Re-Konkretisierung der Vergangenheit.
Die Debatte um NS-Herrschaft, Terror und Barbarei ist im globalen Zeitalter angelangt. Eine Nationen übergreifende Gedächtniskultur wird heute weitgehend als Grundlage einer weltweit verbindlichen Menschenrechtspolitik betrachtet.
Die Debatte um NS-Herrschaft, Terror und Barbarei ist im globalen Zeitalter angelangt. Eine Nationen übergreifende Gedächtniskultur wird heute weitgehend als Grundlage einer weltweit verbindlichen Menschenrechtspolitik betrachtet. Entortung und Überschreitung von Grenzen kennzeichnen auch die Forderung nach einem „Kosmopolitismus der Erinnerung“, der sich mit seiner traumatischen Holocausterfahrung keineswegs auf Europa beschränke. Der diesbezügliche Diskurs ist in kultur- und geschichtswissenschaftlichen Fachpublikationen bereits zahlreich nachzulesen, Funk und Fernsehen berichten in aufwändig gestalteten Beiträgen davon und auch spezialisierte Informationsplattformen im Internet sind grundsätzlich verfügbar. Wie ist aber nun zu erklären, dass sich dennoch vielerorts Leerstellen auftun? Ein Nicht-Erinnern, eine Nicht-Beachtung dessen, was nicht zuletzt der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan in einer Sondersitzung der Vereinten Nationen am 24. Jänner 2005 bekräftigt hat: Die Verbrechen der Nazis seien „nichts, das wir einer fernen Vergangenheit zuschreiben dürfen, um es zu vergessen“.
Bestandsaufnahme Österreich: Hier herrscht seit 1945 – in Anlehnung an den Roman „Fasching“ von Gerhard Fritsch – ein ewig gestriges Fastnachtstreiben, das ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten in die Gesellschaft der Zweiten Republik integriert hat, was wiederum besser verstehen lässt, dass mehr als sechs Jahrzehnte später mutmaßliche Wehrsport-Aktivitäten des heutigen FPÖ-Obmanns Heinz Christian Strache als „Jugendtorheiten“ verharmlost werden. Noch unmittelbar nach Kriegsende herrschte ein antifaschistischer Konsens unter den Parteien, der jedoch mit dem beginnenden Kalten Krieg noch Ende der 1940er Jahre zerbrach und einer stillen großkoalitionären Übereinkunft wich, den militärischen Konflikt des Februars 1934 und damit die Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie zu tabuisieren. Ihren Niederschlag fand diese Zäsur nicht nur in einer immer milder werdenden Rechtssprechung in NS-Prozessen, die in den 1950ern und 1960ern häufig mit Freisprüchen endeten, sondern auch in einer sukzessiven Amnestie-Gesetzgebung. Diese Grundhaltung machte sich letztlich in der Erinnerungspolitik und Denkmallandschaft bemerkbar.
Erinnerungsmanagement ohne Erinnerung
Zentrale Denkmalprojekte zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus waren in diesem vom Kalten Krieg und Antikommunismus geprägten Klima zum Scheitern verurteilt. Während etwa der Widerstand zunehmend delegitimiert wurde, fanden deutschnationale und neonazistische Gruppen, die zum Großteil im Rahmen des Gefallenengedenkens und bei Veranstaltungen des Österreichischen Kameradschaftsbunds auftraten, verstärkt Gehör. Abgesehen von einzelnen Aktivitäten gegen das revisionistische Klima (z.B. Gründung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands 1963, Anbringen einer Gedenktafel zu Ehren der Opfer des Freiheitskampfs 1958), denen allen eine österreichisch-patriotische Erzählung zugrunde lag, änderte sich wenig an der offiziellen Gedenkpolitik: sie malte weiterhin das negative Bild der „KZler“, die Alfred Maleta in seiner Festansprache im Parlament anlässlich des 25. Jahrestags des „Anschlusses“ am 13. März 1963 mit „gewissen Kreisen“ verglich, „die Österreich nicht wohlgesonnen sind“. Sie stünden, so der damalige Nationalratspräsident, einem neuen „Staatsbewusstsein“ durch die „Beschuldigung anderer“ im Wege.
