Paternalismus und Ökonomisierung. Das Linzer Lentos unter Beschuss neoliberal-sozialdemokratischer Kulturpolitik
Lentos-Direktorin Rollig ist überzeugt, dass "Kunst ein Instrument ist, um die Welt und die Bedingungen des Lebens besser verstehen zu können". Diese Überzeugung spiegelt sich beispielsweise in Begriffen wie "Spurensuche", "Reflexion" bzw. "Selbstreflexion", "Milieustudien", und findet sich im Programm des Lentos auf vielen Ebenen wieder.
Anders als bei den auch international kritisierten Ereignissen rund um die Neubesetzung der künstlerischen Leitung des AEC wurde das Linzer Kunstmuseum Lentos im vergangenen Jahr qualifiziert neu besetzt: Anfang 2004 übernahm Stella Rollig das Haus mit der transparenten und zugleich dominanten Architektur an der Donau, das ein Jahr zuvor eröffnet worden war. Die frühere Bundeskunstkuratorin, international renommierte Kunstkritikerin und Depot-Gründerin ging die Sache durchaus behutsam an, mit einem diversifizierten Angebot an das Stammpublikum der früheren "Neuen Galerie" unter dem vorherigen Direktor Peter Baum, aber auch mit neuen Positionierungen. Statt die in der zeitgenössischen Museumslandschaft üblichen Spektakel- und Erlebnisstrategien zu etablieren, arbeitete Stella Rollig an einer langsamen Einführung von progressiven künstlerischen Positionen sowie an der Produktion spezifischer Publika im landeshauptstädtischen Umfeld, dem ohnehin zu oft und zu vorschnell der Stempel der Provinz aufgedrückt und damit sicherheitshalber gleich nur Massenware vorgesetzt wird.
Bei aller Behutsamkeit lässt ein Blick in die alten bzw. neuen Ausstellungsprogramme dennoch sofort erkennen, dass diese von zwei völlig verschiedenen Herangehensweisen an Kunst, KünstlerInnen und Museen getragen sind. In der Ära von Direktor Baum bestand das Vokabular vorrangig aus Konstruktionen wie "spezifische Farbigkeit", "gestalterischer Reichtum", "lyrisch expressive Malerei" und "bildnerische Fabulierlust": der Künstler (die Künstlerin spielte unter Ex-Direktor Baum lediglich eine marginale Rolle) als Schöpfer-Genie, zu dem wir in stummem Staunen aufschauen dürfen; die Kunst als Ort, wo nicht Kopflastigkeit regiert, sondern Schönheit; das Museum als geheiligte Halle außerhalb der Welt, unberührt von ihrem Schmutz und Lärm.
Demgegenüber ist Direktorin Rollig überzeugt, dass "Kunst ein Instrument ist, um die Welt und die Bedingungen des Lebens besser verstehen zu können". Diese Überzeugung spiegelt sich beispielsweise in Begriffen wie "Spurensuche", "Reflexion" bzw. "Selbstreflexion", "Milieustudien", und findet sich im Programm des Lentos auf vielen Ebenen wieder. In "Live Sentence" von Darren Almond etwa, der ersten Ausstellung im neuen Programm, wurden unter anderem durch eine audio-visuelle Live-Schaltung Bilder aus der unweit gelegenen Linzer Justizanstalt in die weitgehend leeren Ausstellungsräume übertragen (Aileen Derrieg berichtete darüber in Kulturrisse 03/04).
Die Ausstellung "Paula's Home" zeigte erstmals die Künstlerinnen aus der Sammlung des Lentos im Überblick – Stella Rollig reagierte damit auf die Tatsache, dass bei ihrem Vorgänger die Sammlungs- und Ausstellungsaktivitäten auffallend männlich dominiert waren. Auch seine Werbekampagne zur Eröffnung des Lentos zitierte nur die männlichen Künstler aus der Sammlung. Die Slogans lauteten "Andy's Home", "Gustav's Home", "Egon's Home". Fiftitu%, die Vernetzungsstelle für Frauen in Kunst und Kultur in Oberösterreich, kommentierte diese Ignoranz mit einer Gegenkampagne und dem Sujet "Olga's Home". Ein Jahr später richtete Stella Rollig für Paula Modersohn-Becker und ihre Kolleginnen ein "Heim" im Lentos ein.
