenne.
Die ökonomische Verarmung der KünstlerInnen und TechnikerInnen erfolgt hier durch einen Umbau ihrer Arbeitslosenversicherung, die angesichts der Unsicherheiten und Wechselfälle des kulturellen Arbeitsmarkts mit seinen denkbar ausgeprägten Ungleichheiten eine gewisse Stabilität und Sicherheit gewährleistete. Die „Reform“ der Arbeitslosenversicherung der Intermittents du spectacle zielte nicht nur darauf ab, eine große Anzahl von KünstlerInnen und TechnikerInnen (30.000) von den Entschädigungsleistungen auszuschließen; sie zielte auch auf die Erzeugung von Unsicherheit und Instabilität, um den Wettbewerb aller gegen alle zu verschärfen und eine prekarisierte, flexible und der Content-Produktion der Kulturindustrie unterworfene Lohnarbeiterschaft hervorzubringen.
Die Regeländerungen bezweckten eine Umwandlung der KünstlerInnen und TechnikerInnen in „Humankapital“, in SelbstunternehmerInnen; Arbeitslosengeld, Ansprüche auf Krankenversicherung, Rente etc. sollten von ihnen nicht länger als soziale Rechte betrachtet werden, sondern als individuelle Investition, die es auf dem Markt und durch den Markt zu optimieren gilt. Das Modell, in das die KünstlerInnen und TechnikerInnen gedrängt werden sollten, ist das – außerhalb Frankreichs sehr verbreitete – Modell der Selbständigen und der Freelancer.
Die subjektive Verarmung der KünstlerInnen und Öffentlichkeiten wiederum vollzieht sich über die Politiken der Massenkulturindustrie, welche die im 20. Jahrhundert artikulierte, von Marcel Duchamp auf die Spitze getriebene Kritik der Trennung zwischen KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen sozusagen in Richtung Markt „umleiten“ – während die Kulturpolitiken des Kulturministeriums genau dieselbe Unterscheidung aufs Neue in Kraft zu setzen versuchen.
Im Zuge des Intermittents-Konflikts wurde es klar ausgesprochen: Das Modell, an das sich die kulturelle und künstlerische Produktion anzupassen habe, sei jenes der Rentabilität und Produktivität des Fernsehens. Fernsehen, Werbung, Marketing konfrontieren uns mit der vollendetsten Banalisierung und Herabwürdigung der Demokratisierung, die durch die modernen und zeitgenössischen künstlerischen Techniken bewirkt wurde. Die Gleichheit von wem auch immer mit wem auch immer, die Gleichheit von was auch immer mit was auch immer, die das subversive Programm der Gegenwartskunst bildeten – sie finden sich durch Fernsehen, Marketing und Werbung in eine Übersetzbarkeit und warenförmige Austauschbarkeit aller Differenzen, Semiotiken, Subjektivitätsformen nach dem „Anything goes“-Prinzip transformiert.
Die Kulturpolitiken zielen demgegenüber auf die Wiederherstellung der Evaluationskriterien (wer ist KünstlerIn, was ist Kunst?) ab, die dem Staat und den Kulturinstitutionen im 20. Jahrhundert entglitten sind, sowie auf eine Professionalisierung von KünstlerInnen und TechnikerInnen über Diplome und Selektionen. Im Januar 2009 kündigte Nicolas Sarkozy die Schaffung eines „Rates für künstlerisches Schaffen“ an, mit ihm selbst und der Kulturministerin Christine Albanel als Vorsitzende und unter der Leitung des Kinoproduzenten Marin Karmitz. Der Aufgabenkatalog dieses Rates sieht insbesondere vor, „die Unterstützungsleistungen wieder auf die künstlerische Exzellenz auszurichten“ und somit Ordnung in die „Anhäufung von Subventionen“ zu bringen. Einen Tag nach der Ankündigung Sarkozys bekannte sich Marin Karmitz in einem Interview zur Notwendigkeit, wieder eine Staatskultur aufzubauen. Der Staat solle die Evaluationskriterien wiederherstellen, die den guten Künstler vom schlechten Künstler trennen.
