Die EU in der Krise
Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Münster: Westfälisches Dampfboot 2012
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Krise. Lange Zeit haben sich Wissenschafter_innen mit Demokratie- und Legitimationsdefizit in der EU beschäftigt – meist, wie eben auch im politischen System so üblich, hinter verschlossenen Türen. Aber endlich wird das Thema aufgrund der nun für alle spürbaren, weil auch materiellen Krise, in der Öffentlichkeit diskutiert. Dieser Umstand kommt dem vorliegenden Band zugute (Rezensionen in taz und Falter, Diskussionen zum Beispiel an der Uni Wien, Verkaufszahlen).
Angelpunkt der Auseinandersetzung mit den Krisen in der EU ist Kapitalismuskritik. Die Herausgeber_innen des Bandes entstammen der Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und zählen sich selbst zu einer neogramscianischen, historisch-materialistischen Forschungstradition. Politisch sind sämtliche Autor_innen einem linksliberal-alternativen Spektrum zuzuordnen. Dementsprechend kommt es hin und wieder zu konkreten Aufrufen zum zivilen Ungehorsam bis hin zur Ablehnung der EU als Ganzes.
Sämtliche Beiträge sind spannend zu lesen und stellen eine Bereicherung dar. Im ersten Beitrag geht es um eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Hegemonie“ (Sonja Buckel, Fabian Georgi, John Kannankulam, Jens Wissel) und die reale Wirkmächtigkeit verschiedener Hegemonieprojekte. Lukas Oberndorfer geht noch weiter und führt basierend auf Nicos Poulantzas den Begriff des autoritären Wettbewerbsetatismus für die EU ein. Er zeigt, dass zum Beispiel die neue „Economic Governance“ gegen EU-Recht verstößt. Sebastian Wolff schließt im letzten Artikel an diese beiden Beiträge an, indem er mit einem raumtheoretischen Ansatz die EU als multiskalare Form europäischer Staatlichkeit beschreibt. Er zeigt, wie sehr eine solche Verfasstheit zur konstitutiven Krisenhaftigkeit der EU beiträgt – ein Highlight des Bandes.
Dazwischen tummeln sich empirische und essayistische Texte, die aber nicht minder interessant sind. Da wird zum Beispiel versucht, den Zusammenhang von Euro- und Schengenkrise mit einem generellen Nord-Süd-Gefälle in Europa zu erklären (Bernd Kasparek und Vassilis S. Tsianos). Auch wenn dies nicht wirklich gelingt, so beinhaltet der Beitrag interessante Details über das Grenzregime Europa.
An kritischer und theoretischer Fundierung fehlt es auch José Manuel Romero Cuevas Darstellung der Krise und Protestbewegung in Spanien. Die leere Forderung nach „echter bzw. wirklicher Demokratie“ hätte hinterfragt werden können. Theorielos, aber durchaus informativ, geht es weiter mit einem Bericht aus den unendlichen Weiten des EU-Lobbyismus (Pia Eberhardt). Die konkreten Beispiele zur Abhängigkeit des EU-Entscheidungsprozesses von ressourcenstarken, kapitalgesteuerten und vernetzten Akteur_innen lassen einen doch noch staunen. Ein Schwenk in die koloniale Vergangenheit und Gegenwart Europas schließt sich an. Anna Krämer stellt weniger eine Krise in der EU fest – sie will viel mehr das koloniale Europa in eine Krise führen.
Ein ambivalenter Band ist damit erschienen. Dem wissenschaftlichen Anspruch, der sich allein aus der Herausgeber_innenschaft ableiten lässt, wird mit drei Artikeln genüge getan. Von manchen Beiträgen ist frau hingegen überrascht, sie hier zu finden – ob aufgrund des divergenten Inhalts oder der stilistischen Verschiebung. Dennoch: Es lohnt sich der ein oder andere Blick, um mitzunehmen, was gefällt.
Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Münster: Westfälisches Dampfboot 2012