Ästhetik oder Antiästhetik?
Avantgardistische künstlerische Praktiken zeichneten sich für gewöhnlich dadurch aus, das konkrete Umfeld ihres Erscheinens zumindest herausfordern, wenn nicht gar provozieren oder schockieren zu wollen. Daran knüpfen sich unzählige Mythen, und doch oder gerade deshalb sind selbst ihre radikalsten Erscheinungsformen inzwischen museal ablegbar und kanonisierbar geworden.
Avantgardistische künstlerische Praktiken zeichneten sich für gewöhnlich dadurch aus, das konkrete Umfeld ihres Erscheinens zumindest herausfordern, wenn nicht gar provozieren oder schockieren zu wollen. Daran knüpfen sich unzählige Mythen, und doch oder gerade deshalb sind selbst ihre radikalsten Erscheinungsformen inzwischen museal ablegbar und kanonisierbar geworden. Ungeachtet der offensichtlichen Historizität dieses Modells von "Avantgarde" als einer pur oppositionellen, dem Ästhetizismus von Kulturindustrie und Kunstbetrieb entgegenstehenden Praktik, halte ich den Aspekt der Herausforderung, Befragung und z.T. auch Zurückweisung des im ausdifferenzierten Geflecht bürgerlicher Gesellschaften zugewiesenen Ortes von Kunst auch für fast alle zeitgemäße künstlerische Praktiken für relevant. "Fast alle" heißt in diesem Zusammenhang, dass mir die Abgrenzung zwischen inhaltsbezogenen künstlerischen Methoden und traditionellen, meist vorwiegend formal diskutierten Ansätzen nicht überzeugend erscheint, und dass es durchaus darum gehen kann, beide miteinander in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Denn kaum eine künstlerische Arbeit lässt sich mehr rein über ihre Form-Inhalt-Beziehungen beschreiben, überall geht es um das Verhältnis von Situation und Referenz.
Gerade wenn Begriffe wie "Site Specificity" oder "Institutional Critique" als Attribute neuer, von den traditionellen "Medien" abzusetzender Kunstgattungen verhandelt werden, verlieren sie jene Qualität, die sie einst zu versprechen schienen, nämlich eine gewisse Operationalität von künstlerischer Arbeit als eine Form gesellschaftlicher Praxis. Mit anderen Worten: das Gesellschaftliche muss nicht mehr entworfen, problematisiert oder erstritten werden, sondern kann intentional beansprucht, als ein eigener Zuständigkeitsbereich ausgewiesen werden. Damit reduziert sich das Gesellschaftliche wieder auf einen subjektiven Akt der Behauptung, der sich dabei noch progressiv fühlen kann. Schlimmer noch in diese Richtung fungierten Begriffe wie Kontextkunst oder Installation Art. Hier zählt nur mehr das Label, und jede Differenzierung zwischen totalisierenden und punktuell intervenierenden Praktiken wird verwischt.
Für ein kunstkritisches Argumentieren ist es daher entscheidend, Gattungsbegriffe so gut wie möglich zu vermeiden, und künstlerische Arbeitsweisen zu erfassen, die sich solchen Einordnungsversuchen systematisch zu entziehen versuchen. Möglicherweise lässt sich deren Operationalität besser an den vielfach problematisierten Kategorien der philosophischen Ästhetik 1) festmachen als an den definitorischen Versuchen der Kunstkritik. Denn Avantgarde stellte wesentlich die kontemplative und konsumistische "Erfahrung" von Kunstwerken in Frage, jene bis heute zentrale Kategorie insbesondere rezeptionsorientierter Ästhetiken. Der aggressive, antiästhetische Anspruch war jedoch nie frei von einer gewissen Ambivalenz hinsichtlich des eigenen ästhetischen Engagements: der taktisch schlechte Geschmack erwies sich bald als der wirklich gute, und der Diagnose vom Tod der Kunst folgte meist unmittelbar eine affirmative Lebens-Behauptung. 2) Die Metaphern von Tod und Leben sind in diesen scheinbar so polaren Konzepten doch auf das Engste miteinander verknüpft. Ihr so offensichtlich militanter Antagonismus erschöpft sich leicht in subjektiver Selbstbehauptung und schützt keineswegs davor, nicht auch einmal richtig gefragt zu sein in den Wechselfällen symbolisch aufgeladener, kultureller Ökonomien. 3)
