Für eine Epistemologie der Minderheiten?
Bei aller Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit der Forschungsfelder stehen in den Queer-Studies ebenso wie in den Disability- und Gender-Studies historische wie gegenwärtige Vergesellschaftungsformen des Somatischen im Mittelpunkt des Interesses. Ziel ist es, die normative Ordnung der Mehrheitsgesellschaft und die damit verbundenen soziokulturellen Techniken des Othering aufzuzeigen und auf diese Weise eine gesellschaftliche Veränderung zu ermöglichen.
Die Ordnung des Wissens
Mehr als 20Jahre nach dem „Unbehagen der Geschlechter“ (vgl. Butler 1990) scheint sich der Trouble mit dem Gender in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Ein Umstand, der dazu anregt, einen kritischen Blick zurück nach vorn zu werfen, deutet doch das laute Schweigen einer langjährigen Kontroverse um das queere Verständnis von Geschlecht einen Wandel im Umgang mit der Queer-Theory im akademischen Feld an. Im Rahmen dessen möchte ich eine Lesart der An- und Einbindung der Queer-Theory im Feld des Akademischen vorschlagen, der die Queer-Studies einmal als Teil eines allgemeinen Cultural Turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften interpretiert. Zum anderen möchte ich die nach wie vor prekäre Institutionalisierung der Queer-Studies im Kontext eines von mir so bezeichneten Epistemological Turns diskutieren, der meines Erachtens mit einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die Gender-, Disability- und Postcolonial-Studies einhergeht. Es ist der erkenntnistheoretische Deutungshorizont dieser Forschungsausrichtungen, so die These, der eine neuartige Epistemologie der Minderheiten begründet.
Denn sowohl die Queer-Studies als auch die Disability-, Gender- und Postcolonial-Studies sind alle politische, transdisziplinäre Studiengänge zu den jeweiligen soziokulturellen Phänomenen: Während die Gender-Studies aus einer feministischen Perspektive Geschlechterverhältnisse erforschen, steht die Analyse der heteronormativen Verfasstheit gesellschaftlicher Sexualitätsverhältnisse im Zentrum des Interesses der Queer-Studies. Gemeinsam sind diesen Forschungsausrichtungen ihre Herkunft aus und ihre enge Verflochtenheit mit den jeweiligen sozialen Bewegungen. So haben sich die Gender-Studies aus der modernen Frauenbewegung heraus entwickelt, und die Queer-Studies sind im Kontext der Homosexuellen- und Transgenderbewegung entstanden. Analog zum Erklärungs- und Analyseinstrumentarium der Gender- und Queer-Studies sind auch die Disability-Studies im Kontext einer emanzipatorisch ausgerichteten sozialen Bewegung (Behindertenbewegung) entstanden und haben einen gesellschaftskritischen Anspruch. So untersuchen die Disability-Studies Behinderung als soziokulturelle Problematisierungsweise und verstehen Behinderung nicht als Naturtatsache. Hingegen untersuchen die Postcolonial-Studies rassistische und ethnisierende Ein- und Ablagerungen in Politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft sowie (post-)koloniale Einflüsse in europäischen Gesellschaften.
All jenen Forschungsausrichtungen ist gemeinsam, dass aus der Perspektive von Betroffenen bzw. von Minorisierten (Frauen, Migrant_Innen, Lesben und Schwule sowie Transgender und Behinderte) Differenzverhältnisse und Achsen der Ungleichheit untersucht werden. Doch die Etablierung jener neuartigen Studien, deren jeweilige Forschungsausrichtungen die traditionellen Konzepte der Sozial- und Kulturwissenschaften vor neue Herausforderungen stellen und einen erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsel einläuten, erweist sich in der Hochschullandschaft des deutschsprachigen Europas als ein Parcours mit Hindernissen, den bislang hauptsächlich die Gender-Studies mit bescheidenem Erfolg absolviert haben. Insofern ist ein wesentliches Gründungsmoment aller eben genannten Forschungsausrichtungen, dass sie sich aus einer wissenschaftskritischen Tradition heraus entwickelt haben und erkenntnistheoretisch neue Wege beschreiten wollen. Nicht zuletzt aus diesem Grund möchte ich mich in diesem Beitrag jenen Ambivalenzen und Paradoxien zuwenden, die mit dem Anspruch verbunden sind, aus der Perspektive von Minorisierten mit einem macht- und herrschaftskritischen Ansatz Wissenschaft zu betreiben. D. h., ich möchte versuchen, eine Replik über das Einschreiben von minorisiertem Wissen in die Hochschullandschaft zu geben. Dabei beabsichtige ich, mich auf die für die Disability-, Gender- und Queer-Studies konstituierende Kritik an der engen Verflechtung von Wissenschaft und Herrschaft zu konzentrieren, die meines Erachtens einen Epistemological Turn im Feld des Akademischen einläutet.
