Zum politischen Antirassismus
Die Verhältnisse heißen Rasse, Klasse, Nation, Geschlecht, Kultur usw. Dies zu verändern, auf dessen Aufhebung hinzuarbeiten, ist das primäre Ziel des politischen Antirassismus. Auf diesem Wege wird und muss einiges in Frage gestellt und rekontextualisiert werden. Beispielsweise sollte das schon zuvor erwähnte Toleranzpathos genauso schnell als ein asymmetrisches Herrschaftsinstrument entlarvt werden, wie das seit den 1980er Jahren allzu strapazierte Unwort „Integration“.
Auf was blicken wir zurück, wenn wir Antirassismus im Kontext des österreichischen Staates sagen? Zunächst einmal auf eine lange Geschichte der Transformationen des Nationalstaates Österreich. Da ist Joseph II. mit seinen Toleranzpatenten, genauso wie die Austromarxisten mit ihren Abhandlungen zu Nationalitätenfragen und nicht zuletzt die Zweite Republik, die – aus den Trümmern der Ostmark entstanden – einerseits auf eine Opferrolle pocht und andererseits die Sozialpartnerschaft huldigt. Da sind die Kämpfe der ArbeiterInnen um Wahlrecht und Sozialismus, die Kämpfe der Frauen um Wahrecht und Emanzipation. Und da ist auch die in den 1960er Jahren entstandene Zivilgesellschaft. Innerhalb dieser geschichtlichen Linien befindet sich auch der Diskurs des politischen Antirassismus. Mehr noch, er ist entstanden mit dem Blick auf diese historischen Transformationen und Kämpfe um die Rechte, die dahinter standen.
Entstanden ist er in einer Tradition der Bemühungen um die Veränderung der Gesellschaft und dies nicht nur innerhalb der des engen nationalstaatlichen Rahmens, sondern im Bewusstsein, dass wir alle auf einer Welt leben und mit einem Rückgriff auf die Position der AkteurInnen. Letzteres heißt keineswegs die Vernachlässigung der Arbeit an der Theorie, es heißt nur, dass die politische Theorie ohne Praxis eines politischen Subjektes innerhalb dieses Denksystems keine Theorie ist, sondern höchstens ein Instrument der Erhaltung des Bestehenden. Und das Bestehende, die Normalität, um deren Begreifung sich der politische Antirassismus bemüht, ist ein durch und durch rassistisch und heteronormativ strukturiertes Gesellschaftsmuster. Nicht eines, das vergangen ist, sondern eine Art Konsens, in dem alle vorherigen Auseinandersetzungen Spuren hinterlassen haben, aber auch eine Art Selbstverständnis gebildet hatten. Genau das wird seitens der antirassistischen AkteurInnen in Frage gestellt. Das Normale ist nicht normal, sondern ein Ergebnis eines langwierigen Normalisierungsprozesses, der auch anders hätte verlaufen können. Und was viel wichtiger ist, auch anders in Gang gesetzt werden kann. Unsere Gegenwart ist in gleichem Maße an die Vergangenheit sowie an die Zukunft gebunden. Veränderungen sind möglich und jeder und jede kann innerhalb der bestehenden Verhältnisse, in denen sie sich befinden und werkeln, dazu etwas beitragen.
Die Verhältnisse heißen Rasse, Klasse, Nation, Geschlecht, Kultur usw. Dies zu verändern, auf dessen Aufhebung hinzuarbeiten, ist das primäre Ziel des politischen Antirassismus. Auf diesem Wege wird und muss einiges in Frage gestellt und rekontextualisiert werden. Beispielsweise sollte das schon zuvor erwähnte Toleranzpathos genauso schnell als ein asymmetrisches Herrschaftsinstrument entlarvt werden, wie das seit den 1980er Jahren allzu strapazierte Unwort „Integration“ oder das viel noch mehr beschworene Konstrukt des Dialoges. Dafür gibt es Techniken, die im Rahmen dieses Textes nicht erörtert werden können, als erster Schritt genügt esjedoch, wenn wir zunächst alle die Grundfragen stellen: „Wer“, „Was“, „Wie“, „Wo“ und in Hinblick auf welches Ziel was getan wird. Werden diese Fragen konsequent angewendet, kommen wir zur Ebene der Struktur.
