Kollektiv denken und handeln - Kulturarbeiter*innen und das Prekariat
Die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen schreitet seit Beginn der neoliberalen Hegemonie in den 1990er Jahren unerbittlich voran. In Kunst und Kultur herrscht die Prekarität - genauso wie in der Bildung und Forschung, wo unzählige prekär arbeitende Fakultätsmitarbeiter*innen und verschuldete Hochschulabsolvent*innen den Großteil der Lehrtätigkeit und der groß angelegten Forschungsprojekte stemmen. Strategische Überlegungen für neue Zusammenschlüsse.
Das Fundament kultureller Arbeit im aktuellen europäischen Kapitalismus ist paradox: Einerseits sagen uns die Massenmedien unentwegt, dass Kultur der Treibstoff Europas ist und dass Tourismus das alte Europa zahlungsfähig hält. Andererseits fällt die Bezahlung für Kultur mager aus, die Arbeit ist prekär und Beschäftigungssicherheit ist für die meisten Kuturarbeiter*innen nicht gegeben. Einer aktuellen Studie zufolge generiert jeder Euro, den Besucher*innen, Nutzer*innen oder Seher*innen für Kultur ausgeben, zusätzlich 1.8 Euro an Ausgaben1. Kulturarbeit entfaltet damit einen keynesianischen Multiplikatoreffekt für die Wirtschaft, schafft Einnahmen und Arbeitsplätze. Wenn ein Sektor wichtig und profitabel ist, könnte man annehmen, dass auch angemessene Entlohnung und Beschäftigungssicherheit gegeben sind. Dem ist aber nicht so. In Kunst und Kultur herrscht die Prekarität - genauso wie in der Bildung und Forschung, wo unzählige prekär arbeitende Fakultätsmitarbeiter*innen und verschuldete Hochschulabsolvent*innen den Großteil der Lehrtätigkeit und der groß angelegten Forschungsprojekte stemmen.
Warum ist das so? Die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen schreitet seit Beginn der neoliberalen Hegemonie in den 1990er Jahren unerbittlich voran. Seit der „Großen Krise“ 2008 hat sie einen neuen Höchst- bzw. Tiefstand erreicht: Fast ein Viertel der unselbstständige Beschäftigten in der Eurozone arbeitet mit befristeten Arbeitsverträgen2, bei unter 25-Jährigen ist dieser Prozentsatz typischerweise doppelt so hoch3. Trotzdem wird der Siegeszug des Neoliberalismus Schritt für Schritt durch etwas viel Schlimmeres verdrängt: Nationalismus und Populismus. Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht klar ist, welche Vorstellungen von Europa sich durchsetzen werden: ein liberales Europa, wie es Macron und Merkel skizzieren oder xenophobe Vorstellungen, wie es Strache und Salvini propagieren. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Eurokrise 2011-2012 und ein Jahrzehnt an Massenjugendarbeitslosigkeit und Verarmung des Mittelstandes den festen Griff, den die Ideologie des freien Marktes auf Politik und politische Entscheidungsträger*innen hatte, beendet hat.
Vor den frühen 1990er Jahren arbeitete die große Mehrheit der Angestellten auf Basis langfristiger Verträge. Nur eine Minderheit (meistens Frauen) arbeitete in unsicheren Teilzeitbeschäftigungen. In den 2010er Jahren ist jeder Arbeitsplatz potentiell gefährdet. Jede Arbeit kann in Billiglohnländer ausgelagert, digitalisiert oder automatisiert werden. Und es sind nicht nur private Unternehmen, die stabile Beschäftigungsverhältnisse untergraben. Es ist auch der öffentliche Sektor. Sparpolitik und Ausgabenkürzungen gefährden auch die Arbeitsplätze und Existenzen einst sicherer öffentlicher Bediensteter.
