Kultur der Nachhaltigkeit
Dabei bleibt der Kern der Idee der Nachhaltigkeit auf der Strecke. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist ein radikaler Konsequentialismus, ein Nachdenken über soziale und Umwelt-bezogene Konsequenzen unseres Handelns – als Individuen, als Organisationen aber auch als Gesellschaft. Nachhaltigkeit ist also weniger Konzept als vielmehr ein normatives Prinzip, welches Rücksicht und einen ganzheitlichen Blick bei allen Entscheidungen fordert. Das bedeutet auch, dass die einzige Alternative zu Nachhaltigkeit ist, keinerlei Konsequenzen unseres Handelns zu berücksichtigen – und das ist eigentlich keine Option.
Verwirrend und vor allem emotional und moralisch aufgeladen ist diese Nachhaltigkeit. Denken Sie einmal nach: Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie das Wort Nachhaltigkeit hören? Wahrscheinlich so etwas wie die Farbe Grün, Recycling, Solar-Panels, oder „öko“ und „bio“-Label. Das größte Problem ist offenbar, dass wir durch Produkt- bzw. Marketingkommunikation aber auch die Medien (einmal weit gedacht) eine sehr enge Perspektive auf Nachhaltigkeit präsentiert bekommen. Es gibt also zu wenig Räume und Orte, in und an denen Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Konzept, als kulturelle Praxis diskutiert und ausgehandelt wird. Genau an dieser Stelle wurzelt die Idee der Kultur der Nachhaltigkeit, die es zu schaffen gilt, und die zentrale Rolle, die Kulturorganisationen aller Art bei der Kultivierung von Nachhaltigkeit spielen können. Im Folgenden dazu einige Gedanken.
Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Prinzip
Nachhaltigkeit ist ebenso wie das englische Pendant „sustainability“ ein Begriff, der sich irgendwo zwischen einem Synonym für „andauernd“ oder „beibehalten“ auf der einen Seite, und einer Abkürzung für das große Konzept der nachhaltigen Entwicklung auf der anderen Seite bewegt. Inhaltlich aufgeladen wurde der Begriff zunächst aus einer vornehmlich ökonomischen Perspektive im sogenannten „Brundtland Report“; darin festgeschrieben die Notwendigkeit mit Ressourcen schonender umzugehen (WCED, 1987). Nachhaltigkeit als Konzept für – immer noch vornehmlich wirtschaftliches – Handeln etablierte sich in Folge weiter, insbesondere als Reaktion auf die immer stärker sichtbaren Umwelt- und Sozialkrisen der späten 70er Jahre und den Einfluss des auf Wachstum ausgerichteten Marktsystems auf das Klima, die Umwelt und unsere „common future“ als Menschen (Weder et al., 2021).
Über die Jahre hat sich also der Begriff der Nachhaltigkeit zu einer Zukunftsvision von Wachstum entwickelt, bei – so der Anspruch – gleichzeitiger ethischer Vertretbarkeit. Allerdings handelt es sich dabei um eine Zukunftsvision innerhalb des kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Systems, unterstützt von Wirtschaft und Politik, und nicht als wirkliche Alternative zu dem bestehenden System. Somit ist Nachhaltigkeit als Konzept in gewisser Weise ein Opfer des eigenen Erfolges: Die Nutzung und Abnutzung des Begriffs, die kommunikative Inflation oder sogar „Kakophonie“ rund um Nachhaltigkeit, die durch soziale Medien immer weitere kommunikative Spielwiesen bekommt, ist ein oftmals loser und konzept- sowie wert-freier Masterframe (Weder, 2021). Das beginnt bei Wortspielen rund um „sustainable fashion“ oder „sustainble house design“ und endet bei „nachhaltiger Kulturpolitik“.
Dabei bleibt der Kern der Idee der Nachhaltigkeit auf der Strecke. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist ein radikaler Konsequentialismus, ein Nachdenken über soziale und Umwelt-bezogene Konsequenzen unseres Handelns – als Individuen, als Organisationen aber auch als Gesellschaft. Nachhaltigkeit ist also weniger Konzept als vielmehr ein normatives Prinzip, welches Rücksicht und einen ganzheitlichen Blick bei allen Entscheidungen fordert. Das bedeutet auch, dass die einzige Alternative zu Nachhaltigkeit ist, keinerlei Konsequenzen unseres Handelns zu berücksichtigen – und das ist eigentlich keine Option.