Erst mit der erhitzten Diskussion um die deutschnationalen und antisemitischen Äußerungen des Professors an der Wiener Wirtschaftsuniversität Taras Borodajkewycz schien auch die Regierung Handlungsbedarf zu erkennen. Sie beschloss am 2. März 1965, im linken Flügel des Äußeren Burgtors am Wiener Heldenplatz einen Weiheraum für die „Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit“ einzurichten. Die Eskalation der Affäre mit dem Totschlag des ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger durch einen Neonazi am 31. März 1965 verlieh der Gedenkfeier am Heldenplatz am 27. April 1965 eine neue Relevanz: Im offiziellen Gedenken nahm nun nicht nur der Widerstand wieder einen zentraleren Platz ein. Die Zweite Republik musste die Opfererzählung erstmals gegenüber deutschnationalen Umtrieben explizit abgrenzen.
Allerdings kann das Äußere Burgtor am Wiener Heldenplatz aus heutiger Perspektive als architektonisches Symbol der österreichischen Opfererzählung betrachtet werden: Auf der einen Seite werden die Toten des österreichischen Widerstandskampfes – dies allerdings auch nur unter dem Begriff „Freiheitskampf“, der etwa den Beitrag der Partisaninnen und Partisanen nicht inkludiert –, auf der anderen Seite die gefallenen Soldaten beider Weltkriege geehrt. Ähnlich verhält es sich mit offiziellen Gedenkfeiern, die das Gedenken an die militärischen und zivilen Opfer des Kriegs gleichwertig betonen.
Wie wenig sich diese Praxis geändert hat, zeigte 2005 das so genannte „Gedankenjahr“: die enge Verbindung der Opfer von Widerstand und Verfolgung mit den militärischen und zivilen Opfern des Krieges wurde ins 21. Jahrhundert „hinüber gerettet“. Ausschlag gebend für die Integration in die österreichische Gesellschaft – oder in den von Andreas Khol gespannten „Verfassungsbogen“ – bleibt nach wie vor das Bekenntnis zu Österreich, egal ob nach 1934, 1938, 1945 oder 1955. Erinnerungspolitische Großprojekte wie der Ausbau der Gedenkstätte Mauthausen oder die unter der ÖVP-FPÖ-Regierung in Angriff genommene Entschädigungs- und Restitutionspolitik erschienen im Jubellicht von 2005 wie Alibi-Handlungen und nicht wie eine fundierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Philosophen Joachim Landkammer, Walther Ch. Zimmerli sowie der Politikwissenschafter Thomas Noetzel bezeichnen diese Organisationsform des Erinnerns in ihrem gleich lautenden Buch hämisch als „Erinnerungsmanagement“, weil ihre Taktik eigentlich die Vermeidung von Erinnerung bezweckt.
Wie konnte es zu den beispiellosen Verbrechen der NS-Herrschaft kommen? Wie ist mit den Folgen umzugehen? Wer waren die Täterinnen und Täter, wer wusste davon und wer waren die Opfer? Wie lässt sich derartiges für die Zukunft vermeiden? Auf Fragen wie diese wurden in Österreich einerseits bisher nur unbefriedigende Antworten gefunden, andererseits wurde einer Auseinandersetzung oftmals einfach aus dem Weg gegangen. „Erinnerungsmanagement“ befördert vor allem das „Vergessen“. Mit dem „Aussterben“ der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen droht nun auch der Verlust des lebendigen Wissens um den Holocaust. Das Faktum des nahenden Endes einer mündlichen Überlieferung hat immer wieder Projekte hervor gebracht, die sich der Spurensicherung und der Aufklärung über die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie verpflichtet haben. Tatsächlich erfordert Gedenken eine individuelle kognitive und emotionale Erinnerungsleistung. Die Zukunft der historischen Erinnerung hängt von ihrer Fähigkeit ab, sich stets zu erneuern und Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen. Denkmäler und Gedächtnisorte bieten Möglichkeiten zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Sie schaffen vielfältige Perspektiven, suchen die Kontroverse und verstehen sich als Einschreibungen in den öffentlichen Raum.
