Schau dich doch mal um
Drei Assoziationen zur Mayday!-Parade 2011? Wahnsinn, Hasen und Karotten.
Drei Assoziationen zur Mayday!-Parade 2011? Wahnsinn, Hasen und Karotten. Wahnsinn – so die diesjährige Mayday-Devise – wäre es, noch zu warten (z. B. mit dem Aufstand gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse). Der Wahnsinn wird außerdem offensichtlich beim Rückblick auf das, was prekäre Aktivist*innen in den Wochen bis zum 1. Mai und auf der Parade so alles aufgeführt haben. Die Hasen wiederum gehören als rabbits of precarity schon seit Jahren zum ebenso sagenumwobenen wie fixen Mayday-Grafik-Repertoire – in manchen Städten mehr, in anderen weniger. Zum Mayday 2011 (in der chinesischen Astrologie übrigens Jahr des Hasen) ist in Wien ein wahrer Hasenwahnsinn ausgebrochen: grimmiger Hase, kämpferischer Hase, bezaubernder Hase, Hase im Zylinder, Hasenmasken, auf der Nase, auf Plakaten, aus Schokolade in Supermarktregalen und beim Augartenspitz auf der Mayday-Route ganz in echt auf der Wiese hoppelnd – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und die Karotten? Nicht bloß Hasenfutter. Auf die Karotte vor der Nase, die das schöne Leben versprechen soll, so der Mayday-Aufruftext, pfeifen wir – und das haben Paradenteilnehmer*innen am 1. Mai auch bildlich vor Augen geführt. Eineinhalb Tonnen Bio-Karotten stellte ein Zusammenschluss von Großbäuer*innen aus dem Marchfeld hierfür zur Verfügung. Ein Wahnsinn eben ;-). Und außerdem kam es während der Parade zur Umbenennung einer rassistisch benannten Straße in „Kleine Möhrengasse“.
Mit einer Reihe weiterer Aktionen ist in Wien die fünfte Mayday!-Parade über die Bühne gegangen. „Auf zur Parade der Prekären!“ hieß es im Aufruf, „Wir sagen der Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse den Kampf an“. Oder anders formuliert: „Ausse zur Mayday-Parad’ in Wean! Hau’ ma uns olle auf a Packl, und moch ma wos gegen des Wieglwogl!“ Abgesehen von Übersetzungen auf Türkisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Englisch und Arabisch gab es den Aufruftext erstmals auch auf Wienerisch.
Wie hat sich diese Kampfansage nun aber auf der Straße dargestellt? Wie ist es dazu gekommen, dass sich der „tote Hund“ – wie ein Aktivist den Mayday zuletzt bezeichnete –nach zwei Jahren Pause wieder derrappelt hat? Hat er sich denn derrappelt?
Hop oder Drop
Zunächst: Zwei Jahre Pause stimmt natürlich nicht. Zwar gab es 2009 und 2010 keine Mayday!-Paraden, aber die in diesem Kontext initiierte Auseinandersetzung mit Prekarisierungsprozessen ging weiter. In dieser Zeit hat sich beispielsweise das PrekärCafé etabliert, das mit dem Anliegen, kontinuierlich und nicht auf eine Parade fokussiert am Thema zu arbeiten, aus der Mayday-Bewegung hervorgegangen ist – und war Anfang Februar 2011 wiederum Initiator*in eines ersten Vernetzungstreffens zum Abklären der Frage: „Mayday 011 – ja oder nein?“
Von hier an folgten für das sich gerade erst neu zusammensetzende Kollektiv drei intensive Monate bis zur Parade. Schlüsselmoment im Aufbrechen des anfangs auch zaghaften Umgangs miteinander war ein Überraschungseffekt in einem Plenum Anfang März. Eine Aktivistin spielte einen aus dem Mayday-Aufruftext entwickelten Song vor. Staunen und Begeisterung waren nicht schlecht und führten dazu, dass nur ein paar Tage später fast 20 Leute an einem Sonntagmorgen bereit standen, um beim Dreh für den geplanten Videoclip mitzumachen. Los ging es damit, mit Fahrrädern, Hund und sichteinschränkenden Masken eine Unterführung bergab zu düsen – später als Szene beim Titel-gebenden Refrain des Songs („Noch zu warten ist Wahnsinn!“) wiederzufinden. Synchron zu Hip-Hop-Beat und O-Ton des Songs zu rappen (oder jedenfalls so zu tun als ob …) blieb durchgehende Herausforderung – insbesondere dann, wenn es galt, gleichzeitig noch den Blick in die fahrende Kamera zu richten und in derselben Geschwindigkeit in die Pedale zu treten. Ungewohntes Multitasking fordert eben auch Stürze heraus. Dennoch: Spaß an der Sache begleitete Szene um Szene bis in die Abendstunden und an den Folgeterminen – und bringt die Akteur*innen noch Wochen später zum Schwärmen über die gemeinsamen Erlebnisse bei den Dreharbeiten wie auch über das grandiose Endergebnis. Ein riesiges Mayday-Graffiti am Donaukanal inklusive! Die stundenlange Arbeit daran ist im Video in wenigen Sekunden festgehalten, und das ist gut, denn bereits am Tag darauf war das Graffiti übersprayt.