Genau auf die Struktur, die im Rahmen der theoretischen Auseinandersetzungen neben der Position von AkteurInnen den zweiten wichtigen Grundbegriff des politischen Antirassismus darstellt. Es geht dabei nicht darum, irgendwelche pathologischen Fälle zu lösen, es geht auch nicht darum, irgendwelche individuellen Missschicksale auf den richtigen Weg zu lenken, auch nicht den ModernisierungsverliererInnen unter die Arme zu greifen oder in den verschiedensten Situationen Courage zu zeigen. Um nicht missverstanden zu werden: Auch diese Tätigkeiten sind in einer Gesellschaft wie unserer, deren wichtigste Charakteristika gesellschaftliche Ungleichheit heißt, notwendig und sinnvoll. Nur mit dem politischen Moment des Antirassismus haben sie nichts zu tun.
Politischer Antirassismus beginnt an dem Punkt, wo es darum geht, die Bedingungen der Möglichkeit und den Bestand dieser ökonomischen soziopolitischen, kulturellen usw. Tätigkeiten herzustellen. Dort wo es, wenn wir beim Gedankengang des Dialogs verbleiben, darum geht, die gemeinsame Bühne zustande zu bringen. Eine Bühne, wo es eine Gleichheit der den Dialog führenden Subjekte geben kann. Einen Dialog kann es nur geben, wenn es eine gemeinsame Bühne gibt. Das Ziel der politischen Auseinandersetzungen ist die Errichtung dieser Bühne – einer Bühne beispielsweise, auf der die Sprache der MigrantInnen nicht mehr als Emotionalität, sondern als rationale Argumentation wahrgenommen wird. Die Errichtung dieser einen Dialog ermöglichenden Bühne heißt nichts anderes als eine Neukonfigurierung des Gemeinschaftskonsenses. Insofern können wir von der Bühne als eine Normalität einer bestimmten Konfiguration ausgehen. In einem politischen Moment wird die Selbstverständlichkeit dieser Normalität abgeworfen und durch eine Neukonfigurierung, eine neue Wahrheit – so könnten wir das nennen – implementiert. Ein Wahrheitsregime, das bestimmte von den politischen Subjekten geforderte Formen der Kommunikation zulässt. Formen, die bis dahin nicht als Teil des Konsenses gegolten haben. Solange dies nicht der Fall ist, geht es in allen Bestrebungen der politischen Subjekte heutzutage darum, diese Ebene zu erreichen.
Das gleiche gilt auch für die Toleranz: Die Toleranz war in politischer Hinsicht nie mehr als ein asymmetrisches Machtkonstrukt. Daraus schließt sich ganz einfach, dass die Tolerierenden von den Tolerierten nicht toleriert werden können. Die Errichtung der Bedingungen der Möglichkeit und des Bestandes soziopolitischer und kultureller Tätigkeiten hat nichts mit einem Individuum zu tun, sondern allein mit der Art und Weise, wie Kollektivitäten funktionieren. Zugegebenermaßen ein veraltertes Wort, aber der derzeitige Individualismus ist genauer betrachtet auch nichts anderes als ein integraler Bestandteil einer Art von Kollektivität, nämlich derjenigen, die als ihren Grundpfeiler, wie erwähnt, die Ungleichheit hat und die diesen mittels Herrschaftstechniken wie Rassismus, Klassismus, Geschlechterproduktion, Ethnisierungen und Kulturalisierung erhält und stabilisiert.
