Immerwährendes Anfängerglück
Im Bewusstsein und mithilfe theoretischer Durchdringung der paradoxen Lage von Selbstorganisation und Selbstprekarisierung von Institutionen und AkteurInnen entstanden in den 2000er-Jahren auch Versuche der mehr oder weniger radikalen Transformation von Kunstinstitutionen.
Andauernde Instituierung und Reterritorialisierung der Institution.
Für die einen sind unsere Erfahrungen der multiplen Krise in den letzten fünf Jahren Grund zur radikalen Abwendung von den klassischen Institutionen, für die anderen Grund zu einer ebenso radikalen Transformation derselben. Für wieder andere scheint nun eine Zeit der Historisierung und Selbsthistorisierung selbstorganisierter, instituierender oder institutioneller Praxen zu beginnen, die in den späten 1990er- und in den 2000er-Jahren auch unter den in verschiedener Weise problematischen Brands von künstlerischer Selbst-Organisation, Institutionskritik und New Institutionalism reüssiert sind. Zu dieser dritten Variante der Befassung mit Instituierung und Organisationsformen gehört der vom Soziologen Pascal Gielen beim holländischen Verlag Valiz herausgegebene Band Institutional Attitudes. Instituting Art in a Flat World oder das ebenso gerade im Kunstbuchverlag open erschienene Buch Self-Organised, herausgegeben vom dänisch-norwegischen Kuratorinnenteam Stine Hebert und Anne Szefer Karlsen.
Es gibt eine wunderbare Stelle am Beginn eines der Aufsätze in Self-Organised, im Text von WHW, dem 1999 gegründeten Kuratorinnen-Kollektiv aus Zagreb, in der die Anfangsszene aus Terry Gilliams Brazil von 1985 zitiert wird. Der deputy minister from the ministry of information eines von Staatsterrorismus geprägten, ebenso dystopischen wie dysfunktionalen Staates wird vor einer Kulisse aus Brand und Chaos zur nunmehr dreizehnjährigen Serie von Bombenanschlägen interviewt. „Beginners‘ luck“, meint trocken der deputy minister mit dem aussagekräftigen Namen Mr. Helpman. WHW verwenden diese Filmsequenz als Erklärung für ein kunstfeldrelevantes Phänomen, nämlich für den Umstand, dass viele Kollektive in den letzten eineinhalb Jahrzehnten sozusagen gegen den Zahn der Zeit imstande waren, „to persist with their work for decades, often against a backdrop of rather unfavourable social circumstances and with increasing precariousness“ (114).
Transversalität instituierender Praxen ...
Es gibt einiges, was für diese Interpretation der letzten 15 Jahre und der Entwicklung von selbstorganisierten Praxen im Kunstfeld als langen und andauernden Beginn spricht, als Unverschämtheit und Glück der AnfängerInnen, als nicht abreißende Kette von instituierenden und persistierenden Praxen.Um die historische Formation der globalisierungskritischen Bewegung, das Aufkommen einer neuen antikapitalistischen Strömung und die Veröffentlichung des Blockbusters Empire von Toni Negri und Michael Hardt wurde um das Jahr 1999 eine Vielzahl von revolutionären Maschinen erfunden, und vor allem wurden Verkettungen dieser lokalen Maschinen zu abstrakten Maschinen möglich. Das gilt unter anderem auch für die Austauschverhältnisse von „westlichen“ und postkommunistischen Aktivismen. Während im Jahrzehnt nach der „Wende“ die neokolonialen Vereinnahmungsprozesse den Osten und Südosten Europas überrannten – im Kunstfeld betraf das zum Beispiel die konzeptuellen Praxen des späten Staatssozialismus –, war es um die Jahrhundertwende soweit, dass neue AkteurInnen neue abstrakte Maschinen erfanden. Diese Maschinen konnten die Hierarchien und lokalen Trennungen des „Transitionsprozesses“ überwinden, indem sie Kompetenzen der Lokalität und Situiertheit mit Transversalität verbinden. WHW und ihre translokale Praxis sind ein Kunstfeld-Beispiel dafür, andere wären die Gruppe Chto Delat? mit ihrer Basis in Petersburg und Moskau, Park Fiction in Hamburg, das Isola Art Center in Milano oder die Universidad Nómada in Barcelona, Malaga und Madrid.
