Der Mensch wird durch die Kultur befähigt ...

Greift man die Vorgabe des Tiroler Kulturförderungsgesetzes 2010 auf, dass „die kulturelle Grundversorgung in allen Regionen des Landes“ sichergestellt werden soll, ist immer noch offen, was als Grundversorgung zu betrachten ist und ab wann von mangelhafter Versorgung gesprochen werden müsste.

...über sich selbst nachzudenken: Zum TKI-Konzept zur Stärkung zeitgenössischer Kulturarbeit in den Regionen.

Im September 2012 hat die TKI (Tiroler Kulturinitiativen) im Auftrag des Landes Tirol ein umfangreiches Konzept zur Stärkung zeitgenössischer Kulturarbeit in den Regionen vorgelegt. (1) Dieser Auftrag hat möglicherweise einen seiner Ursprünge in der Tiroler Landesordnung von 1989, laut der das Land Tirol „für eine geordnete, den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen der Bewohner entsprechende Gesamtentwicklung des Landes“ zu sorgen hat. Welche kulturellen Bedürfnisse die Tiroler/innen genau haben, ist nicht weiter erhoben worden. Sofern man jedoch den Menschen das Bedürfnis nach Selbstreflexion zuschreibt, kann es nicht falsch sein, ihnen zeitgenössische Kulturangebote zu machen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihnen eigene kulturelle Aktivität und Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kultur ermöglichen.

1. Warum soll die zeitgenössische Kulturarbeit in den Regionen gestärkt werden? Soll sie woanders nicht gestärkt werden?

Wird „die Region“ als Gegensatz zur großen Stadt gedacht, ist es unumgänglich, eine Zwischenform zu benennen: die Übergangsräume (Speckgürtel, Verbindungszonen zwischen Städten, Schlafstädte …) und die Kleinstädte mit (bau-)kultureller Tradition. Der Begriff „rurbaner Siedlungstyp“ (Gerlind Weber) für diese Übergangsräume wirkt auf den ersten Blick sehr gelungen. Da er jedoch das Dilemma transportiert, weder das eine noch das andere zu sein, ist fraglich, ob die Bewohner/innen sich mit diesem identifizieren wollen.

Greift man die Vorgabe des Tiroler Kulturförderungsgesetzes 2010 (Erläuterungen) auf, dass „die kulturelle Grundversorgung in allen Regionen des Landes“ sichergestellt werden soll, ist immer noch offen, was als Grundversorgung zu betrachten ist und ab wann von mangelhafter Versorgung gesprochen werden müsste. Genügen die traditionellen kulturellen Aktivitäten, die in fast jedem Dorf zu finden sind (aber nicht unbedingt in den Übergangsräumen): Heimatmuseum, Blasmusik, Kirchenchor, Laienspielgruppe … und genügt schon eines davon? Die Tradition – also die bloße Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen – steht jedoch teilweise in Widerspruch zum Kulturverständnis der UNESCO, das sich das Tiroler Kulturförderungsgesetz zu Eigen macht, nämlich dass Kultur den Menschen befähigt, über sich selbst nachzudenken:

UNESCO Kulturkonferenz Mexiko 1982: „Deshalb stimmt die Konferenz im Vertrauen auf die letztendliche Übereinstimmung der kulturellen und geistigen Ziele der Menschen darin überein, dass (…) der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.“

Es kann also interpretiert werden, dass die Traditionskultur, sofern sie sich nicht selbst reflektiert und zeitgenössische Zugänge verwendet, zur kulturellen Grundversorgung nicht ausreicht. Sie bedient andere menschliche Bedürfnisse, wie jenes nach Illustration der eigenen Herkunft und jenes nach rituellen Handlungen.

Dass der Fokus auf der Stärkung der zeitgenössischen Kultur liegen muss, geht aus den bisherigen Überlegungen hervor. Das gilt nicht nur für die Region, sondern auch für den urbanen Raum, denn auch dort liegt der Schwerpunkt der öffentlichen Kulturförderung mehr in der Vergangenheit denn in der Gegenwart. Das sieht auch Michael Wimmer in seiner umfassenden Analyse „Kultur und Demokratie“ (2011) so.

