Selbstorganisation und Selbsthistorisierung
Die Strategien der Sinti, Roma und Jenischen im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft.
Was nicht schriftlich festgehalten wird, gilt als nicht historisch verbürgt. Oder umgekehrt: Schriftliche Quellen gelten als gesichert. Wissen und Geschichte, die nicht auf Schriftlichkeit basieren, haben es ungleich schwerer, wahrgenommen zu werden: Sie werden häufig in den Bereich des Spekulativen, Unbekannten, Fremden verschoben. Dies gilt vor allem für jene sozialen Gruppen und Gesellschaften, die Wissen ausschließlich mündlich weitergegeben haben. Bei den ursprünglich fahrenden Stammesgesellschaften der Sinti, Roma und Jenischen ist Geschichte mündlich, in und durch Geschichten erhalten worden. Wissen, Fertigkeiten, Traditionen, Musik etc. werden vor allem an Gruppenmitglieder weitergegeben. Wissen um die Kultur und Geschichte im Gedächtnis zu tragen, ist ein zentrales Element der oralen Tradition – und diese spielt noch immer eine tragende Rolle in der Alltagskultur der Sinti, Roma, Jenischen.
Seit den ersten schriftlichen Quellen über diese Fahrenden – ab ca. 1418 – und bis zum Auftauchen der ersten eingetragenen Vereine von Sinti, Roma, Jenischen ab Mitte der 1970er-Jahre – über 500 Jahre lang – erstreckt sich eine lange Zeit, in der ihre Selbstorganisation nicht dokumentiert ist. Eine Schlussfolgerung wäre, dass diese sozialen Gruppen vollkommen unorganisiert waren. Immerhin galten sie als „Zigeuner“ und „Landfahrer“. Im Mittelalter wurden sie als „vogelfrei“, als Ketzer_innen, als Hexer und Hexen gesehen. Später galt ihre Lebensform als provokant antibürgerlich, als „asozial“, und ihre Strategien für die Begegnungen mit feindlichen Behörden wurden als eine ganz eigene Gleichgültigkeit gegenüber allen bürokratischen Vorschriften verstanden.
Unorganisiert waren sie trotz dieser Stereotype nicht. Sie hätten sonst durch all diese Jahrhunderte hindurch nicht überlebt: Denn in diesem Zeitraum fanden Revolutionen statt, Nationalstaaten wurden blutigst gebildet, die bürokratische Kontrolle wurde mehr und mehr ausgebaut, der Begriff „Heimat“ gewann an Bedeutung, und einige Kriege, darunter zwei Weltkriege, wurden geführt. Die wichtigste soziale und kulturelle Instanz der Sinti, Roma und Jenischen in diesen bewegten bzw. bedrohlichen Zeiten war die Großfamilie, in der die Autorität bei alten Männern und Frauen lag. Alles, was es zu regeln galt, wurde innerhalb der Sippe geregelt.
Neben der Familie war die Kumpania eine zentrale Form der Selbstorganisation der Roma, Sinti und Jenischen. Die Kumpania ist ein zeitweiliger Zusammenschluss von Vertreter_innen, der verschiedene Familien und Sippen angehören, zu einem gemeinsamen Vorhaben. Die Inhalte der stattgefundenen Kumpanias sind nicht schriftlich festgehalten: In einer mündlichen Kultur gilt das gesprochene Wort – nicht zuletzt, weil es so nicht in falsche Hände gelangen kann. Die alte Form der Selbstorganisation wurde also nicht „buchhalterisch“ erfasst, das Wissen darüber blieb in den erzählten Geschichten aufbewahrt. Doch durch die nationalsozialistische Deportation und Ermordung ganzer Großfamilien, Sippen und Clans wurde die Kumpania ebenso wie weitere Traditionen, etwa Musik und Erzählkunst, in weiten Teilen zerstört und vernichtet.
Heute, mehr als 60 Jahre nach dem Ende der Nazi-Schreckensherrschaft, greift der Verlust der Muttersprache, der Musik, des Wissens um die Heilkunst und der Tradition des Geschichten-Erzählens weiterhin tief in den Alltag und die Lebenswirklichkeit der Sinti, Roma und Jenischen ein. Der Verlust an Menschen, Tradition, Kultur und somit Identität wirkt im Zusammenspiel mit dem später eingesetzten und bis heute andauernden Assimilationsdruck nachhaltig.
Widersprüche der Selbstorganisation
Der Prozess einer postnazistischen, europäischen Roma-Selbstorganisation hatte seinen Ausgangspunkt in Frankreich. Im Jahre 1952 gründete Ionel Rotaru in Paris das Roma-Weltkomitee (CMG), in dem, der Tradition der Kumpania entsprechend, französische Roma, Manouche und Kalé gleichermaßen vertreten waren. Der erste Welt-Roma-Kongress fand trotzdem erst 20 Jahre später, am 8. April 1971, in London statt. Im Rahmen des Kongresses einigten sich die Teilnehmer_innen auf den Überbegriff „Roma“ und legten eine gemeinsame Fahne fest.
Im Geist der Bürgerrechtsbewegungen der 1970er-Jahre bildeten die europäischen Sinti, Roma und Jenischen zahlreiche Interessengemeinschaften. Im Gegensatz zu früheren Formen der Selbstorganisation stellten sich in dieser Phase die Frage der Rechtsform und damit auch die Frage der Schriftlichkeit. Denn die bürgerliche Administration erfordert, dass alles schriftlich belegt wird. Im Rahmen dieser Bewegung wurden Vereine gegründet, Statuten ausgearbeitet und das Vereinsrecht und die Vereinspolizei, die es in Österreich tatsächlich gibt, erkundet. Auf diese Weise bedienten die neuen Vereine eine umfassende Bürokratie, um das Ziel der Selbstrepräsentation zu erreichen. Die Selbstorganisation der verschiedenen Gruppen in den 1970er-Jahren bedeutete so eine grundsätzliche Abkehr von dem Selbstverständnis der Kumpania.
Eigentlich paradox: Denn der Wandel, der der Gründung der Roma-Vereine zugrunde lag, war der Wunsch, sich selbst als Sinti, Roma, Jenische nicht (mehr) zu verleugnen, sich nicht mehr an die jeweilige Mehrheitsgesellschaft anpassen zu müssen. Gerade diese Vereine forderten von der Mehrheitsgesellschaft die Anerkennung und den Respekt gegenüber den Sinti, Roma und Jenischen. Um dies überhaupt zu fordern, mussten die Interessengruppen jedoch erst die juristischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft übernehmen.
Zusätzlich gab es auch die Herausforderung, die Geschichte und Kultur der Roma von innen her zu beschreiben und sie für die Nicht-Roma zugänglich zu machen. Dieses Zugänglich-Machen stellte für viele – und nicht nur für die traditionellen – Roma, Sinti und Jenischen ein Problem dar. Nicht nur, weil damit ein Tabubruch verbunden war. Auch wegen des fest verankerten Misstrauens und der Furcht vor dem geschriebenen Wort – zumal es als administratives Papier daherkam.
Festzuhalten bleibt, dass sich mehrheitlich konservative und patriarchale Inhalte durchsetzten. Dennoch, die Widersprüchlichkeiten blieben. Zwar haben die Roma-Vereine viel dazu beigetragen, dass die Akzeptanz der Roma in der Gesellschaft sich teilweise gebessert hat. Gleichzeitig trägt der – nennen wir ihn so – männliche Konservatismus in diesen Vereinen nach wie vor dazu bei, dass die Wahrnehmung der Roma in der Mehrheitsbevölkerung im Klischeehaften und Traditionellen verharrt.
Gemeinsame Positionen, Differenzierungen und Abgrenzungen
Die Frage der Selbstorganisation ist eng verbunden mit der Frage der Solidarität bzw. Abgrenzung. Die verschiedenen Roma-, Sinti- und Jenischen-Vereine bzw. -Interessenvertretungen sind sich über ihre gemeinsame europäische Identität einig. Diese Gemeinsamkeit hielt jedoch viele Vereine nicht davon ab, ihre Rechtsform auf nationale Zugehörigkeit aufzubauen (zum Beispiel Sinti in Deutschland). Damit grenzen sich manche Vereine etwa von den „eingewanderten“ Roma aus Südosteuropa ab. Solche Differenzierungen legen eine Reihenfolge fest und kommen nicht umhin, eine Rangordnung zu betonen. In der Fremdwahrnehmung werden diese Differenzierungen als Uneinigkeit unter den Roma, Sinti und Jenischen bzw. als Unorganisiertheit ausgelegt. Paradoxerweise wird dadurch sowohl Einigkeit wie Differenziertheit unter dem Schlagwort der „Unorganisiertheit“ subsumiert. Dadurch werden alte Vorurteile neu gewälzt.
