Vision und Revision. Nachlese zur Demokratischen Offensive

Ich erinnere mich an den Wahlabend. Gemeinsam mit älteren Bekannten, zumeist arrivierten Journalisten und Journalistinnen, sah ich die Fernsehübertragung, und als ich von der Notwendigkeit sprach, unseren Protest zu artikulieren, griffen sie sich an den Kopf. Bloß nicht, meinten sie. Nun habe man verloren und müsse sich mit dieser Niederlage abfinden.

Für jene, die im Oktober 1999 die Demokratische Offensive initiierten, war bereits vor dem 4. Oktober klar gewesen, dass sich mit der Ernennung Jörg Haiders zum Landeshauptmann im Frühjahr und mit der Nationalratswahl eine neue politische Situation ergeben hatte, die nicht bloß eine Verschärfung des Bisherigen bedeutete, sondern einen Umschlag in eine neue Qualität der demokratischen Verfasstheit des Landes. Ich kann diese recht frühe Überzeugung einiger, die, obgleich durchaus miteinander bekannt, ja, teils befreundet, nach dem 4. Oktober sich zu einer Einheit zusammenfanden, wohl am Besten an meinem eigenen Beispiel darlegen. Diese persönlichen Angaben sollen nur als Exempel für eine Stimmung dienen, die damals eine kleine Minderheit von Menschen erfasste. Während einige, mit denen ich mich in der Einschätzung der politischen Veränderung weitgehend eins wusste, in diesen Tagen an der Gründung von gettoattack beteiligt waren und neue Zugänge jenseits der konventionell repräsentativen Politik erschlossen, begannen wir uns um die mühsame Überzeugung traditioneller Kräfte zu bemühen, angefangen bei Organisationen wie SOS-Mitmensch. Wir versuchten verschiedenste Institutionen zu überzeugen, dass zum Massenprotest aufgerufen werden müsste.

Nicht nur schien für uns das Wahlresultat keine Überraschung, zudem konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass die Volkspartei die Koalition mit den Freiheitlichen anstrebte. Eben deswegen beschlossen wir vor der Wahl, für den Tag nach dem Entscheid, am Montag, den 4. Oktober, ein Treffen im Republikanischen Club einzuberufen.

In diesen Tagen vor und nach der Wahl wurde sehr bald offensichtlich, dass unsere Ansichten bei traditionell alliierten Gruppen nicht auf Zustimmung stießen. Zum einen bezweifelten bei den Zusammenkünften die engagiertesten AktivistInnen nicht selten, dass die Situation radikal neu sei. Gerade für Vereine, die seit Jahren gegen soziale, rassistische und sexistische Diskriminierung kämpften, schien nicht offenbar, was sich verändert hatte. Sie argwöhnten von Beginn an, dass die neue Initiative bloß parteipolitische Interessen verfolgte. Sie fürchteten eine Manifestation zur Legitimierung der großen Koalition. Sie waren durch das Lichtermeer entmutigt und davon überzeugt, dass ein neuerliches Massenevent nur zur neuerlichen Absegnung bestehender Verhältnisse führen könne. Zum anderen glaubten die etablierten politischen Rivalen der Freiheitlichen in dieser Zeit, dass nichts als die Unterwerfung vor dem sogenannten Wählerwillen möglich sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Wettlauf zwischen Alexander van der Bellen und Viktor Klima, wer sich schneller auf den Weg machen würde, in ganz Europa Verständnis für die Neigungen der freiheitlichen Wähler zu wecken.

Ich erinnere mich an den Wahlabend. Gemeinsam mit älteren Bekannten, zumeist arrivierten Journalisten und Journalistinnen, sah ich die Fernsehübertragung, und als ich von der Notwendigkeit sprach, unseren Protest zu artikulieren, griffen sie sich an den Kopf. Bloß nicht, meinten sie. Nun habe man verloren und müsse sich mit dieser Niederlage abfinden.

Solch eine Kapitulation schien für einige, darunter Isolde Charim und Robert Misik, völlig inakzeptabel. Der Republikanische Club hatte vor der Wahl zu dem Treffen am 4. Oktober geladen, weil klar schien, dass im Unterschied zu sonstigen Wahlauseinandersetzungen die eigentliche Kontroverse erst nach der Wahl erfolgen würde, dass hier eine einmalige Chance für eine antirassistische Bewegung, für eine Artikulation der Zivilgesellschaft bestünde, die quer zu den Parteien stehen könnte und diesmal nicht wie beim Lichtermeer im Sinne des Bestehenden wirken, sondern das kritische Potential gegen Haider und gegen Schlögl verstärken würde. Zum Beweis unserer damaligen Position führe ich Auszüge einer Rede an, die ich bei einer antirassistischen Veranstaltung, vor der Nationalratswahl, am Samstag, den 2. Oktober 1999 hielt:

