Soziale Bewegungen und Social Media. Handbuch für den Einsatz von Web 2.0
Das Bild von den pickeligen und Pizza fressenden Nerds, die sich im Allgemeinen nicht für Themen außerhalb der engen Geek-Kultur interessieren, stimmt eben schon lange nicht mehr, zumal die neuen Technologien weit in unsere alltäglichen Lebensbereiche vorgedrungen sind.
Die jüngsten Proteste gegen das „Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen“ (ACTA) haben einmal mehr gezeigt, dass die vermeintlich antriebslose Internet-Generation durchaus bereit ist, ihren Unmut auf die Straße zu bringen, sofern sie sich in ihren Rechten eingeschränkt fühlt. Das Bild von den pickeligen und Pizza fressenden Nerds, die sich im Allgemeinen nicht für Themen außerhalb der engen Geek-Kultur interessieren, stimmt eben schon lange nicht mehr, zumal die neuen Technologien weit in unsere alltäglichen Lebensbereiche vorgedrungen sind. Mit den vielfältigen Möglichkeiten, gesellschaftspolitische Anliegen unter Zuhilfenahme von Online-Medien zu thematisieren, beschäftigt sich dann auch der von Hans Christian Voigt und Thomas Kreiml herausgegebene Sammelband „Soziale Bewegungen und Social Media“. Dabei bemängeln die Herausgeber ein angebliches Desinteresse bisheriger Publikationen am zivilgesellschaftlichen Einsatz von Web 2.0, was angesichts einer doch sehr lange anhaltenden Auseinandersetzung mit den Versprechungen und Risiken der neuen Informationstechnologien zunächst einmal erstaunt. Hinterfragt man/frau nämlich das jeweils Neue an den neuen Medien, wird eine Debatte sichtbar, deren Herkunft bis zu Brechts „Radioutopie“ und noch weit darüber hinaus reicht.
Das „Handbuch für den Einsatz von Web 2.0“ ist somit sicherlich nicht das erste, das sich mit dem Potenzial „neuer Medien“ für den politischen Aktivismus beschäftigt. Und doch unterscheidet es sich von vergleichbaren Publikationen: So wurden mehr als 40 Autor/innen und nochmals so viele Kommentator/innen eingeladen, in einem Arbeitswiki an der Entstehung des Buches teilzunehmen. In diesen kollaborativen Arbeitsprozess waren dann auch Lektorat und Layout einbezogen, was den Verlag dermaßen überzeugt hat, dass gleich zwei weitere Buchprojekte mit Hilfe von Wikis produziert wurden. Ein schön anzuschauendes Resultat dieses Experiments sind dann auch die Kommentare, die gleich einem Blog am Ende jedes Beitrags zu finden sind. Damit ist allerdings auch die leidige Frage verbunden, inwieweit es für ein solches „Crossmedia“-Projekt Sinn macht, einfach altbekannte Formate aus der Online- in die Offline-Welt zu übertragen. Denn ein Buch ist nun mal kein Blog und auch kein Wiki. Die bloße Übertragung des einen auf das andere stößt schnell an innere Grenzen, wie die aktuelle Fantasielosigkeit in der Gestaltung von E-Books zeigt. Trotzdem handelt es sich bei dem Sammelband um ein äußerst engagiertes Projekt, das ganz offensichtlich vom freien Austausch zwischen Verlag, Herausgebern und Autor/innen profitiert.
Dies ist alleine schon deshalb bemerkenswert, da es sich beim Verleger, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, doch um eine eher klassische Institution handelt, der im Allgemeinen nicht allzu große Netzaffinität nachgesagt wird. Insofern ist einer der spannendsten Beiträge – neben den sehr informativen und gut leserlichen Manuals – auch jener, der sich explizit mit der Vision einer „Gewerkschaftsbewegung 2.0“ auseinandersetzt. Denn gerade im Einsatz neuartiger Werkzeuge zur Etablierung und Erhaltung basisdemokratischer, partizipatorischer und selbstorganisierender Strukturen besteht für eine Organisation, die ja selbst aus den „sozialen Bewegungen“ hervorgegangen ist, die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Leider fehlt dem Buch an dieser Stelle eine historische Perspektive, die dabei helfen könnte, sich kritisch mit dem Potenzial der „sozialer Medien“ auseinanderzusetzen. Bis auf einen Beitrag zur Geschichte von Indymedia als einem der ersten online-basierten Netzwerke für politischen Aktivismus, bleibt das Buch in dieser Hinsicht erstaunlich einseitig. Damit läuft es Gefahr, dem sogenannten Web 2.0 in seiner gegenwärtigen Verfassung allzu schnell das Wort zu reden und gegenüber den „sozialen Medien“ unfreiwillig affirmativ zu erscheinen.
Hans Christian Voigt/Thomas Kreiml (Hrsg.): Soziale Bewegungen und Social Media. Handbuch für den Einsatz von Web 2.0. Wien: ÖGB Verlag 2011