Vom Temporären zum Manifesten
Versuch eines gesellschaftlichen Settings für ein „urbanes Spiel“ und daraus resultierende Spielregeln.
Versuch eines gesellschaftlichen Settings für ein „urbanes Spiel“ und daraus resultierende Spielregeln.
1. Raum und Raumproduktion
Der französische Soziologe Henri Lefèbvre beschreibt unsere Zeit als einen Raum der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Zerstreuten. Eine Zeit von parallel stattfindenden Prozessen und Modellen. Eine Zeit der Komplexität gegenüber einer alten Hierarchie, Ausschließlichkeiten und Eindeutigkeiten ist im Zeitalter des Raums von Vorteil. Im Raum können sich diese Heterogenitäten überlagern, in denen wir heute denken, die wir wahrnehmen und akzeptieren. Der Raum birgt die dafür notwendige Komplexität. Der Raum wird produziert durch kulturelle Momente, in einem performativen Akt des räumlichen Erlebens, Erfahrens und Handelns:
„Raum wird hergestellt durch spezifische soziale Prozesse. Im Gegensatz zu anderen Waren ist er aber gleichzeitig materielles Objekt und Medium, in dem andere Waren und gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden. So reproduziert und modifiziert Raum permanent die gesellschaftlichen Voraussetzungen seiner eigenen Produktion.“ (Henri Lefèbvre, The Production of Space)
2. Öffentlicher Raum
Ohne diesen szenischen Raum sind Gebäude nur Konstruktion und die Stadt nur eine Agglomeration von Gebäuden und Straßen. Die Entwicklung eines urbanen Raums bedarf der Reflexion der komplexen Beziehung zwischen Gesellschaft und Raum. Die Reflexion ebendieser ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines urbanen, eines öffentlichen Raums. Die elementaren Bedingungen einer funktionierenden Öffentlichkeit sind gegenwärtig überall auf der Welt einer massiven Bedrohung ausgesetzt. Es braucht einen wirkungsvollen Raum für den öffentlichen Menschen, der die großartigen Momente des Lebens ermöglicht.
3. Stadtplanung
Gemeinsame Unterschiede auf gemeinsamem Boden. Der öffentliche Raum ist ein common ground für politische und soziale Prozesse. Stadtplanung sollte versuchen, räumliche Antworten auf gesellschaftlichen Wandel zu geben. Diese Planung sollte dabei so beschaffen sein, dass sie offen bleibt für neue Möglichkeiten, Herausforderungen und zukünftige Gemeinschaften. Jedoch ist Stadtplanung nicht nur eine Antwort, sondern auch eine Frage im steten Wechselspiel mit der Gesellschaft. Alle an der Stadtplanung beteiligten AkteurInnen müssen sich am evolutionären Prozess beteiligen, indem sie von aktuellen Prozessen der Raumproduktion lernen. ArchitektInnen und StadtplanerInnen müssen sich als maßgebliche GestalterInnen der gebauten Umwelt Fragen sozialer Segregation, fairer Verteilung von Ressourcen, kultureller Integrität und neuer transdisziplinärer, transnationaler Netzwerke stellen.
4. Non-lineare Prozesse
Heimat innovativen Denkens ist zweifelsohne das Feld der Kunst, präziser des künstlerischen Denkens und Handelns. Non-lineare Denkprozesse und Methoden sind charakteristisch für eine künstlerische Arbeit. Position, Person und Werk in ständiger Reflexion des Umfeldes ist von jeher Kernkompetenz künstlerischer Arbeit. Unser Wirtschaftssystem befindet sich in einem historischen Umwälzungsprozess. Es wird heute immer klarer erkannt, dass immaterielle Wirtschaftsfaktoren, soft facts, im Vordergrund stehen, dass mit Spartendenken und normativen Strukturen den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr begegnet werden kann. Verflechtungen und Vernetzungen sind vielfältig geworden. Es geht also um eine kreative Vernetzung.
5. „Kreative Klasse“
„Cities without gays and rock bands are losing the economic development race“, schreibt Richard Florida und betont damit, dass nur die Städte prosperieren, in denen sich die „kreative Klasse“ wohl fühlt. Diese Konkurrenz führt dazu, dass sich die städtische Politik immer mehr einer „Image City“ unterordnet. Marketing Agenturen sorgen dafür, dass das Bild einer pulsierenden Metropole in den Medien kursiert. Das Bild einer Stadt, die ein anregendes Umfeld für Kulturschaffende bietet, wird mithilfe von Hochglanzbroschüren, in denen das Bild einer Stadt als widerspruchsfreies, sozial befriedetes Fantasieland erzeugt wird, in die Welt gesetzt.