2. Wie viel ist genug?

Wenn die Sicherstellung der kulturellen Grundversorgung in allen Regionen gefordert wird, sagt dies für sich noch nichts über die dafür notwendige Dichte aus. Sollen jedoch alle Menschen Zugang zur Kultur haben, unabhängig zum Beispiel von Alter und Mobilität, erscheint es zweckmäßig, dass es in den Regionen zumindest eine Initiative pro Kleingemeinde (so wie ursprünglich die Traditionsvereine) geben sollte. In größeren Gemeinden bedarf es eines entsprechend differenzierteren Angebots. Für die Übergangsräume, für den rurbanen Siedlungstyp, müssten eigene Überlegungen angestellt werden, auch über zumutbare Wegstrecken. Gerade dort, wo viel mehr Menschen leben als in der einzelnen Kleingemeinde, die Identität der Gegend aber schwach ausgeprägt und vom städtischen Zentrum überlagert wird, böten eigene kulturelle Aktivitäten, die sich inhaltlich mit den Fragestellungen und Problemen der Gegend befassen, die Chance einer Profilierung und Identitätsbildung.

Wie jedoch kann erreicht werden, dass Menschen sich kulturell betätigen, dass Initiativen entstehen? Das Land Tirol stellt sich das so vor: „Aufgabe des Landes ist es im Wesentlichen, Kultur zu ermöglichen, zu fördern und günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich diese entfalten kann.“ (Erläuterungen zum Kulturförderungsgesetz) Worin günstige Rahmenbedingungen konkret bestehen, erläutert das Konzept der TKI: (a) Eine starke städtische Kulturszene setzt Impulse auch in ländlichen Regionen. (b) Da zeitgenössische Kultur oft Hör- und Sehgewohnheiten strapaziert, was die Akzeptanz erschwert, müssen die großen, gut dotierten Einrichtungen es sich ebenfalls zur Aufgabe machen, das Publikum an die Gegenwart heran zu führen und es weniger mit Altbekanntem bedienen. (c) Minderheitenpositionen aller Art (auch ästhetische) dürfen nicht als Bedrohung von Mehrheitspositionen wahrgenommen werden sondern als Bereicherung. (d) Niederschwellige Förderangebote würden es schnelllebigen, informellen Szenen ermöglichen, (vorübergehende) kulturelle Aktivitäten zu entfalten, ohne dass daraus eine Institution (eine klassische Kulturinitiative) wird. (e) Ehrenamtliches Engagement setzt ein Mindestmaß an professionellen Strukturen voraus, die erst einmal aufgebaut werden müssen und die nicht zum Nulltarif zu haben sind. (f) Touristische und andere wirtschaftliche Interessen lassen sich gut mit kulturellen Vorhaben verbinden. Doch das funktioniert nur, wenn Kooperationen auf Augenhöhe angestrebt werden und die Kultur nicht in den Dienst fremder Zwecke gestellt wird. (g) Wenn Gebietskörperschaften selbst als Kulturveranstalter tätig werden, treten sie in (unfaire) Konkurrenz zu privaten Kulturveranstaltern, weil sie bessere Zugänge zu den unterschiedlichsten Ressourcen haben.

Eine zentrale These, welche die TKI mit ihrem Konzept zur Stärkung zeitgenössischer Kulturarbeit in den Regionen offenbar vermitteln konnte, ist, dass regionale Kulturarbeit stark von konkreten Personen getragen und abhängig ist. Die TKI selbst wird das weniger überrascht haben als die zuständige Landesrätin Beate Palfrader (Echo 12/2012, Seite 63). Die Schlüsse, die sie daraus zieht: Politik und Verwaltung müssten sich auf die Rahmenbedingungen der regionalen Entwicklung konzentrieren. Das könnte auch heißen: Weil zeitgenössische Kulturarbeit zu den Rahmenbedingungen für regionale Entwicklung gehört, müssen Politik und Verwaltung sich auf deren Gedeihen konzentrieren und den „Leistungsträger/innen“ der regionalen Kultur auch finanziell unter die Arme greifen, doch da übt sich die Landesrätin in Zurückhaltung (Tiroler Tageszeitung vom 22.10.12).