Um dieses Herrschaftsverhältnis durchzubrechen, genügt nicht nur dessen Konstatierung. Es muss auch daran gearbeitet werden, was es darüber hinaus geben soll und das heißt Arbeit an den Utopien. Ivan Cankar, ein großer slowenischer Schriftsteller, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein Jahrzehnt in Wien lebte und die soziale Ungerechtigkeiten und Armut anprangerte, schrieb einmal, dass die Utopien die Eigenschaft hätten, sich zu verwirklichen. Die Utopie der ArbeiterInnen und der Frauen, das Wahlrecht zu bekommen, wurde verwirklich, warum sollte auch die Wahlberechtigung der Migrantinnen und Migranten nicht durchgesetzt werden – und zwar ohne Ausnahmen und auf allen Ebenen? Und warum sollten die Selbstschussgewehre und elektrischen Stacheldrahtzäune nicht allesamt einmal mitsamt den eingedämmten Grenzmauern verschwinden? Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir leben in einer Welt, in der es kein Außen mehr gibt. Die Hülse des Nationalstaates hat, trotz der Ratlosigkeit, die dieses Verschwinden mit sich bringt, und trotzt der derzeitigen scheinbaren Wiederentdeckung des Staates als Unterstützungsapparat – (für die Reichen!) wohlgemerkt – ausgedient.
Die Frage ist also nicht, wie der Nationalstaat erhalten werden soll, sondern wie die sozialen Kämpfe eine Fortsetzung finden sollen. Eine Fortsetzung ohne die Ausschließungen, die sie bisher als Teil des nationalstaatlichen Diskurses charakterisiert haben. Dieser Prozess beinhaltet sowohl die Hinterfragung der eigenen Position innerhalb der Struktur als auch die Arbeit an einer politischen Subjektivierung innerhalb eines lange laufenden Prozesses. Es beinhaltet ein Hinausgehen, einen Sprung über die vier so bequemen eigenen Wände, eine Suche mit dem Ziel, eine gemeinsame Sprache der Veränderung wieder zu finden. Es beinhaltet weiters eine Wiederentdeckung der Organisationsfrage sowie eine nach den Prinzipien, aufgrund deren der gemeinsame Kampf aufgenommen werden kann. Eine mühevolle Arbeit, zugegebenermaßen, denn die Privilegien sind eben deswegen gesellschaftliche Privilegien, weil sie nicht allen gehören. Ohne dass diese in einem konfliktreichen Prozess – in dem Konflikte auch inszeniert werden, wo Allianzen sich herausbilden, wo Taktiken und Strategien der Veränderung sich die Hand geben – infrage gestellt werden, würden wir nur das Bestehende bestätigen. Egal wie lieb und nett, wie hilfreich und unerschüttert wir uns gegenüber unseren NachbarInnen, oder viel schlimmer gegenüber unserem „ausländischen Freund“ (der im Unterschied zu anderen „Ausländern“ immer nett ist) verhalten. Das hat nichts mit politischem Antirassismus zu tun, sondern nur mit den zwischenmenschlichen Benimmregeln. Antirassismus beginnt und endet dort, wo der „ausländische Freund“ als politisches Subjekt keine Hilfe mehr braucht und brauchen muss, weil er – ausgestattet mit Machtinstrumenten – seine ihm zustehenden Rechte einfordern, und noch wichtiger, verteidigen kann. Ohne dass er, wenn er das tut, in die Gefahr einer Abschiebung kommt. Antirassismus ist eine Arbeit an der Veränderung der Strukturen der Gesellschaft. Dies macht ihn politisch. Und ein Antirassismus, der nicht politisch ist, ist kein Antirassismus. Das, was für Antirassismus als Politik gilt, gilt auch für alle anderen politischen Subjekte: Arbeiten sie nicht an einer allgemeinen, für alle gültigen Veränderung der Strukturen der Gesellschaft mit dem Ziel, eine Demokratie für alle zu schaffen, sind sie eben nicht als politisch zu betrachten. Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit höchstens als kulturelle Kuriositäten der Geschichte.
Ljubomir Bratić ist Philosoph und Publizist, lebt in Wien.