Wahlwechsel: Nicht fordern, sondern handeln!
Im Herbst wird in der Steiermark und in Wien ein neuer Landtag gewählt. Vom Wahlrecht ausgeschlossen bleibt dabei jene Gruppe, die im Rahmen der rassistischen Wahlkämpfe der letzten Jahre eine zunehmend prominente Rolle spielte: Wer nicht die „richtigen“ Papiere sein/ihr Eigen nennt, ist als MigrantIn zwar zentraler Gegenstand des repräsentativ-demokratischen Spektakels, eine eigene Stimme bleibt ihm/ihr dabei jedoch auch weiterhin vorenthalten.
Im Herbst wird in der Steiermark und in Wien ein neuer Landtag gewählt. Vom Wahlrecht ausgeschlossen bleibt dabei jene Gruppe, die im Rahmen der rassistischen Wahlkämpfe der letzten Jahre eine zunehmend prominente Rolle spielte: Wer nicht die „richtigen“ Papiere sein/ihr Eigen nennt, ist als MigrantIn zwar zentraler Gegenstand des repräsentativ-demokratischen Spektakels, eine eigene Stimme bleibt ihm/ihr dabei jedoch auch weiterhin vorenthalten. Genau an diesem Punkt setzt die Kampagne „Wahlwechsel“ an, die derzeit in Wien von einer Reihe zivilgesellschaftlicher AkteurInnen entwickelt wird. Im Vorfeld der Wiener Wahl Anfang Oktober soll darüber nicht bloß die demokratiepolitische Forderung nach einem „Wahlrecht für MigrantInnen“ artikuliert, sondern diese Forderung im Sinne eines demokratischen Akts auch gleich umgesetzt werden. Das diesem zugrunde liegende Prinzip ist einfach: Wer ein Wahlrecht hat, aber nicht selbst wählen mag, wählt im Auftrag von jemandem ohne Wahlrecht. Die Kulturrisse baten Andreas Görg zum Interview, um sich mit ihm über die Hintergründe und Ziele der Kampagne zu unterhalten.
Kulturrisse: Kannst du kurz erläutern, wie es zur Idee kam, anlässlich der bevorstehenden Wahlen in Wien eine solche Kampagne zu initiieren?
Andreas Görg: Lisl Ponger, selbst eine Wahlwechsel-Veteranin, hat mich dazu angestachelt. Eigentlich stammt die Idee aus dem Jahr 2002. Der Wahlwechsel wurde damals im Rahmen der Kampagne „Österreich für Alle gleich“ im Vorfeld der Nationalratswahlen entwickelt; allerdings zeitlich zu knapp vor der Wahl. So konnte der Wahlwechsel als Idee nicht mehr breit beworben und in den Köpfen verankert werden. Dennoch gibt es seither einige Menschen, die bei jeder Wahl einen Wahlwechsel betreiben. Für die kommende Wiener Wahl wollen wir den Wahlwechsel aus dem Dornröschenschlaf herausholen und ins Zentrum des demokratiepolitischen Diskurses rücken.
Kulturrisse: Wie soll der „Wahlwechsel“ konkret ablaufen? Wie finden sich also bspw. „StimmgeberInnen“ und „-nehmerInnen“, und welche Öffentlichkeiten sollen dabei miteinbezogen werden?
Andreas Görg: Wahlwechsel bedeutet, dass Wahlberechtigte sich von Nichtwahlberechtigten sagen lassen, welche Partei sie wählen sollen. Die Paare finden sich hauptsächlich aufgrund eigeninitiativen Herumfragens im persönlichen Bekanntenkreis, denn Wahlwechsel ist Vertrauenssache. Schließlich wollen die Stimmnehmenden auch sicher sein, dass die Stimmgebenden in der Wahlzelle ihren Wahlauftrag tatsächlich erfüllen. Die Kampagne soll v. a. Öffentlichkeiten in den Bereichen der kritisch progressiven Zivilgesellschaft als auch in Migrant_innen-Communities ansprechen und den Boden dafür bereiten, dass sich massenhaft Paare finden, weil es vollkommen selbstverständlich wird, ja zum guten Ton gehört, herumzufragen, ob jemand wählen will bzw. ob es Personen im Bekanntenkreis gibt, die zur Weitergabe des Stimmrechts bereit sind. Natürlich soll es auch die Möglichkeit geben, sich in einer Datenbank als Stimmgeber_in oder Stimmnehmer_in zu registrieren, sodass Paare zusammengebracht werden, die sich vorher nicht kannten. Aber wir schätzen, dass die überwiegende Mehrheit der Wahlwechselnden sich das selbst organisiert. Es ist ja auch keine große Hexerei. Aus der persönlichen Beziehung der Wahlwechselpartner_innen entspringt viel Motivation, die auch andere anstecken kann. Außerdem bekommen diese persönlichen Beziehungen durch den Wahlwechsel eine politische Komponente.