"(...) Leider wird aber der Hass gegen Ausländer nicht bloß von den Freiheitlichen geschürt. In dieser Woche, drei Tage vor der Wahl, entschied sich das Innenministerium zur Drogenrazzia speziell gegen Afrikaner. Die Kronenzeitung jubelte über diese Aktion. Kurz vor der Wahl wird die Angst vor Schwarzen wieder genährt. Karl Schlögl selbst rührt die Gefühle auf, mit denen die Freiheitlichen siegen können. Anstatt die wirklichen Probleme in unserem Land zu behandeln, wird Panik gemacht. Anstatt erfolgreich gegen den Wind zu segeln, überlassen die Sozialdemokraten das Schiff dem Sturm. Der Doppelpass zwischen Schlögl und Kronechef Dichand wird der SPÖ ein Eigentor bescheren. Solche Linksrechts-Kombinationen werden letztlich zum Knockout der österreichischen Sozialdemokratie führen.

Wie merkwürdig; die eigentümliche Botschaft lautet: Wer Haider will, soll Schlögl wählen. Diese Parole wird kaum jemanden überzeugen. Mich lässt sie aber denken, wer Haider verhindern will, muss jenseits von Schlögl, Bartenstein und Haider wählen; muss seine Stimme jenen geben, die sich klar gegen die inhumane Asylpolitik und gegen die Hetze des Boulevards ausgesprochen haben.


(...) Diese Wahl unterscheidet sich von allen bisherigen Wahlen nach 1945. Es geht um die Republik. Diesmal wird am 4. Oktober nicht alles bereits entschieden sein. Im Gegenteil; diesmal beginnt am 4. Oktober ein politischer Kampf quer zu den Parteien. Wir, die engagierten Menschen dieses Landes, werden nun gefragt sein. Die Zivilgesellschaft darf nicht schweigen. (...)"

Die Demokratische Offensive nährte sich von der Überzeugung, dass sich der Protest gegen den Rassismus artikulieren musste, um gegen die Ethnifizierung des Politischen und des Sozialen zu protestieren. Die Demokratische Offensive sah ihre eigene Aufgabe darin, diesem Protest die Möglichkeiten der Öffentlichkeit zu erschließen.

Bei dem ersten Treffen mit anderen Gruppen am 4. Oktober versuchten wir vergeblich zu erklären, dass eine mögliche Koalition mit den Freiheitlichen zu einem Aufschrei in Europa führen und jede Aktion in den nächsten Monaten auf internationales Interesse stoßen würde. Ich erinnere mich, dass unsere Voraussagen möglicher diplomatischer Konsequenzen einfach verlacht wurden. Nicht nur bei ÖVP und FPÖ, nicht allein bei der Sozialdemokratie und den Grünen, nein ebenso in einer außerparlamentarischen Linken schien hierzulande nicht klar, auf welche Widerstände eine schwarzblaue Regierung stoßen musste.

Erst im Laufe der folgenden Wochen gewann der Protest an Kraft. Hier zeigte sich, dass richtig spekuliert und der Termin für die Demonstration gut gewählt worden war, denn etwa rund um den 12. November erlebte die Empörung ihren Höhepunkt. Niemand hatte mit 70.000 Menschen am Stephansplatz gerechnet. (Tja, schon gar nicht unsere Tontechnik.)

Die Demokratische Offensive ging von der Notwendigkeit aus, in den nächsten Wochen sich der Praktiken bürgerlicher Öffentlichkeit zu bedienen, um die etablierten Medien gegen jene zu wenden, die sie in den vorherigen Jahren populistisch genutzt hatten. Diese Strategie verlangte Kompromisse. Es war klar, dass wir für einen Massenerfolg auch unter jenen agitieren mussten, die bloß um den Verlust sozialdemokratischer Macht fürchteten oder schlicht eine bürgerliche Politik jenseits der Freiheitlichen anstrebten. Das Zentrum der Demokratischen Offensive kämpfte deswegen mit mehr oder weniger Erfolg gegen eine Banalisierung und Verflachung der Kritik an. Es war keine leichte Auseinandersetzung, in der uns manche mächtigere Bündniskräfte vorschreiben wollten, auf intellektuelle Repräsentation zu verzichten und dem reinen Promikult zu frönen. Ich erinnere mich an heftige Diskussionen, weil wir nicht Fußballspieler, sondern lieber Schriftstellerinnen reden lassen wollten. Unser Wunsch, internationale Stimmen zur Demonstration am 12. November 1999 zu bringen, sei eine Gefahr, weil dadurch die Proteste vom Ausland gesteuert scheinen könnten, meinten manche gar. Gleichzeitig wurde kritisiert, dass unser Aufruf mit: "Wir sind Österreich" endete, und dadurch die Widerspiegelung von Nationalismus betriebe. Der Demokratischen Offensive ging es jedoch um eine Umkehrung jener Bilder und Plakate, die von sogenannt echten Österreichern sprachen. Wir wollten diesem Chauvinismus ein Österreich entgegen setzen, das alle jene Gruppen repräsentierte, die sonst ausgegrenzt blieben.