Kulturarbeiter*innen bekommen die volle Last der negativen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu spüren: sowohl die Auswirkungen der Fiskalpolitik der Eurozone als auch die Langzeiteffekte von fast drei Jahrzehnten an Prekarisierungsprozessen. Dennoch gibt es auch sektor-spezifische Gründe für ihre Sorgen. Der Kultursektor leidet an einem chronischen Überangebot an (über)ausgebildeten Arbeitskräften. Damit ist der Markt für Kulturarbeit ein Markt der Arbeitergeber*innen. Vor Verlagshäuser, Filmstudios und Kunstmuseen wartet eine lange Schlange an fähigen, brillanten und kreativen Talenten, die alle für sie arbeiten wollen. Diese Reservearmee an geistigen Arbeiter*innen sorgt dafür, dass sich junge Kulturarbeiter*innen fügen und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Menschen sind immer mehr bereit, für ein Butterbrot oder gratis, für die geringste Chance den Einstieg in die wundervolle Welt der Kultur zu schaffen, zu arbeiten. So werden Praktika, Teilzeitarbeit und befristete Verträge zur Norm in Kunst, Kultur und Unterhaltungsindustrie.
Der übliche Diskurs über Humankapital und wie jede/r Einzelne selbst dafür verantwortlich ist, dass ihre/seine verwertbaren Fähigkeiten sich entwickeln und wachsen, macht Kulturarbeiter*innen besonders anfällig für Individualisierungstendenzen. Dies erschwert die Solidarität am Arbeitsplatz und öffnet einer breiten Palette an verschiedensten Arbeitsverträgen Tür und Tor, mit denen die Arbeitskräfte gegeneinander ausgespielt und diszipliniert werden. Frauen und Männern in der Kulturwirtschaft tendieren stark dazu, sich als intellektuell autonome Individuen zu sehen, ausgestattet mit jeweils individuellen Kenntnissen und kulturellem Kapitel. Das verhindert vielfach kollektives Handeln als auch die soziale Kraft, die ein „multikulti“-Prekariat gegenüber Manager*innen, Verwaltung, Kulturstiftungen und öffentlichen Stellen haben könnte.
In meinem Buch “Allgemeine Theorie des Prekariats”4 skizziere ich die Konturen dieser aufkommenden sozialen Klasse und ihrer politischen Mobilisierung seit den 200er Jahren. Die Gruppe der prekär Arbeitenden umfasst dabei all jene (zumeist jungen) Menschen, die als Kurzzeit-Arbeitskraft, Teilzeitangestellte, Hilfskräfte, Praktikant*innen, Volontär*innen oder Freischaffende tätig sind. Kulturarbeiter*innen sind zumeist in der Gruppe der Freischaffenden überrepräsentiert. Diese Gruppe weist die geringste Beschäftigungssicherheit und die größten Schwankungen in der Entlohnung auf (obwohl der Mittelwert höher als die meisten Einkommen in der Dienstleistungsbranche ist). Da sie formell betrachtet selbstständig sind, sind die Auftraggeber*innen nicht für ihr Wohlergehen als Arbeitende verantwortlich. Sie sind Freischaffende und ihre Verträge können jederzeit beendet werden, wenn es die Umstände erfordern, ungeachtet ihrer beruflichen Leistung (z.B. wenn Förderungen ausbleiben, sich neue politische Mehrheiten bilden, sich der Publikumsgeschmack ändert, etc.).