... vs. Selbstorganisation als Künstler-Seilschaft
Hat man diese Praxen im Blick, kommt allerdings die zentrale theoretische Frage auf, ob der Begriff der Selbstorganisation, den der Sammelband Self-Organised aufs Neue vorschlägt, sehr hilfreich ist. Ich habe meine Zweifel. Es ist weniger das allgemeine Problem, dass die in den 1990er-Jahren gehypten Begriffe wie Selbstorganisation durch Jahrzehnte ihrer postfordistischen Inwertsetzung völlig ausgedünnt sind. Viel schwerer wiegt die Tatsache, dass die Untersuchung von Begriff und Praxis der Selbstorganisation wie allzu oft auch hier, in der Einleitung von Stine Hebert und Anne Szefer Karlsen, explizit auf das Kunstfeld beschränkt wird (11). Wenn die relevanten Praxen kollektiv und transversal sind, ist der Rückgriff auf das Selbst möglicherweise nicht mehr als ein Rückschritt, gerade im Kunstfeld, wo der Begriff der Selbstorganisation oft völlig reduktionistisch gedeutet wird – als unpolitischer Akt der Selbsthilfe und des Aufbaus von neuen ökonomischen Netzen, deren Alternativität im Erfinden neuer Seilschaften besteht, oder als pure Organisation des künstlerischen Selbst. Das bleibt im Übrigen auch eine Schwäche von Gilliams Brazil. Mögliche Fluchtlinien werden hier als Träume, Phantasien und schließlich am Ende des Films als vom Staat fingierte Bilder dekonstruiert, und die Widerstandsformen gegen Selbstregierung und totalen Staat bleiben auf das Verantwortungsbewusstsein, bestenfalls die Subversion eines Individuums beschränkt: Kein Wunder, dass die Subjektivierungsweise dieses exemplarischen Individuums, in Brazil verkörpert durch den experimentellen Klempner Harry Tuttle, im Jargon des Informationsministeriums von Brazil „freelance subversion“ genannt wird.
Die Begrenzung der Organisation auf das künstlerische Selbst spiegelt sich in Self-Organised in der Anlage von einigen Texten des Bandes, die nicht weit über (Selbst-)Historisierung und Selbstzitierung hinauskommen. Die theoretischen Hintergründe dieser Beschränkungen sind dabei sehr vielfältig und durchaus widersprüchlich: von der kunstsoziologisch reduzierten Perspektive in der Nachfolge von Andrea Fraser („we can no longer be outside the institution“, 49) über die post-Hobbes‘sche Position des Kunstbürokraten, der eine Rückkehr zur Ordnung des Sozialstaats einfordert und zur Verteidigung der Kunstinstitution in ihrer Verantwortung für ein „general public“ aufruft (Jonas Ekeberg, 61), bis zur transgressiven Geste des Dreimänner-Manifests über die Alternativlosigkeit zukünftiger Selbstorganisierung (Davies/Dillemuth/Jakobsen, „There is No Alternative: The Future is (self-)organised, part two“), das einiges Richtiges enthält, jedoch eine Queerung seines Debord‘schen Pathos und seiner maskulinistischen Rhetorik vertragen könnte (27-36).
Wie dem auch sei: Theoretisch wäre eine Praxis der Invention der weitgehend archäologischen Geste von Self-Organised vorzuziehen. Selbst in den institutionellen Zusammenhängen des Kunstfelds ließ sich in den letzten 15 Jahren einiges neu erfinden. Doch diese Neuerfindung blieb durchaus ambivalent. Die sozialdemokratisch-neoliberale Perspektive dieser Entwicklung operierte mit dem Begriff des „new institutionalism“ (50-61) und ging mit einer Transformation der Kunstinstitutionen in flexible Projekt-Institutionen einher. Dauernde Reorganisierung und Auditing prägen diese modulierenden Institutionen, die Stefano Harney heute zutreffend „algorithmic institutions“ nennt. Risiko, Verunsicherung, Prekarisierung, das ist zunehmend die soziale Logik der Dystopie, einer durch und durch gegenwärtigen Dystopie auch der Institutionen, wie sie nicht nur das „Brasilien“ Terry Gilliams durchzieht.