Da Kulturarbeit insgesamt ja davon abhängig ist, dass jemand sie tut und dass sie wertgeschätzt wird, wäre es notwendig, dass kulturelle Regungen in den Regionen von der zuständigen Interessenvertretung, aber auch vom Land sorgfältig registriert und vorausschauend gefördert werden. Eine solche Wertschätzung würde sich in der jeweiligen Gemeinde auswirken, weil das Land als übergeordnete Gebietskörperschaft maßgeblichen Einfluss auf Werthaltungen und Förderverhalten von Gemeinden ausübt.

Das Land Tirol als jene Gebietskörperschaft, die sich für die Kulturförderung in den Regionen hauptsächlich zuständig erklärt, konzentriert jedoch seine eigenen Einrichtungen – so wie auch anderswo üblich – auf die Landeshauptstadt. Auch dadurch gibt es in den Regionen weniger Personen, die dafür bezahlt werden, Kulturarbeit zu machen. Eine besondere Wertschätzung des Zeitgenössischen lässt sich auch nicht aus der Verteilung der Fördermittel ablesen. Ein wertschätzender Umgang mit Kulturschaffenden verbietet eine Unterordnung kultureller Aktivitäten unter wirtschaftliche Interessen.

3. So kann die Aufgabe angepackt werden

„Kulturarbeit am Land heißt zunächst, das nötige Selbstbewusstsein zu entwickeln, um dann jene kreativen, strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen, die notwendig sind, eine vor Ort entwickelte Produktion, Präsentation und Vermittlungsstrategie über die Region hinaus zu tragen“, schreibt die TKI und führt drei Beispiele an, wo das gelungen ist:

Die Kulturinitiative Gmünd in Kärnten hat die bekannte Methode der Gentrifizierung genützt, Jahrzehnte bevor der Begriff geboren war: Sie hat die Kleinstadt Gmünd für Kunst- und Kulturschaffende attraktiv gemacht. In der Folge haben diese die Stadt für ihre eigenen Bewohner/innen und für Besucher/innen anziehend gemacht. Was hier so einfach und einleuchtend klingt und schon oft funktioniert hat, war das Ergebnis von zäher Aufbau- und geduldiger Kommunikationsarbeit. Die Stadtgemeinde selbst befand sich in einer verzweifelten Situation, in der jeder Anstoß willkommen war.

Der Kulturentwicklungsprozess in Wörgl wurde in Gang gesetzt, indem die Themen Kultur und Bildung in der lokalen Agenda 21 verankert wurden. Dies ermöglichte einen ernsthaften, auf nachhaltige Ziele gerichteten Prozess, an dem alle Kulturvereine und Kulturschaffenden beteiligt waren. Deren Expertise wurde anerkannt und für die allgemeinen Ziele der Stadt (Wohlbefinden und Lebensqualität der Bevölkerung) nutzbar gemacht.

Über das dritte Beispiel, die Regionale Steiermark, zu schreiben, wäre unbefriedigend, da sie kurz nach Fertigstellung des TKI-Konzepts vom steirischen Kulturlandesrat Christian Buchmann abgeschafft wurde.

Was ist die Alternative zur Stärkung des ländlichen Raums (auch) mittels zeitgenössischer Kultur? Die Aufgabe dünn besiedelter Landstriche, wo jede Art von Infrastruktur mehr kostet als in den Ballungsräumen. Doch dazu will sich die Politik nirgendwo bekennen.

Fußnoten

(1) vgl. www.tki.at

Juliane Alton ist Geschäftsführerin der IG Kultur Vorarlberg und im Vorstand der IG Kultur Österreich