Zwar gibt es zweifellos ein Jenseits der Ästhetik in gesellschaftlicher Praxis, die selbst wiederum keineswegs rein und real wäre. Wichtig zu verstehen ist jedoch, dass diese, zumeist gerade als rein und real vorgestellte Praxis jeweils nur als projektiver Fluchtpunkt der Avantgarden 4) fungiert – sie repräsentiert genau das Phantasma des Realen, welches die symbolische Spirale der Politik-Kunst antreibt. Denn im Glauben an das politische Potenzial ästhetischer Praxis reinszeniert sich in erster Linie der Glaube an die Bedeutsamkeit von Ästhetik überhaupt, ihr letztlich kaum verhüllter, idealistischer und versöhnender Anspruch. 5)
Der Vorteil von Adornos "ästhetischer Negativität" bestand zumindest darin, das gesellschaftspolitische Moment von Kunst im Diesseits der Ästhetik anzusiedeln. Wenn es dementsprechend heute nicht mehr darum gehen kann, die Grenzen zwischen Ästhetik und Antiästhetik, zwischen Kunst und Politik, aber auch auf Seiten der Ästhetik zwischen der Negativität Adornos und der hermeneutischen Positivität von Verstehen und Genießen voluntaristisch aufzulösen, so kann es doch darum gehen, diese Grenzen auszuloten, spürbar zu machen und an ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie bedingen, zu verhandeln. Denn immerhin leistete der antiästhetische Impuls Entscheidendes, nämlich die gegebene Erfahrungswelt, das reibungslose Funktionieren bürgerlicher Institutionalisierung, zumindest punktuell aufzubrechen, ohne gleich mit Gegenmodellen zur Hand zur sein. 6)
Dies kann meiner Meinung nach immer noch als Ausgangspunkt verstanden werden, das Projekt Avantgarde gleichzeitig dekonstruktiv und produktiv neu zu konfigurieren. Denn Kunst ist heute dort interessant, wo sie ihr eigenes Erscheinen weder fraglos negiert noch polternd behauptet, sondern wo sie Räume schafft, die ihre eigene prekäre Existenz begründen helfen. Dabei sind Institutionen nicht nur als verdinglichende Gegenbilder zur Spontaneität künstlerischer oder politischer Praxis zu verstehen, sondern als ein Wechselspiel instituierender und institutionalisierender Kräfte 7), an denen sich das Politisch- oder auch Unpolitisch-Werden gesellschaftlicher Praktiken und das Sichtbar- bzw. Unsichtbar-Werden sozialer Gegensätze und Konflikte überhaupt erst festmachen lässt.
Das Testen solcher Grenzen, das Experimentieren weniger im unmittelbar technischen als im sozialtechnischen Sinn, scheint mir produktionsästhetisch noch viel zu wenig reflektiert. Ästhetische und politische, inhaltliche und figurative Momente sollten dabei so genau wie möglich unterscheidbar bleiben, ohne sie ein für alle mal definitorisch festzuschreiben, und gleichzeitig in ihrer Bezogenheit aufeinander untersucht werden. Darin liegt auch kein prinzipieller Einwand gegen den rezeptionsästhetischen Erfahrungsbegriff, vielmehr liegen der naturwissenschaftliche Experimentbegriff und der geisteswissenschaftliche Erfahrungsbegriff wiederum dies- und jenseits einer imaginären Grenze, die es zu bearbeiten gilt. 8)
Anmerkungen
1) Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Ffm. 2003
2) nach dem Muster: "Die Kunst ist tot. Es lebe die Maschinenkunst Tatlins!".
3) Auch wenn bestimmte Zeiten ein mehr direktes, d.h. strategisch vereinfachtes Handeln einzufordern scheinen, so scheint mir augenblicklich doch eher das Gegenteil der Fall zu sein: militante Rhetoriken versprechen am ehesten Ausstellungen, Jobs, symbolischen Kredit.
4) Hal Foster, The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture, New York 1983, S. XV f.
5) Paul de Man, Kant und Schiller, in: Paul de Man, Aesthetic Ideology, Minneapolis, London 2002, S. 129-162
6) zur Diskussion unterschiedlicher Erfahrungsbegriffe in der Ästhetik siehe: Umberto Eco, Form als Engagement, in: U. Eco, Das offene Kunstwerk, Ffm. 1977, S. 237-292
7) Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Ffm. 1984
8) in diesem Sinn scheinen mir "Autonomie" und "ästhetische Erfahrung" Grenzbegriffe zu sein, die sich weder überwinden noch einfach positiv behaupten lassen.
Helmut Draxler ist Kunsthistoriker und Kritiker, unterrichtet an der Merz-Akademie in Stuttgart.