(Ver-)Queere Epistemologie
So hat beispielsweise feministische Wissenschaftskritik die unreflektierten Voraussetzungen modernen rationalen Denkens und Wissens formuliert und durch diese kritische Reflexion die androzentristischen Grundlagen der Aufklärung und des daraus resultierenden Wissenschaftsverständnisses offen gelegt. Als Fundament feministischer Wissenschaftskritik kann somit ein Konzept von Wissenschaft als androzentristisches Herrschaftsinstrument angesehen werden. Gleichzeitig formierte sich der Feminismus in dieser wissenschaftskritischen Auseinandersetzung selbst als Wissenschaft. Speziell Vertreter_Innen des feministischen Poststrukturalismus wie Luce Irigaray und Hélène Cixous haben in diesem Zusammenhang das logozentrische Denken der Aufklärung als vorherrschende, um nicht zu sagen als herrschaftliche Denkform entlarvt. Dabei auf Derridas Theorem des Logozentrismus rekurrierend, befragen die beiden französischen Theoretiker_Innen die modernen Denk- und Wissenssysteme aus einer geschlechterkritischen Sicht. Gemeint ist damit die Kritik an der Idee der modernen Episteme, d. h. an der Dominanz eines ethnozentrischen Logos, einem Denken, so Cixous, das immer nur nach Oppositionen bzw. in einem Denken von Gegensatzpaaren funktioniert. Wobei diese Gegensatzpaare nur nach dualen, hierarchischen Begriffsoppositionen gedacht werden können.
Die feministische postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak spricht in diesem Zusammenhang gar von einer epistemischen Gewalt des wissenschaftlichen Wissens. Spivak lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Mechanismen der Konstitution des/der Anderen als politisches und soziokulturelles Randphänomen, welche für sie das europäische Wissenschaftsparadigma schlechthin darstellen. In ihrem einflussreichen Aufsatz „Can the Subaltern speak“ fragt Spivak deswegen nach den Bedingungen der Möglichkeit für Minorisierte, in die hegemoniale Wissenschaftsproduktion eingreifen zu können. Einer der Gründungsväter und maßgeblicher Referenztheoretiker der Queer-, Disability- und Gender-Studies, Michel Foucault, betont demgegenüber die unlösliche Beziehung zwischen Wissensformen und Macht. Wenn Foucault von der Subversion des Wissens als Ziel von Wissenschaftskritik spricht, so meint er deswegen damit keineswegs eine Prozedur der Legitimitätsprüfung von historisch bedingten wechselnden Erkenntnisweisen. Foucault strebt in seinen wissenschaftskritischen Schriften auch nicht danach, die Erkenntnisinhalte sowie die Elemente eines Erkenntnissystems hinsichtlich ihrer Richtigkeit und Gültigkeit zu befragen oder universale Wirklichkeitsprinzipien ausfindig zu machen. Vielmehr möchte der französische Wissenschaftshistoriker und Machttheoretiker herausfinden, welche Verbindungen und Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden werden können. Wissen versteht Foucault deswegen überwiegend als affirmativen Modus, da es für ihn alle Erkenntnisverfahren und -wirkungen bezeichnet, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft akzeptabel sind. Kennzeichen einer Subversion des Wissens ist folglich für Foucault jene Bewegung, die die Akzeptabilitätsbedingungen, welche in Wissenssystemen fundiert sind, dechiffriert und die sich darin entfaltenden Prozeduren, Technologien, Rationalitäten und Mentalitäten dekonstruiert
Das Minoritäre und das epistemische Feld
