Prekäre (sexuelle) Arbeit an der Gesellschaft
Von den feministischen Wissenschafter_innen zum Symposium Freiheit und Prekarität eingeladen, wollte ich über den Zusammenhang von Prekarisierung, gesellschaftlicher Positionierung und visueller Repräsentation diskutieren. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass marginale oder zentrale gesellschaftliche Positioniertheit (mit)bestimmt, welche Arbeitsmöglichkeiten und welche Entlohnung eine_r in der Gesellschaft angeboten bzw. verweigert werden und dass diese Positioniertheiten auch den Blick und das Darstellungsrepertoire der Akteur_innen prägen.
„Das ist halt auch Arbeit, die man sozusagen uneigennützig und fürs Gemeinwohl tätig verrichtet, nicht? Für jede Frage fünf Euro. [Lachen] Oder für ,Wo kommst du her?‘ – zehn Euro. ,Bist du ein Mann oder eine Frau, oder was bist du?‘”
„50 Euro.“ [Lachen]
„Es wird immer höher.“
„Ne, so ’ne Hierarchie würde natürlich keinen Sinn ergeben.“
„Ne.“
„Das ist ein Aushandlungsprozess.“
„Genau. Oder eine Spendendose. Vielleicht wäre das ein aktiver Lernprozess für Leute, die man mag, aber die das nicht lernen und immer mal wieder solche Fragen stellen. So: ,Wenn du das das nächste Mal fragst, zahlst du fünf Euro in die Spendenbox.‘“ [Lachen]
Ausschnitt einer Diskussion der Protagonist_innen von working on it[1]
Als ich den Film von Karin Michalski und Sabina Baumann in Linz zeigte, wurde bei dieser Szene viel, wenn nicht am meisten, gelacht. An derselben Szene entzündete sich dann aber auch, wohl nicht ganz zufällig, die längste und hitzigste Debatte unter den Teilnehmer_innen des Workshops Prekarität und Freiheit der Wahrnehmung. Warum? Weil die Szene den Zusammenhang von Minorisierung und Prekarisierung deutlich macht? Weil sie zeigt, dass die unterschiedlichen Achsen von Diskriminierung hierarchisch miteinander verflochten sind, und dass ein Solidarisch-Handeln ohne kritische Selbstwahrnehmung im gesellschaftlichen Kontext nicht möglich ist?
Doch erst die Vorgeschichte: Von den feministischen Wissenschafter_innen zum Symposium Freiheit und Prekarität eingeladen, wollte ich dort über den Zusammenhang von Prekarisierung, gesellschaftlicher Positionierung und visueller Repräsentation diskutieren. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass marginale oder zentrale[2] gesellschaftliche Positioniertheit (mit)bestimmt, welche Arbeitsmöglichkeiten und welche Entlohnung eine_r in der Gesellschaft angeboten bzw. verweigert werden und dass diese Positioniertheiten auch den Blick und das Darstellungsrepertoire der Akteur_innen prägen. Es ging mir im Wesentlichen um ein Nachdenken über kleine Sabotagen des hegemonialen Status Quo und damit verknüpft um mögliche Utopien in Richtung einer egalitär strukturierten Gesellschaft. Einer Gesellschaft nämlich, die vielen und vielen unterschiedlichen Selbst-Entwürfen Raum geben würde, ohne diese notwendigerweise als strikt voneinander abgegrenzt zu denken und sie als solche endgültig festzuschreiben. Selbst-Entwürfe im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität, aber auch auf Ethnizität oder Religiosität.
Sexuelle Arbeit
Mit working on it wollte ich einen Film zur Diskussion stellen, der den Aspekt der Arbeit und Prekarisierung noch einmal anders fokussiert, als dies beim Symposium der Fall war. Gleich zu Beginn des Films wird der Begriff der sexuellen Arbeit eingeführt. Dieser Begriff dient dazu zu zeigen, dass an Arbeitsplätzen nicht nur Produkte oder Dienstleistungen, sondern auch Subjekte erzeugt werden. Und diese werden nicht nur als ökonomische, sondern auch als sexuelle Subjekte hergestellt. Es entsteht eine Art doppelte Produktivität, wie Brigitta Kuster, eine der Autor_innen und Herausgeber_innen von „Reproduktionskonten fälschen“ und „sexuell arbeiten“[3] erklärt.