Kulturrisse: Im Fokus der Kampagne steht das „Wahlrecht für MigrantInnen“. Das impliziert, dass jene Gruppe, die im Rahmen des – wie zu vermuten ist – rassistischen Wahlkampfs ein zentrales Objekt der Debatte sein wird, zum Subjekt einer Forderung werden soll. Welche Überlegungen standen hinter der Entscheidung, dieses Thema zum Gegenstand einer Kampagne zu machen?
Andreas Görg: Die rassistischen Wahlkampfstrategien der Parteien basieren insbesondere auf der Annahme, dass das Schüren von Ressentiments den Parteien mehr Stimmen bringt, als es sie kostet. Im Wahlkampf bestimmte Migrant_innengruppen zum Sündenbock zu machen, ist für alle Parteien eine billige Methode der Stimmenmaximierung, solange die meisten Migrant_innen nicht wählen dürfen. Der Wahlwechsel setzt genau da an: Plötzlich können Migrant_innen wählen. Je mehr Wahlwechsel betrieben wird, desto weniger zahlt sich das Schüren von Ressentiments aus.
Kulturrisse: Warum seid ihr zur Entscheidung gekommen, im Rahmen dieser Kampagne das Wahlrecht für MigrantInnen als zentral zu fokussieren und nicht, wie bspw. im Rahmen der verschiedenen WahlPartie-Kampagnen von Anfang der 2000er Jahre, ein möglichst breites Spektrum an Forderungen miteinzubeziehen?
Andreas Görg: In dieser Fragestellung zeigt sich ein Missverständnis. Auch wenn die Wahlwechselkampagne eine Kritik am Ausschluss der Mehrheit der Migrant_innen vom Wahlrecht impliziert, ist doch der Wahlwechsel keine Forderung. Daher ist der Vergleich mit der Wahlpartie unpassend. Der Wahlwechsel ist ein demokratischer Akt. Mit dem Wahlwechsel wird nicht an den Nationalstaat appelliert, doch gefälligst das Wahlrecht für Migrant_innen endlich einzuführen. Vielmehr wird eine Tatsache geschaffen: Alle, die wählen wollen, sollen wählen. Basta. Es gibt genügend Wahlberechtigte, die aus den verschiedensten Gründen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen wollen. Viele wollen in der bestehenden defizitären Demokratie nicht einfach mitspielen; und zwar deshalb, weil sie den Ausschluss der Migrant_innen nicht mitbedienen wollen. Viele hadern vor jeder Wahl auch angesichts des Parteiangebots mit der Frage, ob sie überhaupt wählen gehen sollen. Der Wahlwechsel richtet sich genau an die Menschen, denen die Demokratie ein Ideal ist und die sich mit der realen Demokratie nicht einfach abfinden wollen. Der Wahlwechsel gibt ihnen die Möglichkeit, von ihrem Wahlrecht tatsächlich im Sinne des demokratischen Ideals Gebrauch zu machen.
Kulturrisse: Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Wahlrecht (in Europa) bspw. für Frauen oder ArbeiterInnen von sozialen Bewegungen wie den Suffragetten oder Chartisten in harten Auseinandersetzungen erkämpft werden musste, stellt es für manche vermutlich eine Herausforderungen für ihr Demokratieverständnis dar, ihr Wahlrecht an andere abzutreten. Seid ihr in der Debatte um die Wahlwechsel-Initiative mit solchen Fragen konfrontiert worden und falls ja, wie geht ihr damit um?
Andreas Görg: Locker gehen wir damit um. Es ist nicht leicht für Menschen, die sich in einer Traditionslinie mit den demokratischen Kämpfen der Vergangenheit verorten, ein Recht weiterzugeben, das unter so vielen Opfern erkämpft wurde. Das Bewusstsein über die vergangenen Kämpfe macht es für diese Menschen schwieriger, sich selbst nunmehr als Privilegierte gegenüber jenen Gruppen zu erfahren, die gerade in der Phase dieser demokratischen Kämpfe rund um das Wahlrecht stehen. Die Wahlwechsel-Kampagne will niemandem das Wahlrecht wegnehmen oder Privilegierten ein schlechtes Gewissen machen, schon gar nicht jenen Gruppen, deren verspätete demokratische Teilhabe im bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaat sich bis heute in vielen diskriminierenden Strukturen fortsetzt. Allerdings bietet der Wahlwechsel die Möglichkeit, die Traditionslinien der Frauen- und Arbeiter_innenbewegung mit den aktuellen antirassistischen Kämpfen zu verbinden. Denn es ist durchaus im Sinne des Wahlwechsels, wenn z. B. eine Frau ihr Wahlrecht nur an eine vom Wahlrecht ausgeschlossene Frau weitergibt. Auf diese Art können im Wahlwechsel die älteren und neueren Kämpfe um Gleichheit verbunden werden.