Einen weiteren Höhepunkt in der Ausstellungspolitik der Lentos-Direktorin stellte die Ausstellung "Just do it" dar, die Anfang dieses Jahres versuchte, den komplexen Mechanismus der Aneignung und Wiederaneignung adäquat zu thematisieren, wie er zwischen emanzipativ ausgerichteten Neucodierungen von Zeichen und der Instrumentalisierung von Culture-Jamming-Techniken im konsumorientierten Differenz-Marketing changiert. Culture Jamming, jene ästhetische Strategie des zivilen Ungehorsams, die in den letzten Jahren nicht nur in Pop und Kunst, sondern auch im politischen Aktivismus verstärkt zum Einsatz kommt, wurde in "Just do it" in allen möglichen Spielarten visuell präsentiert. Daneben intensivierte das Programm durch ein Symposium und eine Buchveröffentlichung auch den Diskurs über Kommunikationsguerilla und subversive Zeichenproduktion.
Ergänzt und abgerundet werden diese Diskurs- und Repräsentationsformate im Lentos durch Film- und Musikprogramme sowie durch so genannte "Frühstücks-Gespräche" zwischen internationalen MuseumsleiterInnen und der Lentos-Direktorin, in der Perspektiven und Funktionen des zeitgenössischen Museums erörtert werden. Bei diesen sonntäglichen Veranstaltungen für die breitere, am Museum interessierte Linzer Öffentlichkeit stehen Fragen zu Ausrichtung und Publikum von Museen sowie zum schwierigen Verhältnis zwischen der Präsentation historischer und jener zeitgenössischer Kunstpositionen im Mittelpunkt.
Nun – kaum mehr als ein Jahr nach dem Antritt von Stella Rollig – regt sich Brachialkritik in Politik und Medien. Und diese entzündet sich am kalten Charme der Zahlen: Nach einem BesucherInnen-Ansturm bei der Eröffnung, den noch Alt-Direktor Baum auf sein Konto schreiben durfte und der hauptsächlich auf den Hype des Neuen, vor allem der neuen Architektur, zurückzuführen sein dürfte, gibt es nun ein Abflauen der BesucherInnenzahlen. Ein relativ normaler Vorgang, der nicht nur auf die vorläufige Befriedigung der Linzerischen Neugier zurückzuführen ist, was denn da hinter den Wänden des gläsernen Kolosses liegt.
Stella Rollig hat in ihrem Konzept, auf dessen Grundlage sie als Lentos-Direktorin bestellt wurde, angekündigt, dass sie das Lentos "regional wie international als Ort der aktiven Zeitgenossenschaft positionieren" möchte. Die Neupositionierung eines Museums durch eine neue Direktorin zieht sich – an internationalen Beispielen gemessen – über mehrere Jahre; insbesondere nach der lähmenden Ära des alten Direktors, der – wie Rainer Zendron, Vizerektor der Kunstuniversität Linz, im Standard-Kommentar der Anderen konstatiert – die "Konfrontation mit gegenwärtiger Kunstproduktion" ebenso vernachlässigte wie "eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit der Vergangenheit" und die "Neue Galerie", die Vorgängerinstitution des Lentos, "künstlerisch heruntergewirtschaftet" hat. Vor allem in Bezug auf die überregionale Wirkung des Museums hat sich mit der neuen Führung sehr schnell eine positive Wende ergeben. Die nationale und internationale mediale Aufmerksamkeit, die das Lentos und seine Aktivitäten innerhalb des letzten Jahres erreicht haben, belegen, dass Stella Rollig und ihr Team auf dem richtigen Weg sind.
Der Linzer Bürgermeister Dobusch (SP) scheint das jedoch nicht verstanden zu haben. Wenn doch, dürften ihm die Vorzüge populistisch-provinzieller Rhetorik einfach wichtiger sein als die Würdigung einer erfolgreichen Museumspolitik. Von Dobusch waren nämlich im Mai anstelle von Glückwünschen für den zweiten Geburtstag des Lentos über die Medien vermittelte Tiraden über die Amtsführung Stella Rolligs und die Programmatik des Museums zu hören: "Der Hauptgrund ist aber, dass es an Zugpferden fehlt. Wir brauchen endlich Ausstellungen, die die Massen ins Lentos holen."