In den 2000er Jahren organisierte die EuroMayDay/San Precario Bewegung in der gesamten EU – auch in Österreich – Versammlungen, Demonstrationen, Paraden, Mahnwachen, gemeinsame Aktionen. Sie mobilisierte gegen die „Flexploitation“ junger Menschen und ein wohlfahrtsstaatliches System (wie Hartz IV), das Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse drängt (z.B. mit Mini-Jobs, die Menschen in ein „Workfare“ Regime mit unterdurchschnittlichen Gehältern zwingen). Diese Bewegung, die fundamental für das Prekariat im Sinne eines Klassenbewusstseins war, war stark von der Anti-Globalisierungsbewegung inspiriert. Sie stütze sich auf die Erfahrungen der No-Border-, queeren und Umwelt-hacktivistischen –Netzwerke, im Bestreben, ein neues Vokabular an Protestformen zu entwickeln, das prekär Arbeitende motiviert, aktiv zu werden. In Milan, wo die MayDay Bewegung ihren Ursprung hatte, waren Bildungs- und Kulturarbeiter*innen von Anfang an beteiligt. Allgemeiner gesagt: Was vor der Krise noch als kreative Klasse bejubelt wurde, zählte nachher zu den treibenden Kräften des EuroMayDay-Netzwerks. Diese Aktivist*innen schufen eine Unzahl cooler subversiver Bilder und Memes5 sowie tatsächlich „Soziale Medien“, lange bevor kommerzielle soziale Netzwerk mit der unerbittlichen Kolonisierung des Netzes in den späten 2000erJahren begannen.6 Sie steckten wesentlich die Eckpfeiler des Prekaritätsdiskurses ab. Selbstorganisierte Initiativen autonomer Aktivist*innen und radikalisierte Kognitivarbeiter*innen waren früh an einem Zusammenwirken von Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften und Kunstkritik interessiert. Dieses Zusammenwirken ist für Europas kulturelles und akademisches Feld bis heute typisch.7 Der Prekaritätsdiskurs aber wurde von der „Großen Krise“ und der allgemeinen Prekarisierung der Gesellschaft überschattet. „Prekariat“ wurde zu einem allgemein gebräuchlichen Wort in englischsprachigen Medien, insbesondere nach Guy Standings gleichnamigen Buch.8
Freischaffende Arbeiter*innen zu organisieren ist schwierig. Es ist aus subjektiver Perspektive schwierig, da geistige Arbeiter*innen dazu tendieren, in individualistischen Begriffen über persönliche Leistung und Talent zu denken. Sie sehen eher eine/n Konkurrent*in, als eine prekär arbeitende Kollegin oder einen prekär arbeitenden Kollegen. Es ist aus objektiver Perspektive schwierig, weil (a) das Recht auf der Seite der formal Selbstständigen ist und (b) Freischaffende nicht unter einem Dach arbeiten und damit schwer zu organisieren sind.
Es spricht für sich, dass das Format der freischaffenden Arbeit für die „Gig Economy“ von Deliveroo oder Uber gewählt wurde. Jede und jeder soll ein/e freier Arbeiter *in sein, immer abrufbereit, ihre/seine eigene Marke als Unternehmer*in aufbauend im darwinistischen Kampf der Post-Austeritätswirtschaft. Kulturarbeiter*innen haben jedoch eine Macht in der heutigen post-materialistischen Wirtschaft. Sie müssen sich dieser aber erst bewusstwerden und sich selbst organisieren, um ihren Anteil zu erkämpfen, nämlich gute Bezahlung, Beschäftigungssicherheit und intellektuelle Autonomie. Sie müssen sich aus der persönlichen Unterwerfung trennen, die manchmal an der Grenze zu vertragsabhängiger Knechtschaft schrammt – etwa wenn sie bewundernd vor Kurator*innen und Kunstdirektor*innen erstarren, die oft ihr persönliches Charisma und die ungleiche Machtverhältnisse für kleinliche Demütigungen und scheinbare persönliche Assistenzleistungen, die weiter über das Arbeitsprofil hinausgehen (vom Besorgen des Mittagessens für den/die Vorgesetzte/n bis zum Babysitten für die Sprösslinge der Chefin/des Chefs), ausnützen.