Das Museum als „institution of the common“
Doch im Bewusstsein und mithilfe theoretischer Durchdringung dieser paradoxen Lage von Selbstorganisation und Selbstprekarisierung von Institutionen und AkteurInnen entstanden in den 2000er-Jahren auch Versuche der mehr oder weniger radikalen Transformation von Kunstinstitutionen. Vor dem Hintergrund der Krise des postfordistischen Kapitalismus seit 2008 und der Besetzungsbewegungen von 2011 sollte sich deren Position weiter zuspitzen. Eine derartige Konsequenz zieht Charles Esche, als Direktor des Rooseum in Malmö und des Vanabbe Museums in Eindhoven selbst einer der AkteurInnen dieser Transformationsversuche, im Interview am Ende des vorliegenden Bands: „We are going to lose cash, security, mobility“, lautet Esches wenig hoffnungsvolle Vorhersage (154), und „we may need to align our institutions more with campaigns for justice and become directly engaged in particular local issues that reveal the contradictions of a neoliberal agenda.“ (149) Auch wenn Esches Idee des „dispersed museum“ (151) gefährlich nahe an der Logik des alten „new institutionalism“ scheint und der Diskurs über private-public-partnership und die Rolle von Oligarchen (wie Esche auch die SammlerInnen jenseits Russlands nennt) darin viel zu optimistisch wirkt (152-154): Aus diesen Ambivalenzen gibt es keine Rettung, keinen geraden Weg hinaus.
Es spricht viel dafür, das Museum vor diesem Hintergrund nicht mehr als staatliches, öffentlich-rechtliches oder auch als privates Unternehmen zu positionieren, sondern als „institution of the common“. Gerade wo es institutionelle Überreste des Wohlfahrtsstaates gibt, gilt es, diese nicht einfach willfährig in die modulierende Maschine des neoliberalen Kapitalismus einzuspeisen, sondern sie zu nutzen für Experimente des Übergangs zu Institutionen des Gemeinsamen. Es gilt, Reste von bürgerlicher Öffentlichkeit und sozialdemokratisch konzipierter Gesellschaft zu reorganisieren für eine Umleitung der mannigfaltigen Ströme der modulierenden Institutionen und zur Umwandlung des Öffentlichen in Gemeinsames. In gewisser Weise impliziert dies nichts Geringeres, als den Staat neu zu erfinden, gerade weil und während er noch in Ansätzen funktioniert. Oder besser: Es impliziert, eine neue Form von Staatsapparat zu erfinden, während die alte noch existiert. Diese Neuerfindung des Staatsapparates von unten kann als Reterritorialisierung der Institution nur gelingen, wenn sie von verschiedenen Seiten her erprobt wird, im Kleinen, im Mikro-Maßstab und in radikaler Offenheit in Bezug auf Fragen der Organisation.
Anstatt sich in die Fallstricke des narzisstischen Selbstzitats, der Reduzierung von komplexen sozialen Praxen auf Kunstfeld-Phänomene, des Streits um die Kanons und alternativen Kanons zu verheddern, geht es sowohl in der Praxis persistenter Instituierung wie auch in der radikalen Transformation der Kunstinstitutionen um das Ziehen von transversalen Fluchtlinien aus der Beschränkung auf das Kunstfeld heraus. Es geht darum, das Spiel nicht mehr mitzuspielen, die Regeln des Spiels zu ändern, ein neues Spiel zu erfinden: Dazu brauchen wir vor allem jede Menge „bad sportsmanship“, wie Mr. Helpman, der deputy minister aus Brazil, die Haltung der subversiven SpielverderberInnen nennt.
Gerald Raunig lehrt Ästhetik und politische Philosophie an der Zürcher
Hochschule der Künste.