Auch Wien, auch Wien muss brennen …
In dem 1973 im englischsprachigen Original erschienen Essay „Städte und Aufstände“ stellte der Historiker Eric Hobsbawm Überlegungen zum Verhältnis von historischen Städtebau und Stadtentwicklung und deren Einfluss auf großstädtische Revolten und Aufstände an.
„Die Angst, die durch reales oder auch nur imaginiertes ‚Verbrechen‘ evoziert wird, bildet sich nicht nur in den zahlreichen ästhetischen Produktionen ab, die der psychischen Bewältigung des Verbrechens dienen, wie beispielsweise im Genre des Kriminalromans oder des Detektivfilms, sondern auch in unzähligen präventiven bautechnischen, architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen.“ (Zinganel o.J., 2)
In dem 1973 im englischsprachigen Original erschienen Essay „Städte und Aufstände“ stellte der Historiker Eric Hobsbawm Überlegungen zum Verhältnis von historischen Städtebau und Stadtentwicklung und deren Einfluss auf großstädtische Revolten und Aufstände an. Ausgehend von den städtebaulichen Strukturen von Paris und Wien (wo er einen Teil seiner Jugend verbrachte) um 1900 ging Hobsbawm den Fragen nach, wie eine moderne Stadt strukturiert sein müsse, um Aufstände zu begünstigen, wie sich die Angst vor Aufständen im Stadtbild planerisch manifestieren würde und wie die ideale Stadt für eine erfolgreiche Revolte aussehen sollte. Im folgenden Text werde ich versuchen, diese Hypothesen kurz zu skizzieren und anhand des historischen Stadtbildes von Wien, vor allem der Ringstraße und der Inneren Stadt, konkreter zu illustrieren.
Städtebauliche Faktoren, die Aufstände begünstigen
Nach Hobsbawm sollten folgende Kriterien erfüllt sein, um Aufstände zu begünstigen: Eine Stadt sollte dicht besiedelt, aber nicht zu großflächig verstreut sein. Im Fall eines Aufstandes würde dies zur Folge haben, dass eine große Menge an Menschen auch zu Fuß relativ schnell an neuralgische Punkte strömen könnte. Der Sitz der Herrschenden sollte sich im Zentrum befinden und nicht außerhalb der Stadt oder am Stadtrand, da deren Sitz als symbolisches Protestziel der Staatsmacht somit besser fassbar wäre und militärisch nicht so gut abgeschirmt werden könne. (Für die Herrschenden wäre es wiederum wichtig, in der Stadt zu residieren, um „volksverbundener“ und nicht so „abgehoben“ zu wirken. Darum residierten die Habsburger auch in der Hofburg und nicht etwa im weniger angreifbaren Schönbrunn). Die Stadt sollte von keinem großen Fluss in der Mitte geteilt werden, da Brücken leicht militärisch besetzt werden können, um die revoltierende Bevölkerung im Fall des Falles daran zu hindern, rasch in einen anderen Stadtteil zu wechseln bzw. sich gegenseitig Beistand zu leisten. Massentransportmittel sollten ausreichend vorhanden sein, um Arbeiter_innen und die subalternen Bevölkerungsschichten, also die „gefährlichen Klassen“ aus den Vororten schnell ins Zentrum des Geschehens bringen zu können. Außerdem können diese Transportmittel (in erster Linie Straßenbahnen) bei Bedarf umgeworfen und angezündet werden, um damit Barrikaden zu errichten. Zudem seien Universitäten im Stadtzentrum immer gefährliche Ausgangspunkte für Unruhen, während Universitäten, die weit außerhalb der eigentlichen Stadt errichtet werden, für Unruhen keinen günstigen Einfluss hätten.
Stadterneuerung infolge der Ereignisse von 1848
Im Falle des Beispiels von Wien sind alle diese Kriterien spätestens seit den Ereignissen von 1848 und der darauffolgenden Stadterneuerung erfüllt, wenngleich diese Erneuerung unter dem Vorzeichen diverser moderner sicherheitspolitischer Konzepte der damaligen Zeit vonstattenging. Nachdem der neu gekrönte Kaiser samt Hof im Zuge der Oktoberrevolte 1848 Hals über Kopf aus Wien fliehen musste, war selbst für die k u. k-Militärstrategen klar, dass der Feind nicht mehr in erster Linie als ein „außerhalb“ lokalisiertes Bedrohungsszenario imaginiert werden konnte (Stichwort „Türkenbelagerung“, unter deren Eindruck die Stadtmauer rund 150 Jahre zuvor sogar noch modernisiert und ausgebaut wurde), sondern von nun an im „Inneren“ zu suchen sei. Im Zuge der Oktoberereignisse hatte die Bevölkerung von Wien aus Solidarität mit Aufständischen in Ungarn zu den Waffen gegriffen und sich ein großer Teil des in der Stadt verbliebenen Militärs auf die Seite der Bevölkerung gegen das Herrscherhaus gestellt. Die Hofburg wurde gestürmt und Kriegsminister Latour gar an einer Laterne vor seinem eigenen Ministerium aufgehängt (der im Wienerischen bis heute verwendete Begriff „latternisiern“ stammt von diesem Ereignis). Spätestens nach der blutigen Rückeroberung der Stadt durch kaisertreue Truppen, im Zuge derer es mehr als 2.000 Tote gab, war also allseits klar geworden, dass die auf die Babenberger zurückgehende Stadtmauer nicht mehr zeitgemäß war. Gegen die unter dem Eindruck der Französischen Revolution stehenden Umtriebe boten die architektonischen Sicherheitskonzepte des alten Regimes, wie sie sich in der Stadtmauer symbolisch manifestierten, keinen adäquaten Schutz mehr.