Renate Lorenz, ebenfalls Autor_in und Herausgeber_in dieser Publikationen, verdeutlicht den Begriff der doppelten Produktivität am Beispiel zweier Programmiererinnen. Beide Frauen arbeiten in Firmen, wo sonst nur Männer tätig sind. Die eine Programmiererin wird von den Kollegen als heterosexuelles Gegenüber adressiert. Gleichzeitig soll sie aber dem Bild des guten (männlichen) Programmierers entsprechen. Die andere Programmiererin wird zwar von den Kollegen eher als Kumpel betrachtet, muss sich jedoch deren sexistische Witze über andere Frauen anhören. Beide Programmiererinnen werden nicht nur ökonomisch, sondern auch sexuell in bestimmter Weise adressiert. Sie sind am Arbeitsplatz permanent damit beschäftigt, die Rollenbilder Programmierer und sexuelles Subjekt möglichst effizient mit dem eigenen Selbstbild zu verhandeln, das heißt, mit den unterschiedlichen Adressierungen souverän zu spielen, sie partiell zurückzuweisen und vielleicht neu zu definieren.
Interessant ist auch, wie der Film auf der Darstellungsebene mit Repräsentationen von (sexueller) Arbeit umgeht. So fungiert eine Büchertapete, aus der Protagonist_innen gemeinsam ein Rechteck herausnehmen, sodass ein weißes Feld zurück bleibt, zum einen als Kontext für den Screen, auf dem Gespräche mit Protagonist_innen präsentiert werden. Zum anderen performen Protagonist_innen vor dieser Büchertapete an einem ebenfalls eindeutig gebastelten Schreibtisch. Sie zeigen kritische Bilder, Bücherattrappen und überzeichnen dokumentarische Konventionen wie die Darstellung des weißen heterosexuellen Wissenschaftlers beim Interview. Auch das Setting von working on it, ein ehemaliger Supermarkt, den die Protagonist_innen umgestalten und als Austellungs-, Veranstaltungs- und Diskussionsort nutzen, wird in seiner Geschichte als (Vor)Ort migrantischer und weiblicher Reproduktionsarbeit thematisiert und verqueert.
Sexuelle als politische Identitäten
Der Film geht dem Aspekt der sexuellen Arbeit bei ganz unterschiedlichen Subjekten nach. Doch jede Auflistung, wer oder was die Protagonist_innen des Films sind, würde hier zu kurz greifen. Dennoch muss ich es versuchen, um an meinem Scheitern buchstäblich zu zeigen, worum es working on it geht: fixe Kategorien vorzuführen und zu hinterfragen, sie zu verschieben, ohne aber existierende Gegebenheiten – seien es Körper, Differenzen oder Hierarchien – zu leugnen, sondern im Gegenteil mit und trotz dieser Gegebenheiten an einer partiell gemeinsamen Politik zu arbeiten.
Also: Die Protagonist_innen des Films sind beispielsweise Afro-Deutsche. Oder sind es Schwarze Deutsche? Oder sie sind – was? Working on it führt vor, wie problematisch fixe Begriffe und Bilder sind, die sich eine_r vom Gesehenen macht. Vor allem nimmt der Film auch das Subjekt, das diese Begriffe oder Bilder reproduziert, in den Fokus. So führt etwa ein_e Protagonist_in des Films, von mir bis dahin ganz klar als schwuler Schwarzer Typ erkannt, Folgendes aus: „Mit ADEFRA konnte ich mich nicht identifizieren, weil ich keine afro-deutsche Frau bin, sondern eher pansexuell. Schon transsexuell, aber auch pansexuell. Um es zu vereinfachen, sage ich immer, dass ich offiziell schwul bin, was aber nicht heißt, dass ich nur Interesse an Männern hätte, aber bisexuell würde es auch nicht treffen. Schon allein wegen der sexuellen Identität hat sich nie irgendeine Organisation geboten, an die ich mich hätte anschließen wollen. So: weil die queere Bewegung wieder nicht afro genug ist.“
Gegen Ende des Films küssen sich dann zwei Eisbären und fahren auf einem Motorrad davon. Sie grüßen einen Mann (?), der ihnen am Fahrrad entgegen kommt und der Eisbär, dem man es nicht ansieht, grüßt zurück: Alles ist möglich, vor allem das, was wir nicht sehen (können). Der Film lenkt den Blick nicht nur auf die Herstellungsprozesse von Geschlecht, von Sexualität, von Ethnizität, sondern auch auf deren spielerische oder kämpferische, in jedem Fall aber amüsante Umarbeitung – durch die Subjekte, die angeschaut werden, aber auch durch die Subjekte, die anschauen.