Daran anknüpfend stehen auch die Disability-, die Gender- und die Queer-Studies in dieser erkenntniskritischen Tradition. Im Anschluss an poststrukturalistische Theorieansätze kommt es bei diesen Forschungsdisziplinen zur Analyse und Artikulation von unterschiedlichen Kategorien der Differenz, die sich vorzugsweise im, am und durch den Körper manifestieren. Dieses Vorgehen wird mit der Produktion soziokultureller Differenzverhältnisse in Beziehung gebracht. Mit Bezug darauf sind sowohl die Queer-Studies wie auch die Disability- und Gender-Studies einer Dekonstruktion von Normen und Normierungen verpflichtet. Aus dieser Perspektive werden normative Zurichtungen des Körpers und soziokulturelle Differenzproduktionen hinterfragt. D. h., diese Forschungsdisziplinen analysieren Vergesellschaftungsformen, die Körpernormen entlang von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht initiieren. So fechtet beispielsweise die Queer-Theory die binäre Unterscheidung in Hetero- und Homosexualität an. Der Schwerpunkt der Disability-Studies liegt wiederum in der Hinterfragung der dualen Klassifikation von behindert/nicht-behindert, während die Gender-Studies die binär-hierarchische Organisation von Geschlecht erforschen. Gemeinsame Basis von allen drei Forschungsausrichtungen ist eine de/konstruktivistische Forschungsperspektive und die Fokussierung auf soziokulturelle Unterscheidungsweisen körperlicher Differenzen.
Bei aller Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit der Forschungsfelder stehen in den Queer-Studies ebenso wie in den Disability- und Gender-Studies historische wie gegenwärtige Vergesellschaftungsformen des Somatischen im Mittelpunkt des Interesses. Ziel ist es, die normative Ordnung der Mehrheitsgesellschaft und die damit verbundenen soziokulturellen Techniken des Othering aufzuzeigen und auf diese Weise eine gesellschaftliche Veränderung zu ermöglichen. D. h., es wird vom Rand aus auf das Zentrum geschaut. Genau darin begründet sich der erkenntnistheoretische Perspektivenwechsel bzw. der Epistemological Turn dieser Forschungsausrichtungen.
Conclusion
Es lässt sich also konstatieren, dass die Ambivalenzen und Paradoxien einer institutionellen Verankerung der Disability-, sowie Gender- und Queer-Studies hauptsächlich aus deren wissenschaftlichem Selbstverständnis herrühren. Denn jene transdisziplinären Forschungsausrichtungen reflektieren alle die Grenzen des epistemologischen Horizontes; jene Grenzen, die zugleich konstitutiv für kritisch selbstreflexives Denken sind.
Mit den Disability-, Gender- und Queer-Studies zieht folglich ein neuer Modus eines kritischen Wissenschaftsverständnisses in die Universität ein. Dieser neue Modus kann als ein deutungsoffenes wissenschaftliches Feld der Umkehrbarkeit und Entnormalisierung skizziert werden, in dem die Bedingungen der Möglichkeit, an der Wissenschaftsproduktion zu partizipieren, nicht aus dem analytischen Blick gerät. Eine Strategie, die genau aus diesem Grund einem paradoxen Oszillieren zwischen Affirmation und Subversion verhaftet ist.
Literatur
Butler, Judith (1990): Gender Trouble (dtsch. Das Unbehagen der Geschlechter), New York.
Foucault, Michel (2010): Was ist Kritik. In: Ders. (2010): Kritik des Regierens. Berlin, S. 237-258.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien.
Heike Raab
ist Universitäts-Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck und in der queer-feministischen, globalisierungskritischen sowie behinderten Frauen/Lesbenbewegung engagiert.