Die „ästhetischen“ Politiken der Exzellenz gehen mit einer Wirtschaftspolitik einher, die die wachsende Zahl von in den Arbeitsmarkt eintretenden KünstlerInnen aufteilt in eine gute bezahlte „Elite“, die über gute Beschäftigungsbedingungen und eine gute Arbeitslosenabsicherung verfügt, und eine Masse von hochgradig prekarisierten KünstlerInnen. Ästhetische und ökonomische Exzellenz wirken zusammen.
Die gleiche Art von Restrukturierungsprozessen entwickelt sich in Frankreich auch in der Forschung und an den Universitäten: Reduzierung der Posten, Einführung des Wettbewerbs zwischen ForscherInnen wie auch zwischen Universitäten sowie erneute Übernahme der institutionellen Kontrolle über die Evaluation und Leistungsbemessung mit Blick auf den Aufbau von wissenschaftlichen Exzellenzbereichen. 2008 hat sich eine große Streikbewegung der Lehrenden und ForscherInnen gegen den politischen Willen der Regierung formiert, die Forschung nach Art eines ökonomischen Motors und unter Einsatz von Managementtechniken und Leistungsindikatoren zu lenken, die von der Unternehmenswelt auf jene der Labore und Universitäten übertragen werden. Die französische Regierung tut dabei nichts anderes, als die Lissabon-Strategie auf den Buchstaben genau umzusetzen.
Die Europäische Kommission betrachtet die Forschung als einen Ort der Produktion von patentierbaren Innovationen und geistigem Eigentum: Das „eigentliche Ziel der öffentlichen Forschung beschränkt sich nicht mehr auf die Produktion wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern umfasst heute auch die Förderung der konkreten Verwertung der Forschungsergebnisse. Aber diese Verwertung hat in einer Marktwirtschaft zwangsläufig eine wirtschaftliche Dimension“[1]. So wie im Kulturbereich die Anpassung an die ökonomische Logik der Kulturindustrien nach einer Verwandlung von KünstlerInnen und TechnikerInnen in SelbstunternehmerInnen verlangt, so begegnen wir auch in der Forschung einer neuen Figur, nämlich jener der „Forscher-Unternehmer“[2].
Die Zerstörung der Zeit
Die ökonomischen und kulturellen Strategien, die die Welt von Kultur und Kunst durchdringen, laufen in ein und derselben Zielsetzung zusammen, die in allen anderen Wirtschaftsbereichen wiederzufinden ist: der Kontrolle der Zeit. Die Zeit vereinheitlichen und homogenisieren, um die Subjektivität zu vereinheitlichen und zu homogenisieren. Die Verarmung der Subjektivität ist zuallererst eine Verarmung der Zeit, eine Neutralisierung der Zeit als Quelle der Veränderung, der Metamorphose, der Erschaffung von Möglichkeiten. Der Konflikt der Intermittents ist in dieser Hinsicht beispielhaft.
Im Zuge der Forschungsarbeit, die wir in den Jahren 2004/2005 über die Arbeits-, Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsverhältnisse der Intermittents durchgeführt haben, sagte uns ein Musiker, dass sich der Konflikt um die Arbeitslosenversicherung der Intermittents seiner Ansicht nach um die Zeit drehe. Seine Ausführungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Die Arbeitslosenversicherung gibt uns keine Ausgleichszahlungen, sie gibt uns Zeit.“ Was sich hierin ausdrückt, ist die Umkehrung der kapitalistischen Formel „Zeit ist Geld“ in die Formel „Geld ist Zeit“; ganz im Sinne von Duchamps Aussage: „Mein Kapital, das ist die Zeit, nicht das Geld.“
Um etwas herzustellen, sei es ein Theaterstück, ein Film, eine Lebensform oder eine politische Handlung, brauchen wir „Zeit“ als grundlegenden Rohstoff. Die unausgefüllten Zeiten, die Zeiten der Unterbrechung und des Bruchs, die unverzweckten Zeiten und die Zeiten des Zögerns, die jeglicher Art von künstlerischer, sozialer oder politischer Produktion zugrunde liegen, sind genau die Zeiten, die durch die neoliberalen Politiken neutralisiert werden. Die einzige Zeitlichkeit, die diese Politiken kennen und anerkennen, ist jene der Beschäftigung bzw. der Suche nach Beschäftigung.