Indem der Film die dokumentarische Tradition, die Protagonist_innen unter eine Gruppe zu subsumieren, konsequent verweigert, wirft er schließlich auch die Frage nach Identität und Identitätspolitik neu auf. Identitätspolitik wird heute oft als essenzialistisch denunziert oder als schlicht veraltet abgetan. Und interessanterweise geschieht das gerade dann, wenn die Frage auftaucht, wer an einem Projekt beteiligt ist und wer nicht. An der Auseinandersetzung mit Identitäten kommen wir (noch) nicht vorbei. Werden Identitäten einfach ignoriert, und dies gilt auch für zugeschriebene, so werden sie dennoch (eben dem hegemonialen Status Quo gemäß) hergestellt und an Personen festgemacht – auch wenn diese das nicht wollen. Deshalb ist es notwendig, mit identitären Zuschreibungen oder Selbstdefinitionen politisch zu arbeiten, sie zu verdrehen und die Arbeit, die damit verbunden ist, sichtbar zu machen. Es ist wichtig, diese Arbeit nicht als unbezahlte ehrenamtliche zu verstehen, sondern als Arbeit an der Gesellschaft, deren Entlohnung gefordert werden muss.
Die 10-Euro-Frage
Zurück zum Anfang, zur Debatte unter den Teilnehmer_innen in Linz. Die 10-Euro-Frage war und ist für die politischen Migrant_innen ein klarer Affront. Und sie genossen es, diesen endlich auch bei Freund_innen oder Unterstützer_innen mit deren freiwilliger 10-Euro-Spende in die Box belohnt zu wissen. Anderen, sehr jungen, majoritären Teilnehmer_innen des Workshops war vor dem Film noch nicht klar gewesen, dass die Frage nach der Herkunft die Gewalt von Ausbürgerung und erzwungener Rückkehr in ein mittlerweile meist fiktives Herkunftsland involviert. Die Zurückweisung bestimmter ethnischer, sexueller, religiöser oder geschlechtlicher Addressierungen ist Arbeit an der Gesellschaft, die, wie die Debatte in Linz deutlich zeigte, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen und vielleicht auch partiell übernehmen lernen müssen.
Ein_e Protagonist_in des Films formuliert es so: „Es ist eine Bereicherung, Menschen ungefähr so wahrzunehmen, wie sie gesehen werden möchten, unabhängig von ihren körperlichen Gegebenheiten. Das klingt jetzt vielleicht sehr abstrakt und theoretisch, funktioniert aber auch tatsächlich. Da hab’ ich kein Problem mit. Es ist auch keine Denkleistung mehr inzwischen. Ich finde das sehr spannend, weil ich denke, das könnte dann ja bei anderen Leuten auch funktionieren. [Lacht.]“
I’m working on it. We’re working on it. Bleibt noch die Frage, wer dies nicht tut und auch gar nicht tun muss, weil er_sie über Zugehörigkeit zu oder Assoziation mit der hegemonialen Gruppe ökonomisch, sozial und sexuell abgesichert ist. Und wie man die dazu kriegt, ihre gesellschaftliche Positionierung und die damit verbundenen Sicherheiten in Frage zu stellen? Let them work on this question or at least pay for it.
1 Der Dokumentarfilm working on it von Karin Michalski und Sabina Baumann (D 2008) wird beim diesjährigen Identities-Film-Festival seine Österreich-Premiere haben. Alle hier zitierten Dialoge aus dem Film wurden von mir leicht gekürzt und verschriftlicht.
2 Zentral und marginal bezeichnen hier keine linearen Gegenpole. Ich verwende sie als Hilfswörter, die einen Gegensatz benennen sollen, ohne diesen aber als binären verstehen zu wollen. Beides kann zum Beispiel durchaus auf ein und die selbe Akteur_in zutreffen. Wichtiger als das Labelling „marginal“ oder „zentral“ ist vielmehr, wer in welchem Kontext und in Bezug worauf marginal oder zentral positioniert wird und wie diese Marginalisierungs- bzw. Zentralisierungsprozesse funktionieren.
3 Die Publikationen „Reproduktionskonten fälschen. Heterosexualität, Arbeit & Zuhause“ von Pauline Boudry, Brigitta Kuster, Renate Lorenz (Hg.) und „sexuell arbeiten. eine queere perspektive auf arbeit und prekäres leben“ von Renate Lorenz und Brigitta Kuster sind 1999 und 2007 bei b_books Berlin erschienen.
Jo Schmeiser ist Künstlerin, Grafikerin und Autorin. Unter dem Label Klub Zwei arbeitet sie derzeit mit Simone Bader am Dokumentarfilm „Liebe Geschichte“. Der Film versammelt Frauen, die Nachkommen von Nazi-TäterInnen sind und sich kritisch mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen.