Unterwasserfelsen

Einmal waren die Homosexuellen von der Bourgeoisie in die Irre getriebene Genoss_innen, ein andermal unverbesserliche Anarchist_innen. Einmal wurden sie verfolgt, ein andermal verschwiegen oder toleriert – um den Preis der Unsichtbarkeit freilich.

Es ist immer wieder von Neuem faszinierend, wie ungezwungen-mirakulös ideologisierte Weltanschauungen ihr aufrecht zu erhaltendes Wissen je nach (all)täglichem Bedarf aus bunt durcheinander gemischten Versatzstücken zusammenzuzimmern wissen. Heute wird das Eine behauptet und schon morgen das Andere begründet, und auch wenn wie im schlecht ausgestanzten Puzzle nichts zueinander passt: das Bild geht anscheinend immer auf, zumindest für die eingeschworene Puzzle-Community. „Anscheinend“, denn die Hektik des Austausches macht gewisse Zwänge spürbar.

Damals und hinter dem Vorhang forderte homophiles Begehren staatliche wie alltägliche Ideologien bis aufs Äußerste heraus. Auf dem Spiel stand nichts weniger als die Frage der Emanzipation, und wenn „freie Liebe“, ein Begriff, der seit den eisernen 1930ern alles Mögliche – von Polyamory bis Homosexualität – covern musste, auch nicht öffentlich zur Debatte stand, diskutiert und praktiziert wurde sie schon. Prinzipiell aber galt: Wovon man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen. Ohne Wittgenstein als Referenz versteht sich. Da es viel zum Schweigen gab, waren die Effekte des Nicht-Reden-Könnens bis zur Unkenntlichkeit ineinander verwoben. Denn wie zugleich emanzipatorische Politiken betreiben und jegliches Begehren vermeiden? Wie den Enthusiasmus und die Motivation aufs Neue herausfordern und gleichzeitig jegliche autonome Organisierung untersagen? Wie die Gerechtigkeit der Geschlechter vertiefen, nicht jedoch die Frage nach dem Geschlecht selbst berühren? Wie das Soziale als Hergestelltes analysieren, Gender jedoch als eine quasi natürliche Substanz nicht in Frage stellen?

Lauter nicht zu haltende Balancen, die ständig kippten: Ein lokaler Popstar (der „East’s Frank Sinatra“ mit 55 Millionen verkauften Tonträgern übrigens, aber das ist eine andere Geschichte), dem manche eine halbe Generation vor mir verfallen waren, schaffte es, seine Texte so zu schreiben, dass erst in der letzten Strophe die weibliche Verbform vorkam. In den slawischen Sprachen ein Kunststück. Durch ihn wurde, nachsingend, die Polyamory in alle Münder gebracht. Auch wenn der Versuch, homophile Menschen als westlich-dekadent zu denunzieren, eh nach hinten los ging, ein paar Atemzüge später ermaß man anhand des Themas schon erfolgreich die Kraft des Auftriebs nationalistischer Unterfangen: Homophiles Verhalten wurde dem Islam gleichgesetzt. Unter dem Motto: Religion ist schlecht genug, Muslim_innen aber gefährden gleich Nation, Säkularisierung und Sexualordnung. Noch bevor es damit vorbei war, hatte man schon die Homophobie des Islams entdeckt.

Einmal waren die Homosexuellen von der Bourgeoisie in die Irre getriebene Genoss_innen, ein andermal unverbesserliche Anarchist_innen. Einmal wurden sie verfolgt, ein andermal verschwiegen oder toleriert – um den Preis der Unsichtbarkeit freilich. Die Diskurse jagten sich förmlich und verstrickten sich ineinander: Die emanzipative Familienpolitik produzierte selbstständige Frauen, die neuen Lebensverhältnisse Frauenbeschäftigung, die bis an die 90 Prozent-Latte kletterte, von „Familienoberhäuptern“ hat man nach dem ersten Fünfjahresplan nie wieder etwas gehört, patriarchale Aufteilungen aber beibehalten. Frauen zogen ihre Kinder und Betten zusammen (auf), aber eben ins Private. Im widersprüchlichsten Moment des staatlichen Sozialismus – dem Privaten – vermischte sich Emanzipation, Unterstützung, Semi-Öffentlichkeit, Politisierung und Polarisierung. Im Privaten las man verbotene Literatur, hörte verbotene Sendungen, arbeitete gegen offizielle Familienplanung, lebte deviante Sexualität aus und bekämpfte sie. Die Norm aber, die wollte anscheinend niemand. Nur deswegen hat man ihre fein-klebrigen, natürlich-nationalistischen Fäden noch lange nicht abgelegt.