Die erste Massendemonstration am 12. November 1999 war eine politische Demonstration mit international antirassistischer Beteiligung. Der Aufruf richtete sich teils gegen die bisherige Regierung, auf jeden Fall aber an jene, die nun eine Koalition aushandeln wollten.<br /><br />Der Erfolg der Freiheitlichen beruhte auf Angstmache, doch die Mutlosigkeit ihrer etablierten Gegner hatte ihren Durchbruch besiegelt. Der 12. November diente deshalb der Aufmunterung zum zivilen Protest. Der 12. November bot die Möglichkeit für manche Gruppen, etwa für die afrikanische Gemeinde in Wien, in einer breiteren Öffentlichkeit Gehör zu finden. Am 12. November wurden antirassistische Forderungen artikuliert. Wichtiger jedoch war das Versprechen, den Kampf nicht aufzugeben.<br /><br />Noch bedeutender war, dass jene Netzwerke geknüpft wurden, die im Februar 2000 so wichtig werden sollten. Nun hatte die Demokratische Offensive die Kraft erlangt, zur Massendemonstration einer Bewegung aufrufen zu können, die nicht von der Regierung bestellt, sondern gegen sie gerichtet war. Und der 19. Februar war wiederum das Datum, auf das die täglichen Protestmärsche zusteuern konnten und von dem aus zu den Donnerstagsdemos aufgerufen wurde.

Wenn die Aufgabe der Demokratischen Offensive nichts anderes war als eine mediale Plattform, ein Sprachrohr und Verstärker jener Bewegung zu sein, die sich Widerstand nannte, so hatte sie ihre Aufgabe erfüllt. Hier möchte ich drei Phasen des Protests hervorheben. Die erste reichte bis zum 12. November 1999. Die zweite Welle begann im Februar 2000 und konnte unter anderem auch durch die Konferenz "Opposition bilden" bis in den Herbst getragen werden. Der dritte Abschnitt wirkte im Wiener Wahlkampf, führte zur Demonstration am 16. März 2001, die eine Kampagne gegen Rassismus und Antisemitismus unterstützte und die Forderung "Gleiche Rechte für alle" propagierte.

Was aber, werden nun manche zurecht fragen, wurde erreicht? Wir hatten schließlich den Rücktritt der Regierung gefordert. Haben wir deshalb versagt? Wer das glaubt, weiß zwischen Versagen und Scheitern nicht zu unterscheiden. Ich persönlich war im Februar 2000 davon überzeugt, dass die schwarzblaue Regierung nicht zurücktreten würde, denn die heimische Wirtschaft wollte den Fortbestand der Koalition und musste um Stabilität des Landes zu keinem Zeitpunkt fürchten. Nichts schien deshalb darauf hinzuweisen, dass Schüssel die Krise nicht aussitzen könnte. Mich trieb die Notwendigkeit zum Protest auf die Straße, die Artikulation meiner antirassistischen und demokratischen, um nicht zu sagen, antifaschistischen Position, nicht die Aussicht auf einen kurzfristigen Erfolg. Es ging um einen Bruch mit dem nachfaschistischen Konsens und darum, gegen die herrschenden Verhältnisse Stellung zu beziehen.<br /><br />Nach dem 19. Februar 2000 ging es um einen so lange wie möglich anhaltenden Widerstand gegen die Normalisierung. In dieser Phase machte auch die Forderung nach Neuwahlen, in Kalifornien wird das ja Recall genannt, einen Sinn. Wir strebten damit nicht nach einer bestimmten Regierungsriege, sondern zielten gegen die schwarzblaue Koalition. Die Forderung hatte für uns von Anfang an politisch symbolische Bedeutung.

Nie hätte ich im Oktober 1999 damit gerechnet, dass die Bewegung mit ihren Interventionen so viel erreichen würde. Niemand um mich herum hätte im Februar 2000 darauf gewettet, dass die Donnerstagsdemos über den Sommer zahlreich bleiben und dann schwächer mehrere Jahre weitergehen würden.