(Re-)Framing der Nachhaltigkeit
Wenn Nachhaltigkeit kein Objekt und kein bestimmtes Ereignis ist, bedeutet das, dass Medien eigentlich nicht „über Nachhaltigkeit“ berichten können. Nachhaltigkeit ist also vielmehr eine normative Idee oder ein handlungsleitendes Prinzip, eine normative Forderung, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu antizipieren. Nachhaltigkeitskommunikation ist dann alle Kommunikation, die sich mit entsprechenden Themenfeldern (Soziales, Umwelt aber auch Wirtschaft und Kultur) befasst, und dabei das Prinzip der Nachhaltigkeit thematisiert, diskutiert und aushandelt.
Diese gesellschaftlichen Prozesse der Sinnstiftung und Meinungsbildung lassen sich vor allem sozial-konstruktivistisch erfassen (Berger, 2009). Es geht um die Frage, ob Nachhaltigkeit schon Teil unserer „Kultur“ ist – oder vielleicht immer schon war. Tatsächlich hängen Nachhaltigkeit und Kultur in unterschiedlichen Dimensionen zusammen:
Erstens, mit Blick auf individuelles Handeln, ist nicht erst seit dem Brundtland Report klar, dass nachhaltige Entwicklung kontext- und damit kultur(kreis)bezogen ist, und es dementsprechend unterschiedliche Interpretationen nachhaltigen Konsums oder nachhaltigen Handelns gibt.
Zweitens spielt Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Prinzip auch eine Rolle in Kulturorganisationen – nicht nur als Organisationen per se, sondern auch in Bezug auf deren besonderer Verantwortung in der Herstellung „öffentlicher“ und damit kulturstiftender Güter.
Und drittens erscheint es darauf aufbauend notwendig, sich über eine Kultivierung und damit Normalisierung nachhaltigen Handelns auf gesellschaftlicher Ebene Gedanken zu machen. Damit meine ich die kulturelle Verankerung des Prinzips der Nachhaltigkeit.
Auf allen drei Ebenen kommt Kulturorganisationen eine besondere Rolle zu. Kultur ist aus einer holistischen Perspektive die Basis-Struktur einer Gesellschaft und damit das Grundgerüst und der „Ermöglicher“ einer nachhaltigen Entwicklung. Kultur ermöglicht, integriert, koordiniert, organisiert und führt alle Aspekte nachhaltigen Handelns zusammen (Weder, 2021; Soini & Dessein, 2016; COST, 2015) und ist damit die Wurzel und auch das Ergebnis alles menschlichen Handelns und menschlicher Entscheidungen. Eine „Kultivierung“ der Nachhaltigkeit bedeutet, dass sich auch die Unterschiede zwischen einer sozialen, umweltbezogenen und ökonomischen Handlungsperspektive auflösen.
Kultivierung der Nachhaltigkeit
Wir gehen davon aus, dass sich Nachhaltigkeit auf alle sozialen Praktiken bezieht, also alle Aktivitäten, die eine Kombination aus sprachlichen und menschlichen Handlungen sind, auf Wissen und Kommunikation basieren, gewisse Routinen haben und sich damit wiederholen (Weder, 2021). Kern dieser kultur- und kommunikationstheoretischen Überlegungen ist die Performativität, das heißt, dass durch entsprechendes individuelles Handeln das Kollektive und damit die „Kultur“ gleichsam reproduziert werden. Das Ausführen sozialer Praktiken wird als „doing culture“ (Hörning & Reuter, 2004, S. 10) beschrieben, nachhaltige soziale Praktiken sind somit überindividuell, sie sitzen zwischen dem individuellen Handeln und kollektiven, gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. Damit kann unser Handeln kulturell wirksam werden, und zwar auch oder gerade, wenn es sich auf das Prinzip Nachhaltigkeit bezieht.