Kulturrisse: Ein anderes Problem, das sich beim Verleih „seiner/ihrer Stimme“ fast schon zwangsläufig ergibt, ist, dass der/die Wahlberechtigte nicht darüber verfügen kann, was mit seiner/ihrer Stimme passiert. Was aber, wenn damit in einer „unerwünschte Richtung“ gewählt wird?
Andreas Görg: Reden wir doch Klartext: Was ist, wenn mein_e Wahlwechselpartner_in mir sagt, ich soll FPÖ wählen? Das ist immer die erste Frage, mit der ich bei Diskussionen rund um den Wahlwechsel konfrontiert bin. Meine Antwort ist immer dieselbe: Ich würde in der Wahlzelle FPÖ ankreuzen. Ganz klar. Wenn ich eine_n Wahlwechselpartner_in gefunden habe, dann setzt das voraus, dass ich diese Person für demokratisch reif und mündig halte und dass ich ihre Wahlentscheidung gefälligst zu respektieren habe. Wer sicher gehen will, dass sein_ihr Wahlrecht nicht einer gänzlich ungewollten Partei zugute kommt, soll die politische Diskussion doch bitte vor der Bekanntgabe des Wahlauftrages mit dem_der Wahlwechselpartner_in führen. Und wenn ich tatsächlich den Eindruck haben sollte, dass mein_e Wahlwechselpartner_in im Entscheidungszeitpunkt an einem Anfall von plötzlicher Umnachtung leidet, dann habe ich vor dem Weg in die Wahlzelle immer noch Zeit, eine politische Diskussion anzufangen und auf meine_n Partner_in einzuwirken, was ich allerdings unter normalen Umständen für hochgradig respektlos halten würde.
Kulturrisse: Wie der Duktus der vorangegangene Frage bereits andeutet, hat es auch etwas Paternalistisches, „seine/ihre Stimme“ an jemand anderen abzutreten. Seht ihr darin – also dass mit dem Wahlwechsel ein Verhältnis zwischen MigrantInnen und MehrheitsösterreicherInnen evoziert wird, das alles andere denn egalitär ist – nicht ein Problem?
Andreas Görg: Das Problem der mangelnden Gleichheit entsteht nicht durch den Wahlwechsel, sondern durch das defizitär demokratische System des Nationalstaates. In diesem System kann kein Verhältnis zwischen Ausgeschlossenen und Teilnahmeberechtigten egalitär sein; auch der Wahlwechsel nicht. Allerdings ist der Wahlwechsel im gegebenen Rahmen die bessere Alternative: Ein einseitiger Wahlverzicht, ohne die Stimme potenziellen Wahlwechselpartner_innen zumindest anzubieten, ist augenscheinlich eine Reproduktion des bestehenden Ausschlusses; genauso wie die einseitige Ausübung des Wahlrechts. Darüber kann auch eine laut verkündete radikale Kritik am System nicht hinwegtäuschen. Der Wahlwechsel ermöglicht im Rahmen des bestehenden Systems das größte Maß an Gleichstellung. Das systemische Ungleichgewicht wird in eine Zweierbeziehung verlagert und kann dort durch eine privat vereinbarte Verschiebung des Wahlrechts ansatzweise ausgeglichen werden. In dieser strukturellen Voraussetzung ist unweigerlich eine paternalistische Asymmetrie angelegt. Aber es eröffnet sich auch die Möglichkeit, mit dieser paternalistischen Asymmetrie bewusst umzugehen. Eine Reduktion dieser Asymmetrie kann u. a. dadurch betrieben werden, dass mensch die Weitergabe der Stimme aktiv betreibt und sich um eine_n Wahlwechselpartner_in bemüht. Umgekehrt wird der Wahlwechsel umso paternalistischer, je mehr sich jemand bitten lässt. Dementsprechend sollte die Initiative zum Wahlwechsel vor allem von den Wahlberechtigten kommen.