Die Frage der Zeit stellt einen wichtigen Teil der Beunruhigung der Intermittents dar. Denn die Regeländerung bezüglich der Entschädigungsleistungen, die sie dazu drängt, „die ganze Zeit zu arbeiten“, und zwar im Übrigen ohne dass Stellen verfügbar wären (so wenig wie im Rest des Wirtschaftslebens), bringt als erste Konsequenz den Umstand mit sich, dass man „keine Zeit mehr hat“. Dieser Mangel an Zeit, der durch die Notwendigkeit erzeugt wird, sie in die Beschäftigung zu investieren, bedeutet – ganz im Gegensatz zur berühmten Devise des Präsidenten der französischen Republik: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ – zugleich eine ökonomische und eine subjektive Verarmung, die der künstlerischen Praxis ihre Bedingungen auferlegt und sich in ihrer Vereinheitlichung und Homogenisierung ausdrückt.
Die Kulturpolitiken zielen auf eine Normalisierung der Zeit der künstlerischen Produktion ab (Professionalisierung der Sparten und der Produktion), während die Sozialpolitiken eine Normalisierung der Zeit der „Arbeitslosigkeit“ bezwecken, indem sie diese ausschließlich auf die Arbeitssuche oder die Weiterbildung im Hinblick auf eine eventuelle Beschäftigung reduzieren. Was die Logik des neoliberalen Kapitalismus „tote Zeiten“ nennt, sind in Wirklichkeit „lebendige Zeiten“, Zeiten der Kreation von etwas, das neu ist.
Diese Zeitkonzeption bildet einen Hauptwiderspruch des so genannten kognitiven Kapitalismus, des kulturellen Kapitalismus, der Kreativindustrien bzw. der sogenannten Wissensgesellschaft, zumal deren Betrachtung der „unverzweckten Zeiten“ als „tote Zeiten“ eben das eliminiert, was doch die Quelle ihres Werts sein sollte: die Kreation. Die Jagd auf all diese „toten Zeiten“, Zeiten der Unterbrechung, unausgefüllte Zeiten und Zeiten des Zögerns, bringt es mit sich, dass „man niemals in der Gegenwart ist“, nämlich jener der Kreation, dass man also niemals in der Zeit ist, in der etwas entstehen könnte und in der sich etwas tun ließe, sondern in einer leeren Gegenwart, die endlos das Gleiche wiederholt.
Der kognitive Kapitalismus und die Kreativindustrien sind buchstäblich Systeme einer „Antiproduktion“, und die gegenwärtige Krise ist die eklatanteste Demonstration ihrer destruktiven Macht.
1 Europäische Kommission (2002): Auf dem Weg zu einem Markt des Wissens, RDT Info, Nr. 34, Juli 2002, S. 16.
2 Europäische Kommission (2006): Die Stunde der Forscher-Unternehmer, RDT Info, Nr. 35, Oktober 2006, S. 6.
ANMERKUNG
Der vorliegende Text ist die gekürzte Version eines Textes, den Maurizio Lazzarato im März 2009 auf dem Ö1-Symposium Creative Cities – Das Versprechen der kreativen Ökonomie vorgetragen hat. Der vollständige Text findet sich online hier
Übersetzung aus dem Französischen: Stefan Nowotny
Maurizio Lazzarato ist Soziologe und Philosoph und lebt in Paris.