6. Gemeinwesen
Eine Stadt lässt sich nicht auf eine Marke reduzieren. Eine Stadt ist auch kein Unternehmen. Eine Stadt ist ein Gemeinwesen. Es geht darum, Orte zu erobern und zu verteidigen, die das Leben in einer Stadt ebenso für jene lebenswert machen, die nicht zur Zielgruppe der „pulsierenden“ Metropole gehören (möchten). Die Stadt ist ein Raum, der allen gehört. Nur da, wo Raum und Zeit für Debatten über das Temporäre vorhanden sind, wo die Spielregeln einer funktionierenden Öffentlichkeit sichtbar werden, können wir die Stadt als einen Ort kultureller Ereignisse wahrnehmen. Die Stadt als einen Ort erkennen, an dem Gesellschaft nicht nur pures Spektakel ist, die BürgerInnen nicht zu reinen KonsumentInnen mutieren müssen, um daran teilzuhaben.
7. public men – private persons
Der Soziologe Richard Sennett stellt die These auf, dass die Öffentlichkeit zerfalle, da die Menschen ihre Umwelt immer mehr in psychologischen Kategorien wahrnehmen und beurteilen. Sennett definiert Öffentlichkeit als einen Raum, der die Beziehungen und das Geflecht von „Verpflichtungen zwischen Leuten, die nicht durch Familienbande oder andere persönliche Beziehungen wechselseitig miteinander verknüpft sind“, ermöglicht. Die Stadt ist ein Ort, der die Möglichkeit, Fremden zu begegnen, Erfahrungen zu sammeln, sich zu entfalten birgt. „Doch gerade diese zivilisatorische Kraft ruht heute ungenutzt.“ (Sennett 1998). Nur in Gesellschaft, als öffentliche Figuren, als public men im Sinne Sennetts können wir das Leben als lohnend empfinden; nicht aber auf uns allein gestellt, als private persons oder, wie die Antike es nannte, als bloß dem Privatleben verpflichtete IdiotInnen. Nur als kulturelle, öffentliche Menschen sind wir fähig, Begeisterung über unsere Verwandlungskraft zu empfinden. In diesem Sinne kommt der Sprache der Kunst eine große Bedeutung zu.
8. aspern und die Spielregeln für das Dazwischen
Das große weite, weitgehend brachliegende Land der zukünftigen Seestadt Wiens, eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas, bietet uns Raum für das Dazwischen. Wir haben erkannt, dass wir mit temporären Interventionen und starken Erzählungen, mit neuen Strategien, Spielregeln und AkteurInnen eingreifen müssen, um BürgerInnen öffentlichen Raum zur Verfügung stellen zu können. Die elementaren Bedingungen einer funktionierenden Öffentlichkeit sind gegenwärtig überall auf der Welt einer massiven Bedrohung ausgesetzt. Eine Minderheit von Leuten ist dabei, dem größten Teil der Bevölkerung die Grundlagen eines selbstverantwortlichen, aktiven, lustvollen und stilvollen Lebens in der Öffentlichkeit zu entziehen. Wo sind sie noch sichtbar, die großartigen Momente des Lebens, die charmanten Täuschungen der Kunst, die glamourösen Helden und Heldinnen, die Momente des glücklichen Müßiggangs? Bis es gelungen ist, dem öffentlichen Menschen einen wirkungsvollen Raum zurückzugeben, sehen wir uns in der Zwischenzeit gezwungen, einige Spielregeln bekannt zu machen:
8.1. Wir wollen einen Raum, der die großartigen Momente des Lebens ermöglicht. Und die wirklich großartigen Momente des Lebens entstehen durch die Verwandlung von etwas, das wir so nicht immer haben wollen. In diesem Sinne kommt der Sprache der Kunst eine große Bedeutung zu. Nur als kulturelle, das heißt öffentliche Menschen, sind wir fähig, Begeisterung über unsere Verwandlungskraft zu empfinden. Wir benötigen Rollen, die uns zeigen, wie etwas gemacht gehört, und die uns gebieten, es zu tun. Wir brauchen eine Kultur der öffentlichen Debatte.
8.2. Wir wollen die wachsende Vielfalt an Lebensstilen sichtbar und hörbar machen und mit ihnen in einen Dialog treten. Indessen: Eine herausfordernde Differenz von Lebensstilen kann gleichzeitig als Divergenz von Werten und Interessen eine Entwicklung blockieren, die Großstädte produktiv macht. Zugleich verändern sich die Anforderungen an jenes Instrumentarium, mit dem Stadtplanung und Stadtentwicklung betrieben werden. Soziale Ansprüche an städtebauliche Projekte müssen im Konsens privater und öffentlicher Akteure realisiert werden. Diese Abstimmung bedarf mittlerweile einer anderen Qualität von Prozessgestaltung und Kommunikation als jede herkömmliche Steuerung.