Ein anderer Meilenstein in der Mayday-Vorbereitung war die Plakatidee, die sich an einem weltweit bekannten kapitalistischen Brettspiel orientiert. „Über 40 Felder hinweg können berühmt-berüchtigte Magistratsabteilungen aus-, das AMS an die Wand und auch sonst so manch riskante Situation durchgespielt werden“, hieß es in der Pressemitteilung. Apropos: Erstmals hat ein Wiener Mayday-Vorbereitungsplenum gezielt auf Medienarbeit gesetzt. Während in früheren Jahren Anfragen von Journalist*innen manchmal nicht einmal beantwortet wurden (niemand zuständig, niemand interessiert und/oder kein Konsens im Umgang mit Medien), gab es diesmal mindestens zehn Radio-Beiträge, meist mit Aktivist*innen im Interview (u. a. das über eine Stunde dauernde FM4 Jugendzimmer). Auch manche Print- und Online-Medien griffen den Mayday auf. Insbesondere befreundete Freie Medien trugen ihren Teil dazu bei. Und MALMOE stürzte sich quasi noch mit einem druckfrischen Heft in Händen in die Produktion der nächsten Nummer, um in Rekordzeit mit einem fetten Themenschwerpunkt zu 1. Mai, Mayday und Prekarisierung rechtzeitig zur Parade mit einer neuen Ausgabe am Start zu sein.
Deine letzten Scheißjobs!?
Je näher der 1. Mai rückte, umso mehr verdichteten sich die Aktivitäten. Elf Tage vor der Parade wird (erstmals überhaupt im Wien?) zum Kinder-Wagen-Block aufgerufen, der Eltern und ihren „unbezahlten Praktikant*innen von morgen“ nicht nur Platz für politische Anliegen, sondern auch einen kurzweiligen sowie geschützten Raum für Kinder auf der Parade schaffen soll: „Wir sorgen für Getränke und Wechselgewand und für Spiel und Spaß. So soll es Luftballons, Seifenblasen, Straßenkreiden, Schminken, eine mobile Vorleseecke und Besuche der Clowns Army geben.“ Zehn Tage vorher wird eine Website für den Schutzheiligen aller Prekären eingerichtet und „San Precario’s virtueller Beichtstuhl“ eröffnet: „Hier können Prekäre Wissen um Alltagsstrategien gegen Ausbeutung und Prekarisierung mit anderen teilen oder Fürbitten für ein gutes Leben für alle aussprechen. Außerdem ruft San Precario alle Prekären auf, ihm von den letzten drei Scheißjobs zu berichten.“ Sieben Tage vorher Pre-Mayday-Party mit Arbeiter*innentönen, drei Tage vorher letztes Mayday-Vorbereitungs-Plenum, zwei Tage vorher Mayday-Rechtshilfeworkshop, ein Tag vorher tagsüber Transpi-Mal-Workshop und abends PrekärKino in der w417.
Auf Facebook überschlagen sich allmählich die Statusmeldungen in der „~Mayday Wien 011“-Gruppe und San Precario wütet auf diversen Pinnwänden, um die latest Mayday-Messages zu verbreiten. Es wird getwittert, Mayday-TV auf dem PrekärCafé-YouTube-Kanal ist längst eingerichtet. Die Website (mit neuer Domain statt vormals euroMayday.at, um das „Euro“ am Mayday endgültig hinter sich zu lassen) glänzt von Tag zu Tag mit immer neuem Content. Pickerl, Buttons und Shirts ergänzen die Produktpalette.