Die Strategie, die ich vorschlagen würde, ist, dass sich alle europäischen Millennials, die in den Informations-, Wissens- und Kultursektoren tätig sind, sich zu einem Syndikat der Koginitivarbeiter*innen zusammenschließen. Es sollte ein ein kollektiver Akteur sein, der gewerkschaftlich im Namen des Kulturprekariats verhandelt und dessen politische Interessen vertritt. Es ist entscheidend, dass sich so eine Gewerkschaft strategisch mit dem neu erwecken Aktivismus im Dienstleistungssektor vernetzt, wie etwa Reinigungskräften, Hausmeister*innen, Hotelangestellten, Fast-Food-und Lieferservice-Arbeiter*innen. Diese haben durch Streiks wichtige Erfolge erzielt, etwa in Großbritannien (siehe „MacStreik“ und die Prekaritäts-Demos der Reinigungskräfte und Fahrer*innen9 und in den USA, wo der Kampf um 15 Dollar Mindestlohn pro Stunde einen der größten Internetoligopole in die Knie zwang. Amazon wird seinen Angestellten 15 Dollar pro Stunde zahlen, auch jenen temporären Arbeiter*innen, die nur für den „Black Friday“ und das Weihnachtsgeschäft angeheuert werden. Also: Worauf warten wir noch, um 15 Euro pro Stunde auch zum sozialen Standard in der Eurozone zu machen? Denn die meisten prekären Arbeiter*innen im Kulturbereich verdienen nicht annähernd so viel.
(1) Paola Dubini (2018): Con la cultura non si mangia. Falso!, Roma: Laterza, 2018
(2) Alex Foti (2017): General Theory of the Precariat, siehe unten
(3) Mit Blick nur auf die „Generation Z”, zeigen die jüngsten Daten eine Prekaritätsrate (Prozentsatz an Hilfskräften unter allen abhängig Beschäftigen) von fast 35% für Österreich und 44% für die gesamte EU (Quelle: OECD Employment Outlook). Im Vergleich dazu ist die Jugend-Prekaritätsrate in Deutschland und Frankreich mit über 50% schlechter (53% beziehungsweise 58%) und in Italien und Spanien wesentlich schlechter (mit fast 62% in Italien und erschütternden 73% in Spanien).
(4) Alex Foti (2017): General Theory of the Precariat. Great Recession, Revolution, Reaction, Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2017
(5) Siehe beispielsweise http://cartomanzia.precaria.org/index.html, http://kit.sanprecario.info/, aber insbesondere die fantastischen EuroMayDay Plakate, abrufbar unter but https://www.researchgate.net/figure/2004-Mayday-Poster-Flier-Creative-C… und http://www.tacticalmediafiles.net/picture?pic=1576
(6) siehe http://www.precaria.org/
(7) siehe beispielsweise die Ausgabe Nr. 5 des Fiberculture Journals zu prekärer Arbeit, http://five.fibreculturejournal.org
(8) Guy Standing (2011): The Precariat. The New Dangerous Class, London: Bloomberg, 2011
(9) Letztere wurden von der neuen Arbeitendengewerkschaft organisiert, der IWGB (Unabhängige Arbeitende Gewerkschaft von Großbritannien), die Elemente des anarchistischen Syndikalismus mit sozialen Gewerkschaftselementen verbunden hat, um prekäre Diensleistungsarbeiter*innen zu organisieren. Sie konnten erfolgreich Universitäts-Reinigungskräfte und Lieferservice-Fahrer*innen organisieren. Auf dem Kontinent sind in den letzten zwei Jahren selbst-organisierte Gewerkschaften von Lieferservice-Arbeiter*innen aus dem Boden geschlossen, etwa in Katalonien, Frankreich, Italien, Belgien und den Niederlanden. Sie konnten bereits große Fortschritte in der Schaffung einer Bewegung auf Schiene bringen und agieren auf Basis eines EU-weiten Solidaritätspaketes.
Alex Foti ist politischer Aktivist, Mitbegründer des EuroMayDay-Netzwerks und Teil der Chainworkers.org-Crew. Seine jüngste Publikation „General Theory of the Precariat: Great Recession, Revolution, Reaction“ ist 2017 bei „Institute of Network Cultures“ erschienen.
Coverfoto: San Precario (santino), Designed by Chainworkers.org CreW and inspired by the work of the artist Chris Woods, unter der Lizenz CC BY-NC-SA 1.0.
Fotos im Artikel: The Tarot of Precariomancy, Collage © Almanacci di Precariomanzia, unter der Lizenz CC-BY-NC 3.0.