Eine breit geteilte Position ist auch, dass ohne das Wohlwollen der Mehrheitsgesellschaft kaum etwas bewegt bzw. erreicht werden kann. Um die ohnehin nicht reichlich vorhandenen Sympathien nicht gänzlich zu verlieren, werden dann leider doch zu gerne und oft die alten Klischees von „Zigeunermusik und -romantik“ vorgeführt. Ohne „feurige“ Musik sei auch anno 2012 kaum ein Roma-Anliegen durchzubringen, meinen viele politische Roma-Vertreter_innen.
Am Beispiel der 1975 in der Schweiz gegründeten Radgenossenschaft der Landstrasse lassen sich diese Ambivalenzen gut erkennen. Dabei handelt es sich um eine neutrale, unkonfessionelle Vertretung, die sich u. a. für Gewerbefreiheit, das Recht „auf Niederlassungsfreiheit oder Arbeit und Bildung innerhalb der angestammten Lebensweise“ einsetzt. Die Radgenossenschaft der Landstrasse entstand aus dem jenischen Widerstand gegen die menschenverachtenden Praktiken des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“: Zwischen 1926 und bis in die Mitte der 1970er-Jahre nahmen die Behörden systematisch jenische Kinder von ihren Familien weg, um sie nach eigenem Vorbild fern des „Familienbetriebs“ im „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ zu erziehen. Aber bei öffentlichen Veranstaltungen repräsentiert werden dann lieber doch die alten, heilen Welten, als die Pferde noch die Planwägen zogen.
Die Radgenossenschaft ist eine der zahlreichen nationalen und regionalen Organisationen, die dem Dachverband der wichtigsten internationalen Interessenvertretung angehört: Die Internationale Roma Union (IRU) wurde 1978 beim zweiten Welt-Roma-Kongress in Genf gegründet. Als NGO mit konsultativem Status gehört die IRU seit 1979 dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen an und berät auch die UNESCO. Seit 1986 ist sie Mitglied von UNICEF.
Radikalere bzw. progressivere Positionen der Selbstrepräsentation lassen sich vor allem in der Arbeit einiger freier Künstler_innen finden. Die jenische Lyrikerin Mariella Mehr und die Romni-Filmemacherin Marika Schmiedt wären hier zu nennen. Beide geben Einblicke in die Gesellschaft und Kultur der Sinti, Roma und Jenischen. Sie thematisieren in ihrer Arbeit die Zerstörung der eigenen sozialen Strukturen. Solch schonungslose Einblicke zu gewähren, ist ein wirksamer Weg, um zu verhindern, dass sich die Vergangenheit in der Zukunft wiederholt. Doch das, was in der Kunst stattfindet, muss nicht zwangsläufig in der Realität funktionieren. Als Fiktion oder Vision sind sie trotzdem von enormer Wichtigkeit.
Social media oder die neue Kumpania
Eine neue und intensiv genutzte Plattform der Roma-Selbstorganisation bietet inzwischen das Internet. Die neuen Kommunikationstechnologien und vor allem die social media haben dafür gesorgt, dass sich Roma, Sinti und Jenische über die nationalen Grenzen hinweg vernetzen. Das Internet ist in gewisser Weise das postmoderne Pendant zu dem vormodernen Marktplatz: Auf beiden tummeln sich die „Fahrenden“ bzw. deren Nachfahren im 21. Jahrhundert. Die Internet-Foren, Chats und Communitys erinnern durchaus an die alte Form der Kumpania. Sie erfüllen aus minderheitspolitischer Sicht ihren Zweck: den Zusammenschluss verschiedenster „Stämme“.
Die Kehrseite der Internet-Kommunikation ist natürlich das, was der Philosoph Jean Baudrillard bereits 1982 als „die Ekstase der Kommunikation“ vorausgesagt hat. Dieser hyperaktive Zustand des permanenten Kommunizierens treibt – auf den virtuellen Marktplätzen – mitunter schauderliche Blüten der Selbstdarstellung. Und bei aller digitaler Offenheit wird dann oft auch nicht mehr gezeigt als die Oberflächen der altbekannten Stereotype.
Simone Schönett
Jahrgang 1972, ist eine österreichische Jenische. Sie war Mitbegründerin des Jenischen Kulturverbandes in Österreich und ist Mitglied des transnationalen jenischen Vereins schäft qwant. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Kärnten. In ihrem 2010 erschienenen Roman „re:mondo“ (Edition Meerauge) erzählt sie von den weitgehend unbekannten Jenischen. 2012 erschien (ebendort) ihre Novelle „Oberton und Underground“.
Anmerkung
Dieser Text erschien zuerst in migrazine – Online-Magazin von Migrantinnen für alle, Ausgabe 2012/1. Der Artikel ist Teil einer Kooperation zwischen den Kulturrissen und migrazine.at.