„Kultivierung“ bedeutet also Reproduktion von Nachhaltigkeit (Performativität, Reproduktion oder Modifikation, Weder, 2021b). Nachhaltigkeit wirkt dann wie ein kultureller Kompass, da Akteure sich aneinander orientieren. Wenn wir also davon ausgehen, dass viele Akteure unter bestimmten kulturellen Bedingungen ähnlich handeln, können ihre Handlungen zu einer neuen (oder zumindest veränderten) Praktik werden, denn aus Praktiken entsteht Kultur.
Dies lässt sich durch eine rein begriffliche Auseinandersetzung mit Kultivierung ergänzen: Die Idee der Kultivierung meint pflegen, bebauen aber auch verehren, und ist auch gleichbedeutend mit „geistige und seelische Güter pflegen“ (dwds.de, 2022). Eine Kultivierung der Nachhaltigkeit bedeutet also die Schaffung, aber auch Aufrechterhaltung von Bedingungen, die ein Wachstum bestimmter Handlungspraktiken gewährleisten. Biologisch ist damit ja auch die Vermehrung verbunden, denkt man an Zellen und Organismen, die „kultiviert“ werden, von zentraler Bedeutung ist hier das „Nährmedium“.
Kulturorganisationen in der Pflicht
Welche Rolle spielen nun Kulturorganisationen – von Medienunternehmen bis hin zu Museen und Theatern – in Bezug auf die Idee der Kultivierung der Nachhaltigkeit? Können Sie ein „Nährmedium“ für Nachhaltigkeit sein? Was sind bestehende Erzählungen und Erzählarten, die sich zwar auf das Prinzip der Nachhaltigkeit beziehen, aber dieses nicht unbedingt weiter ausdefinieren? Und welche Möglichkeiten bieten sich, mehr und neue Kommunikationsräume zu schaffen, in denen über die Erzählungen hinaus auch das „Warum“, die Motive, Strategien und Ziele ausdiskutiert und ausgehandelt werden?
Tatsächliche Nachhaltigkeit heißt auch, dass wir komplexer denken und komplexere Entscheidungen treffen müssen. Dementsprechend braucht es auch mehr Kommunikation, mehr Kontaktpunkte, mehr Kommunikationsräume, um das „warum“ und Handlungsalternativen zu diskutieren und auszuhandeln. Kulturorganisationen können hier sogenannte Kommunikations-Hubs sein. Kulturinstitutionen, -organisationen aber auch Medienunternehmen können und müssen Nachhaltigkeit mehr „zum Thema machen“ und zukunftsfähigen Lebensstilen eine Bühne bieten.
Aus einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive sind öffentliche Diskurse das Nährmedium der Nachhaltigkeit. Wenn eine Kultur der Nachhaltigkeit durch und in öffentliche(n) Diskurse(n) entsteht, dann sind Medien und Kulturinstitutionen als diejenigen gesellschaftlichen Institutionen zu begreifen, die eine Kultur der Nachhaltigkeit ausdefinieren können, indem sie diese Diskurse, dieses Nährmedium schaffen, bereitstellen und aufrechterhalten. Sie liefern Deutungsangebote (Frames), sie erzählen von individuellem Handeln und Entscheidungskonflikten – als Dokumentation, Theaterstück oder Museumsexponat – und ermöglichen damit, dass sich individuelles Handeln miteinander verbindet, regelmäßig und „normaler“ wird und sich damit als Typ und Praktik verfestigt (Kultvierung).
Dementsprechend ist Kulturarbeit das Ausdefinieren von dem, was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet und tragen Kulturinstitutionen die Verantwortung, Handlungs- und Kommunikationsräume für nachhaltiges Handeln zu schaffen und nachhaltiges Handeln zur Praktik zu machen, die dann zu einer Kultur der Nachhaltigkeit wird.
Assoc. Prof. Dr. habil Franzisca Weder, derzeit an der University of Queensland, Brisbane (Australien), forscht, schreibt und lehrt in den Bereichen Organisationskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit mit einem besonderen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeitskommunikation und CSR.