Ohne Zweifel hing die Entscheidung der Sozialdemokratie, nicht Karl Schlögl zum Nachfolger von Viktor Klima zu machen, mit den Parolen des so genannten Widerstandes zusammen und mit unserer öffentlichen Drohung, ansonsten die Massenkundgebung auf dem Heldenplatz auch gegen die SPÖ zu richten. Vergessen wir zudem nicht, dass Jörg Haider über die Mobilisierung gegen ihn und die Seinen so verzweifelt war und in dieser Situation so kopflos wurde, dass er sich am 19. Februar mit seiner Familie in eine nahe Pizzeria setzte, um eine Eskalation zu inszenieren. Dass ihn Polizisten, also Repräsentanten einer Gruppe, die ihn während der neunziger Jahre hofiert und unterstützt hatten, nun zwangen, den Ort zu verlassen, dass sie nicht bereit gewesen waren, ihn und seine Familie gegen seine Feinde zu verteidigen, soll ihn, behaupten manche, die ihn kennen, persönlich getroffen haben. Neben den Maßnahmen der EU trieben diese Erfahrungen des Februar ihn zu dem entscheidenden Fehler seiner Karriere: dem Rücktritt als Führer der Rechten. Fraglos auch, dass die Bewegung, die sich Widerstand nannte, zur Demontage und Dekonstruktion der Angstmacher beitrug. Ich erinnere etwa an Hilmar Humpbacke Kabas.

Doch der Protest hatte sich gegen Schüssel gerichtet, und während die ÖVP vom Niedergang der Freiheitlichen profitieren konnte, gelang es den Oppositionsparteien nicht, für eine Alternative zur derzeitigen Regierung zu werben. Mehr noch; was der sogenannte Widerstand vorhergesagt hatte, die Verschiebung der politischen Kultur nach rechts, ist eingetroffen, und wendet sich gegen jede Opposition. Was wir in den letzten Jahren erleben, ist die Diskreditierung und Stilllegung intellektueller politischer und künstlerischer Kritik. Im Unterschied zu den Apologeten von Schwarz-Blau, die ein Ende sozialpartnerschaftlicher Verhältnisse erhofften und von einer Demokratisierung plauschten, hat der Protest diese Entwicklungen vorausgesehen und vor den Konsequenzen gewarnt. Nun müssen wir vorerst damit leben, recht gehabt zu haben. Und zwar mehr, als uns lieb ist.

Wobei damit leben nicht heißt, sich damit abfinden zu müssen. Doch wäre es ebenso verfehlt, falsche Hoffnungen zu hegen. Was im Jahre 2000 einen großen Effekt erzielte, kann heute nichts mehr bewirken, und das liegt nicht etwa an taktischen oder strategischen Entscheidungen, über die alle Aktivisten und Aktivistinnen nächtelang zu diskutieren imstande waren, denn jenseits aller methodischen Unterschiede kann erkannt werden, dass keine Gruppe der damals vielfältigen Bewegung heute noch relevant ist; ob nun von der Demokratischen Offensive, dem Aktionskomitee gegen Schwarzblau oder gettoattack die Rede ist. Wer die Kampagne wieder beginnen wollte, müsste einen anderen Zugang finden.

Um das auszuführen, fehlt hier der Platz, doch auf positive Entwicklungen kann verwiesen werden. Die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zeigen, dass die Maßnahmen der Regierung auf breiteren Widerstand stoßen, als sie erwartete. Nun jammern jene auf, die vor kurzem noch sich über die sozialpartnerschaftlichen Hemmnisse bei neoliberalen Vorstößen ereiferten, und sehnen sich zurück in jene Zeiten, da Österreich keine Streiks kannte. Nun wundern sie sich, dass die Verhältnisse, deren Ende sie gefeiert hatten, nicht mehr fortbestehen. Das ist so, als hätte Alexander der Große, nachdem er den Gordischen Knoten durchschlagen hatte, sich dann beklagt, dass der Strick nicht mehr aus einem Stück war.

Zudem ist das Konstrukt des sogenannt echten Österreich ein Wolkenkuckucksheim, ein wackliges Geistergebäude in den Lüften, das auf nichts ruht außer auf der Ohnmacht, der Langmut, und dem Fleiß jener vielen, die hier zuhause, aber nicht daheim sein dürfen. Es negiert jene, die abseits der sogenannten Volksgemeinschaft leben, und verdrängt, was ihm widerspricht, in eine Unterwelt, verstößt die Zugewanderten in die Illegalität oder in die Bedeutungslosigkeit. Ja, es unterscheidet zwischen Inländern und Staatsangehörigen, trennt Bodenständige von Eingebürgerten und gar Einheimische von hier Geborenen, deren Geburtsland nicht ihre Heimat sein soll. Selbst jene, die sich nach dem echten Österreich sehnen, können und wollen darin, ohne Dasein ihrer virtuell falschen, fälschlicherweise virtuellen Landsleute, keine Sekunde leben, träumen davon wie von einer Kindheit, die nie so heil war, wie sie Erwachsenen scheint.

 

Doron Rabinovici ist Schriftsteller, Essayist und Historiker, Mitbegründer der Demokratischen Offensive.