8.3. Wir wollen der Erprobung neuer Prozesse zu mehr Bedeutung verhelfen. Denn eine moderne, pluralistische Stadtgesellschaft produziert ihre Stadt zunehmend selbst. Dementsprechend muss die Stadtentwicklung in immer höherem Maße einem Paradigma der Teilhabe folgen und damit die tradierten Partizipationsverfahren ergänzen.
8.4. Wir stellen fest, dass das Ende der allgemeingültigen Rezepte in den meisten Städten mit einer finanziell schwierigen Situation zusammenfällt. Die komplexen Probleme lassen sich nicht mehr einfach nur mit Geld lösen, sondern müssen über die immensen nicht-monetären städtischen Potenziale angegangen werden. Damit meinen wir nicht, dass es ohne monetäre Verantwortung geht, sondern fordern eine nachhaltige Steuerung von Ressourcen. Verantwortung bedeutet auch Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Dies birgt nicht nur Risiken, sondern auch die Chance, die latenten wie offenen, die glitzernden und die ungehobelten Ressourcen gleichberechtigt ins Spiel zu bringen. Kurz gesagt: das Stadtkapital Wiens und der zukünftigen Seestadt Wiens zu heben.
9. Handeln
Neben autonomer Initiative geht es demnach darum, bei EntscheidungsträgerInnen in Wirtschaft und Politik das Bewusstsein für deren Verantwortung einzufordern, notwendige Rahmenbedingungen für Kultur in urbanen Kontexten zu schaffen, um den gegenwärtigen Zustand von Lähmung durch selbstbezogenes und lineares Denken zu beenden. Mit grundlegenden Missverständnissen den Kunstschaffenden gegenüber, sie oftmals zu verniedlichen oder als „parasitäre Existenzform“ zu betrachten, muss aufgeräumt und diese müssen aus der Welt geschafft werden.
content.associates arbeitet an Modellen, KunstproduzentInnen als wertgeschätzte PartnerInnen der Stadtentwicklung zu positionieren und hat 2011/2012 solche Ansätze anlässlich der Realisierung des Projektes PUBLIK auf dem Gelände der Seestadt aspern erfolgreich erprobt.
Ökonomische Rahmenbedingungen für Kultur können im Kontext der Stadtentwicklung durch eine Re-Aktivierung und zeitgenössische (Re-)Positionierung des „guten alten Kunst am Bau“ Systems geschaffen werden. Durch Abschöpfung von nur 0,5-1 Prozent der Umsätze in Stadtentwicklungsgebieten können Gelder lukriert und zu Verfügung gestellt werden. Wenn ein entsprechender Fonds geschaffen wird, wäre die Vorfinanzierung notwendiger Gelder kein Problem, sollten sie noch nicht zur Verfügung stehen.
Ebenso sind neue Strukturen für die Verteilung der Gelder vonnöten: entweder durch radikale Aufwertung und Bestückung der kulturellen Agenden innerhalb existierender Formen wie dem Quartiersmanagement; oder durch umsichtige Akzentuierung innerhalb der Kulturagenden; oder – idealerweise – durch die bestenfalls magistratsübergreifende Sammlung von Ressourcen seitens der Stadt und in Summe vereint mit den Geldern der InvestorInnen. Die Verteilung erfolgt in diesem Fall durch Ausschreibung von Calls, welche kompetent mittels multidisziplinär zusammengesetzter Jurys vergeben werden.
Zur Schaffung von Rahmenbedingungen gehören auch Trainings- und Workshop-Programme, um sowohl Kulturschaffende wie PolitikerInnen und InvestorInnen für die Thematik zu sensibilisieren und das Feld theoretisch vorzubereiten. Oftmals verfügen die einzelnen an den Prozessen Beteiligten über eindimensionale Fachsprachen. Es bleibt zu hoffen, dass die zukünftige trans- und multidisziplinäre Kooperationskultur ein Querschnittsvokabular prägt und semantische Missverständnisse ein Problem unserer Zeit bleiben.
content.associates arbeitet seit 2010 als interdisziplinäres Team an Modellen der Erweiterung urbaner Entwicklungsprozesse und an deren Umsetzungen. Daniel Aschwanden ist Performer und Choreograph, Ute Burkhardt-Bodenwinkler ist Architektin, Anna-Vera Deinhammer ist Architekturwissenschafterin, Susanne Kappeler-Niederwieser ist Kulturmanagerin.