VorRisse
Der einseitige Fokus auf die Grenzen verstellt den Blick auf die vielfältigen Realitäten zeitgenössischer Migrationsbewegungen ebenso wie auf die widersprüchlichen Strategien staatlicher Kontrollpolitiken. Schließlich ist die – ihrerseits ja alles andere als einheitliche – Migrationspolitik in der EU bspw. weder daran interessiert noch dazu in der Lage, Migration einfach zu unterbinden.
Anfang April 2009 schaffte es das Geschehen an den militarisierten Außengrenzen der EU einmal mehr auf die Titelseiten der Tageszeitungen: Bei einem Bootsunglück vor der Küste Libyens starben, Angaben der International Organization for Migration (IOM) zufolge, mehr als 230 Menschen beim Versuch, Europa auf dem Seeweg zu erreichen. Eine Auseinandersetzung mit der Europäisierung des Migrationsregimes, wie sie in der vorliegenden Kulturrisse-Ausgabe unternommen wird, kommt um eine Beschäftigung mit der aktuellen EU-Grenzpolitik und ihren tödlichen Folgen nicht umhin. Zugleich jedoch verstellt, wie die Beiträge des Heftschwerpunkts zeigen, der einseitige Fokus auf die Grenzen den Blick auf die vielfältigen Realitäten zeitgenössischer Migrationsbewegungen ebenso wie auf die widersprüchlichen Strategien staatlicher Kontrollpolitiken. Schließlich ist die – ihrerseits ja alles andere als einheitliche – Migrationspolitik in der EU bspw. weder daran interessiert noch dazu in der Lage, Migration einfach zu unterbinden.
Rutvica Andrijašević nimmt in ihrem Beitrag zum Heftschwerpunkt die hier angedeutete Tendenz zur „Deterritorialisierung der EU-Grenzen“ zum Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit den Veränderungen von Souveränität und BürgerInnenschaft in Europa. Ähnlich wie Manuela Bojadžijev, die auf der Basis einer Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen im Bereich der europäischen Migrationspolitik die Frage der Produktion von Raum und seiner Repräsentation ins Zentrum ihrer Analyse stellt, betont sie dabei die Rolle der Migration bei der Herstellung einer europäischen BürgerInnenschaft und fordert dazu auf, diese emanzipatorisch umzudenken. Das dieser Perspektivierung von Migration zugrunde liegende Verhältnis zwischen den Handlungen von MigrantInnen und den Agenturen der Kontrolle sowie die daraus resultierenden Herausforderungen für eine (ethnografische) Migrationsforschung bilden den Gegenstand des Artikels von Vassilis Tsianos, Sabine Hess und Serhat Karakayali. Dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Migration sich aktuell aber auch mit Herausforderungen ganz anderer Art konfrontiert sieht, zeigt sich darin, dass staatliche Migrationskontrolle heute vielleicht mehr denn je auf unterschiedliche Formen des Wissens angewiesen ist. Exemplarisch verdeutlicht dies der Beitrag von Andrea Knaut zum Einsatz von Biometrie im Kontext des europäischen Grenzregimes. Doch nicht bloß das technisch anwendbare Wissen bspw. der Informatik, auch sozialwissenschaftliches Wissen wird staatlicherseits gegenwärtig vermehrt nachgefragt. Die daraus resultierenden Verstrickungen der Migrationsforschung in die staatliche Migrationskontrolle nehmen Fabian Georgi und Fabian Wagner zum Anlass, um die Möglichkeiten und Grenzen einer dagegen in Stellung zu bringenden kritischen Migrationsforschung auszuloten. Einen ähnlichen Ansatz, allerdings mit stärkerem Fokus auf die Rolle politischer Intellektueller im Kontext von NGOs und sozialen Bewegungen, verfolgt auch Andreas Görg im abschließenden Beitrag des Heftschwerpunkts.
Die inhaltlichen Fäden des Schwerpunkts werden im hinteren Teil des Hefts konsequent aufgegriffen und anhand unterschiedlicher Fragestellungen fortgesponnen. Redaktionsintern bringt Heft 1/2009 der Kulturrisse eine Veränderung mit sich: Belinda Kazeem verlässt das Koordinationsteam. Ihren Platz an der Seite von Patricia Köstring nimmt nach einjähriger Auszeit wieder Markus Griesser ein.