Wenngleich an die Revolution selbst nicht mehr viel erinnert, kann die Angst vor der eigenen Bevölkerung, das kaiserliche Trauma von 1848, noch heute im Stadtbild abgelesen werden. In der Stadterneuerung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten in Wien militärische Aspekte daher eine große Rolle. Die Stadtplaner_innen, damals wie heute oftmals verlängerte Arme und somit Kompliz_innen der Polizei, sollten die Aufstandsgefahr möglichst vermindern bzw. zumindest die blutige Niederschlagung von Unruhen erleichtern. So erteilte 1857 Kaiser Franz-Josef schließlich per Dekret den Befehl zur Abtragung der Mauer und zur Verbauung des Glacis (einer freien, zur militärischen Verteidigung genutzten Fläche rund um die Mauer). Die Überlegungen hinter dem Dekret waren zum einen, dass eine Trennung zwischen Vorstädten und Innerer Stadt nicht mehr zeitgemäß sei und der Entwicklung der Stadt schade – zur ersten großen Stadterweiterung (der Eingliederung der sogenannten Vorstädte in die Bezirke 2 bis 8) war es 1850 gekommen. (1) Zum anderen war der militärische Charakter des zu bauenden Boulevards (dieser französische Begriff leitete sich sinnigerweise vom deutschen Wort „Bollwerk“ ab) wichtig.
Hand in Hand mit dem Abriss der Stadtmauer ging die Planung, ein „Festungsdreieck“ zu errichten. Um die Innere Stadt wurden drei Kasernen gebaut: die (heute nicht mehr bestehende) Franz-Josefs-Kaserne, die Rossauer-Kaserne und – etwas außerhalb – das Arsenal. (2) Alle drei Kasernen wurden in der Nähe von großen Bahnhöfen gebaut, um die Truppenverstärkung und -verschiebung zu erleichtern und im Falle eines Aufstandes die Truppen rasch zusammenziehen zu können. Die Donaukanalbrücken am Franz-Josefs-Kai wurden so gebaut, dass sie von den Kasernen aus leicht unter Artilleriebeschuss genommen bzw. militärisch besetzt werden konnten. Die Ringstraße selbst weist auch zahlreiche bis heute erhaltene „Sicherheitsmerkmale“ auf. So ist sie als Oktogon mit Teilabschnitten von jeweils 800 Metern bis zur nächsten Kurve geplant. Aus militärischen Gesichtspunkten bot dies eine gerade Schusslinie, um auf die revoltierende Bevölkerung schießen zu können. Mit einer Breite von rund 57 Metern und rund vier Kilometern Länge war die Ringstraße zur Zeit ihrer Erbauung eine der größten Prachtstraßen der Welt. Gerade ihre Breite ist aber nicht in erster Linie ihrer Repräsentativität geschuldet, sondern sollte den Bau von Barrikaden im Fall eines Aufstandes erschweren und den Einsatz von Soldaten erleichtern. Um den Burg- und Volksgarten bzw. Heldenplatz befinden sich bis heute hohe – an Lanzen erinnernde – Metallzäune, die verhindern sollten, dass Aufständische sie überwinden, hinter denen aber zugleich auch Soldaten postiert werden konnten, um in Richtung der Ringstraße das Feuer zu eröffnen. Im ursprünglich als englischer Landschaftsgarten angelegten Volksgarten, der seit 1848 auch für das „einfache Volk“ öffentlich zugänglich war, wurden sogar Hecken und Büsche weitgehend entfernt und durch Baumreihen ersetzt, um verdeckte „Verschwörungen“ zu unterbinden. Selbst die eher spät errichtete Universität wurde so gebaut, dass vor dem Gebäude möglichst wenig Raum zur Straße verblieb, um Versammlungen von Student_innen vor dem Gebäude zu erschweren.