Die Geschichtswissenschaften sorgen für die Rekonstruktion der Vergangenheit. Zusätzlich bedarf es aber immer wieder der Re-Konkretisierung, die nicht zuletzt in künstlerischen Werken sowie durch kulturelle und multimediale Vermittlungsformen ihren Ausdruck finden können. Darin liegt auch die Herausforderung: Historische Erinnerung darf nicht an Spezialistinnen und Spezialisten ausgelagert werden, sondern ist an individuelle Alltagserfahrungen, persönliche Lebensgeschichten und authentische Orte anzuknüpfen.
Hörbare Textskulptur als Denkmal
Im oberösterreichischen Leonding befinden sich zwei Kriegerdenkmäler für die Gefallenen und Vermissten des Zweiten und auch des Ersten Weltkriegs an einem symbolträchtigen Ort: Mitten im Zentrum, am Alten Kirchenplatz, der unmittelbar in den Eingang zum Friedhof mündet, wo sich – mittlerweile als eine Pilgerstätte der Neonazis – das Grab von Hitlers Eltern befindet und in der Nähe des Wohnhauses, wo Adolf Hitler von 1898 bis 1904 lebte. Was bisher fehlt, ist eine symbolische Imagination der historischen und gesellschaftlichen Realitäten des Nationalsozialismus und seiner Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Diese hat vor allem in Oberösterreich mit dem Konzentrationslager Mauthausen und den vielen Nebenlagern sowie mit der Tötungsanstalt Hartheim nachhaltige Spuren hinterlassen. Im Gedächtnis der Stadt Leonding haben die Opfer bisher keinen Platz gefunden. Die Leidensgeschichten, der Widerstandskampf und die Warnung an die Nachgeborenen warten noch unverändert auf eine deutlich wahrnehmbare Erzählung.
Nachklang – Widerhall ist ein Denkmalprojekt, das auf Sichtbarkeit abzielt und diese um akustische Wahrnehmungszugänge erweitert. Mit einer erstaunlich breiten Unterstützung (Stadt Leonding, Zukunftsfonds Austria, Bundeskunstsektion und Land Oberösterreich) errichtet der Verein kult-ex am Alten Kirchenplatz, den die Pfarre Leonding – St. Michael zur Verfügung stellt, mit einer 3 Meter hohen Klangsäule eine künstlerisch gestaltete Installation, die sich dem flüchtigen Blick widersetzt. Gesprochene Texte von Autorinnen und Autoren, die zum Thema arbeiten, sowie von Widerstandskämpferinnen und Betroffenen, die literarisch tätig sind, bilden eine hörbare Textskulptur, die von den Gräueln und der Deportation der NS-Jahre erzählt und zugleich ermuntert, dass Widerstand und politisches Handeln in Zeiten extremer Repression notwendig und auch möglich sind.
Diese Konzeption greift Ideen der zeitgenössischen Denkmalkunst auf, die in der anti-monument movement des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Ausgang fand. Nicht die bloße Ästhetisierung des Leidens der Opfer, die seither allein schon als barbarischer Akt kritisiert wurde, steht dabei im Vordergrund. Ebenso wenig eine Stellvertretungsfunktion für die eingeforderte Erinnerungsleistung. Vielmehr geht es darum, einen allgemein zugänglichen Erinnerungsort zu schaffen, der zugleich der Illusion von Beständigkeit der Erinnerung – wie sie dem konventionellen Denkmal inhärent ist – entgehen soll. Er bietet keinen abgegrenzten Zufluchtsort, sondern wird – inmitten des „profanen“ Raums – geradezu unausweichlich. Das Risiko der Unsichtbarkeit, das bereits Robert Musil zu Beginn des 20. Jahrhunderts klar umriss, lässt sich ein bisschen minimieren. Es ist der Versuch einer zeitgemäßen Codierung von Gedächtniskultur. Damit rückt das Vorhaben dem Anspruch nach „Kosmopolitismus der Erinnerung“ schon ein Stück näher.
Anmerkungen
Nähere Informationen:
Nachklang-Widerhall
Eröffnung: Freitag, 11. Mai 2007, 14 Uhr 30, Leonding/OÖ
Zeitgleich mit der Eröffnung wird eine Doppel-CD mit den Beiträgen der Autorinnen und Autoren erscheinen, auf der Projektwebsite werden die Texte hör- und nachlesbar sein.
Katharina Wegan ist Historikerin und Kulturwissenschafterin.
Martin Wassermair ist Historiker und Vorstandsmitglied des Kulturrat Österreich
Wassermair