Völlig demoralisierend und deprimierend nicht nur für Stella Rollig und das Lentos, sondern für das gesamte kulturelle Feld, dass vor allem sozialdemokratische Kulturpolitik – ohne sich im mindesten auf irgendwelche künstlerische Qualitätsfragen oder demokratiepolitischen Aspekte der Kulturpolitik einzulassen – sich nur mehr an Quantitäten orientiert. In einer völlig pervertierten Form kommt das emanzipatorische kulturpolitische Credo der Sozialdemokratie aus den 1970ern, "Kunst für alle", nun mit einem neoliberalen Unterton wieder zurück. Nur mehr zynisch kann hier der Hinweis des Bürgermeisters darauf aufgenommen werden, dass mitnichten erhöhte städtische Dotierung für Kunstvermittlung die Erschließung neuer Öffentlichkeiten ermöglichen soll, sondern dass künstlerische "Zugpferde" – wer auch immer das sein mag – mit "einer verstärkten Tätigkeit im Bereich Sponsoring" erwirtschaftet werden sollten.
Merkwürdig jedoch auch, dass nicht nur populistische Politiker, sondern auch halbwegs liberale Medien dieses Spiel mitspielen: Neben Standard-Autor Markus Rohrhofer, der dem Bürgermeister Plattform für seinen antikulturpolitischen Auftritt bot, war auch in den Oberösterreichischen Nachrichten keine seriöse Auseinandersetzung über die ausstellungspolitische Ausrichtung des Lentos zu lesen. Vielmehr ging es hier gleich in medias res der Personalpolitik: Rolligs Zukunft würde "ab Herbst auf dem Spiel stehen". Im Vergleich etwa zu den Vorfällen um das kunsthistorische Museum in Wien und dessen Direktor Seipel kann diese Medienhetze wohl nur so interpretiert werden, dass es hier um die genderspezifische Besonderheit einer Frau auf einem Managementposten in der österreichischen Museumslandschaft geht. Zum Aspekt der expliziten Forderung nach Ökonomisierung und Spektakularisierung kommt hier also ein implizit paternalistischer Aspekt hinzu, der in seiner Perfidität sämtliche gesetzlichen Grundlagen der Gleichstellung unterläuft. Klar, dass solche Strategien nicht direkt ausgetragen werden, sondern die Drohung des Bürgermeisters über die Medien vermittelt ihre diffamierende Wirkung verdoppeln soll.
Paternalismus und Ökonomisierung geben also auch in Linz ein gutes Paar ab, das uns in Bezug auf kulturpolitische Fragen wieder hinter die Erkenntnisse der Sozialdemokratie der 1970er Jahre versetzen will. Konsequent weitergedacht wäre die Reduzierung der Kulturpolitik auf Förderung von und medialer Forderung nach großen Namen im Gegensatz zum wissenschaftlichen und Bildungsauftrag von Museen eine Politik der bewussten Verdummung. Ein Vollzug der Bürgermeister-Forderungen würde bedeuten, das Lentos-Publikum nicht nur als Spektakelpublikum zu denunzieren, sondern auch bei der Konstruktion eines solchen – von Konsumhaltung geprägten – passiven Publikums aktiv beizutragen. Das hieße auch, Linz als Provinz zu konstruieren, als unfähig, sich einer zeitgemäßen Form von pluralen Öffentlichkeiten und aktiven Publika zu stellen.
Die Orientierung des Bürgermeisters an "Zugpferden" und anderen quantitativen Aspekten lässt auch im Hinblick auf die Kulturhauptstadt 2009 nicht unbedingt große Hoffnung aufkeimen. Im Gegenteil: So verstanden klingt das erste Kapitel des Bewerbungspapiers für 2009 "Linz – Labor der Zukunft" regelrecht als Drohung. Gute Nacht, Kulturhauptstadt.
Zitierte Artikel
Bernhard Lichtenberger, Lentos verliert Besucher. Rettet Helnwein Rollig?, OÖN vom 19.05.2005
Markus Rohrhofer, Dobusch: "Lentos braucht Zugpferde", DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.5.2005
Rainer Zendron, Wichtig ist, was die Massen sehen werden. Entbehrliche Zurufe aus dem Off: Zur anhaltenden Kritik am Linzer Kunstmuseum Lentos, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9.6.2005
Andrea Hummer ist Co-Direktorin des European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp) und Mitglied des Linzer Stadtkulturbeirats. Gerald Raunig ist Co-Direktor des eipcp, lebt in Wien.