Aufstände und Städteplanung nach 1848
Auch diese moderne Sicherheitsarchitektur konnte Aufstände und Unruhen nach 1848 freilich nicht verhindern. Sollten die Prunkbauten entlang des Rings in erster Linie Adel und die neuentstandene Großbourgeoisie repräsentieren, wurde der von der Obrigkeit (in Wien „die Höh’” genannt) als bedrohlich empfundene „Freiraum“ Straße im Laufe der Zeit immer mehr als Versammlungsort der architektonisch sonst nicht repräsentierten Klassen genutzt: Die Arbeiter_innenbewegung, bis heute aber auch andere soziale Bewegungen nutzten den Ring für Paraden, Aufmärsche und Demonstrationen, die historisch meist vom Rathaus starteten. (3)
So kam es im Dezember 1869 am Ring zur ersten Massendemonstration von Arbeiter_innen, die spontan die Arbeit niederlegten, um die steigende Macht der Arbeiter_innenschaft zu demonstrieren und damit der Forderung nach einer Legalisierung der eigenen Vereine und des Versammlungsrechts Nachdruck zu verleihen. Delegierte der Protestierenden wurden von liberalem Ministerpräsidenten empfangen, der infolge auch ein neues Koalitionsgesetz verabschiedete, wenngleich schon 1870 ein massiver Rückschritt für die Bewegung erfolgte. Im Zuge des Wiener Hochverratsprozesses gegen 60 Arbeiterführer, die man für die Organisation der Großdemonstration verantwortlich machte, wurde an die Soldaten vor dem Landesgericht scharfe Munition ausgegeben, da man fürchtete, dass der Prozess von aufgebrachten Arbeiter_innen, die sich vor dem Gebäude am Ring versammelt hatten, gestürmt werde. Hohe Haftstrafen und eine verstärkte Sozialist_innenhetze zwangen viele Aktivist_innen dazu, Österreich zu verlassen. 1884 wurde schließlich der Ausnahmezustand über Wien und Niederösterreich verhängt und alle Versammlungen von Arbeiter_innen untersagt. 1890, der Ausnahmezustand war zwischenzeitlich wieder aufgehoben worden, wurde schließlich zum ersten Mal der 1. Mai begangen und avancierte zur größten Massenkundgebung, die es bis dahin in Wien gegeben hat. Ziel des Streiks war es, neben der Durchsetzung des Achtstundentags und der Einführung des Allgemeinen Wahlrechts den 1. Mai als arbeitsfreien Tag durchzusetzen. Zentraler Schauplatz der Mobilisierung war auch hier die Ringstraße.
Auch die Septemberunruhen von 1911 nahmen hier ihren Ausgangspunkt: Im Anschluss an eine Demonstration gegen Lebensmittelteuerungen vor dem Rathaus bzw. in der Innenstadt wurden die Demonstrant_innen von Militär und Polizei in die proletarischen Vororte – allen voran, aber nicht nur nach Ottakring – gedrängt, wo es zu einem dreitägigen Volksaufstand kam. Zum ersten Mal nach 1848 wurde der Schießbefehl gegeben, um den Aufstand blutig zu beenden. Auch die beiden sogenannten kommunistischen Putschversuche von 1918 (Ausrufung von Räten in Wien) und 1919 (abermals Proteste auf Grund der Teuerungen in Wien) hatten ihre zentralen Schauplätze in der Nähe des Rathauses und der Universität. Der zentrale Unterschied zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: 1919 wurde der Schießbefehl in der Hörlgasse unter einem sozialdemokratischen Innenminister ausgegeben.
Fußnoten
(1) 1890 kam es zur zweiten großen Stadterweiterung im Zuge derer die sogenannten Vororte eingemeindet wurden (im Wesentlichen die heutigen Außenbezirke).
(2) In dem festungsartig errichteten Arsenal wurden von nun an Waffen und Munition des Militärs gelagert, nachdem 1848 das auf der Freyung gelegene Zeughaus gestürmt und die darin gelagerten Waffen zur Bewaffnung des Volkes gegen die kaiserlichen Truppen genutzt worden waren.
(3) Während Kaiserhaus, Kirche, Militär und Bauernschaft traditionell den Heldenplatz für sich beanspruchten.
Rainer Hackauf lebt und arbeitet in Wien, ist in der Gruppe PrekärCafe aktiv und macht hin und wieder Stadtführungen zum Thema des vorliegenden Artikels.
Literatur
Hobsbawn, Eric J. (1977): „Städte und Aufstände“. In: Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. (Suhrkamp).
Dmytrasz, Barbara/Madzak, Klaus (2004): „Die Wiener Ringstraße – Geschichte und Bedeutung“. In: Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie) ÖGL, 48. Jg. 2004, H. 2. Online PDF
Zinganel, Michael (o.J.): „Crime does pay! Die Produktivkraft des Verbrechens für Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung“. Online PDF
Zinganel, Michael (2003): REAL CRIME. Architektur, Stadt und Verbrechen. Wien (Edition Selene).