Wirf dein prekäres Leben über Board
Und dann? Die Schlafdefizite sind am Zenit, das Zehn-Jahre-Quote-Fest in der Nacht davor trägt noch seinen Teil dazu – wie auch zur Last-Minute-Mobilisierung – bei: Gegen Mitternacht läuft das Mayday-Video im Riesenformat vor vollem Saal im brut. Aber dann ist es wirklich soweit: Am 1. Mai um 14 Uhr heißt es zunächst „Mit HipHop die Verhältnisse zum Tanzen bringen“. Liveacts von EsRap & Enes (Wien) sowie von TAPETE & Crying Wölf (Berlin) sorgen schon am Treffpunkt für Bewegung. Um kurz nach 15 Uhr kommen auch die (Kinder-)Wägen ins Rollen. Die Parade macht sich auf den Weg, erste Station: der besetzte Augartenspitz. An der Spitze der Parade: ein Wagenplatz-Wagen, der auf einem Transpi nicht nur fordert, sondern das am nächsten Tag anstehende Urteil über die 13 nach §278 (Kriminelle Vereinigung) angeklagten Tierbefreiungsaktivist*innen vorwegnimmt: „Folgendes: Freispruch.“
Auch der book bloc ist gewappnet. Hier formieren sich prekäre Wissensarbeiter*innen, die schon vor Wochen begonnen haben, bunte (Ritter-)Schilder aus Karton zu basteln und als Buchcover zu gestalten. Der book bloc sieht nicht nur klasse aus, sondern beginnt auf der Parade auch noch zu singen: „Probier’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit, wirf dein prekäres Leben über Boooooard!“ – do you remember Baloo, der Bär aus dem Dschungelbuch?
Am Praterstern (wo auch an Sonn- und Feiertagen die Billa-Kassen piepsen) thematisieren Aktivist*innen mit einer Mitmach-Aktion die prekären Arbeitsbedingungen in Supermärkten. Anschließend sind eine Menge Paradenteilnehmer*innen an Stickern mit Strichcodes zu erkennen. Emsig wird entlang der gesamten Mayday-Route geklebt und zwar Absperrklebebänder mit der Aufschrift „Achtung! Prekäre Zone!“. Ebenfalls die gesamte Route entlang machen Aktivist*innen des „1. März – Transnationaler Migrant_innenstreik“ in Form einer antirassistischen Stadttour auf Rassismen und Antisemitismen sowie Organisierung und Proteste dagegen aufmerksam. Die gesammelten Texte zu den insgesamt neun Stationen sind auch als kleines, buntes Flyerheft erschienen.
Weitere Attraktionen, vier Stunden und knapp sieben Kilometer später am Schlusspunkt beim Marcus-Omofuma-Stein – nach einem antirassistischen Redebeitrag, Arbeiter*innenliedern des Hor 29 Novembar und einer Art Doppelconference, um zu erklären, was es mit diesem Mayday eigentlich so auf sich hat – krachen endlich die Piñatas des 1.-März-Wagens, und es regnet Zuckerl: Süßes für alle! Die Parade ist zu Ende, das Fest beginnt. Ein paar Schritte weiter, in und vor der Akademie der bildenden Künste, steigt die Mayday-After-Party mit Vokü, DJs u.a.m.
Krrrrrise?
Ein Spektakel sondergleichen, aber alles eitel Wonne? Hier Euphorie, unmittelbar weiterzumachen (Prekarisierungsdebatten anheizen, Selbstorganisierung vorantreiben, Ausbeutungsverhältnisse aufmischen usw. usf.), dort die Sinnkrise hinsichtlich vermeintlicher Potenziale (es fanden sich ja nicht einmal im eigenen Umfeld 20 Kollektive, Vereine oder Gruppen, die auf Anfragen den Mayday-Aufruf zu unterzeichnen, überhaupt reagierten). Hier die Kritik (vom ersten Mayday an unverändert), dass auf der Parade kaum Inhalte transportiert wurden (wenig Transpis, kaum (hörbare) Redebeiträge etc.), dort positives Feedback von Passant*innen. Die einen sind begeistert, weil so viele bei der Parade waren, andere frustriert über die lächerlich geringe Zahl der Teilnehmer*innen. Aber was ist schon viel oder wenig – in Wien? Kommt es darauf an? Was ist überhaupt der Plan? Braucht es dazu eine Parade? Oder ist die Parade eben doch nicht zu unterschätzen als sinnstiftendes Moment (nicht mehr, nicht weniger?), um sich an Themen abzuarbeiten und zu organisieren?
Der Motivationspegel ist unbestritten hoch. Bis Anfang Juni haben bereits zwei Plena stattgefunden, erste Projekte sind in Arbeit (z. B. die beim F13 präsentierten Rotten Carrot Awards für die miesesten Arbeitsgeber*innen, ein Quiz zu prekärer Wissensarbeit etc.), und eine halbe Klausur steht bevor, um weitere Perspektiven auszuloten. Ob Mayday tatsächlich mehr ist als nur Parade? Ganz derrappelt hat sich der Mayday vielleicht noch nicht, aber, wie es eine Aktivistin bei der Paraden-Nachbesprechung ausdrückte: „Der tote Hund ist ganz gut spazieren gegangen.“ Be aware!
Daniela ist seit 2005 im Mayday Wien aktiv und Teil des PrekärCafé.
Links:
Mayday Wien
noch zu warten ist wahnsinn (~Mayday WIEN 011)
Video
Anarchistisches Radio: 01/05/2011 – Gegen die Arbeit (Mayday-Aufruf in bestem Wienerisch ab Min. 6:20)