Zur unmöglichen Möglichkeit queerer Kollektivität
Die politische Geschichte von queer begänne dann dort, wo die Perversen weder separatistisch auf ihrem bloßen Anderssein beharren noch sich – meist auf Kosten Nachkommender – als Teil der Normalität behaupten, sondern diese Normalität selbst angreifen: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“
mi: Von einer queeren Kollektivität zu reden ist ein unmögliches Unternehmen. Eine Unmöglichkeit allerdings, die zugleich von einer Kraft kündet, durch welche die Sehnsucht nach einem queeren Leben überhaupt in der Welt sein kann. Was ich damit meine, erklärt sich erst, wenn wir queer in Relation zu jener Subjektivierungsmaschine verstehen, die wir seit 150 Jahren die Sexualität nennen. Das Verhältnis zwischen queer und der Sexualität wäre dabei als eine Differenz zu verstehen, als gleichursprüngliche Verschiedenheit, die nur mit- und zueinander existiert. Wenn die Sexualität der Name für eine Reihe von epistemischen und politischen Techniken ist, wodurch die (affektive) Bindung der Subjekte an bestimmte Wissensbereiche und Normen von Körperlichkeit, Geschlecht und Begehren ermöglicht und geregelt wird, dann ist queer das, was diesen Normalisierungs- und Epistemisierungstechniken entkommt.
Hier liegt eine wichtige Differenz von queer zu den uns bekannten LGBT-Identitätspolitiken. Denn aus der Perspektive von queer ist die Sexualität nicht Gegenstand oder Effekt einer Norm, sondern die Norm selbst. Dementsprechend richtet sich das queere Begehren auch nicht auf eine Veränderung der Sexualität, sondern auf deren Überwindung. Es geht also bspw. nicht, zumindest nicht endgültig, um die Hervorbringung einer „weiblichen Sexualität“ gegen den phallozentrischen Genitalismus der patriarchalen Sexualität oder einer minorisierten Homosexualität gegen die Identifizierung von Sex mit Heterosexualität. Die sexuellen Befreiungsbewegungen haben vom 19. Jahrhundert bis heute daher das eigentliche Problem umschifft: Sie haben uns nicht von der Sexualität „befreit“, sondern lediglich für eine Freiheit der sexuellen Wahl gekämpft.
Mit anderen Worten: Nicht die Realisierung eines queeren Lebens, sondern die Erweiterung der Möglichkeiten sexueller Lebensformen prägen den Großteil vergangener und gegenwärtiger Kämpfe um den Sex und das Geschlechterregime. Die Protagonist_innen dieser Kämpfe nehmen dabei den Preis der Normalisierung in Kauf bzw. müssen das tun, wenn sie als soziale Wesen anerkannt und intelligibel werden wollen. Hierin liegt gewissermaßen die totalitäre Tendenz des Sexuellen begründet. Wenn Monique Wittig feststellt, sie habe keine Vagina, dann ist das ein politisch-epistemologischer Protest gegen diese Totalität, genauer: gegen die Zergliederung und sexuelle Organisierung des Körpers in funktionale Einheiten wie „Geschlechtsorgane“. Doch zugleich markiert diese Behauptung die Grenzen der Möglichkeiten, aus dem Bereich des Sexuellen herauszutreten. Denn die Aussage einer als weiblich identifizierten Person, sie habe keine Vagina, muss innerhalb des Dispositivs der Sexualität zu allererst als Protest erscheinen, der die Regeln des Dispositivs damit immer unfreiwillig bestätigt.
Eine Welt, in der jeder Mensch ohne Irritation von sich behaupten kann, keine Vagina und keinen Penis zu besitzen, ist mit der Sexualität nicht zu machen. Diese Welt wird also eine gänzlich andere gewesen sein müssen, als die, die wir kennen. Die Zeit von Wittig ist noch nicht gekommen, und wir ahnen, dass dies für das queere Begehren insgesamt der Fall ist: „Queerness is not yet here“ (Muñoz 2009: 1). Was in der Gegenwart ist, sind Gesten und Affekte, die die Erfahrung für einen kurzen Moment auf etwas anderes hin öffnen mögen, als das, was ist.
bi: Wie die Sexualität so hat auch queer eine Geschichte. Auch wenn wir annehmen, dass queer als das sich der sexuellen Norm Entziehende schon ebenso lang existierte wie die Sexualität selbst, gäbe es doch zusätzlich eine Geschichte der Artikulation zu erzählen, eine Geschichte der – politischen – Bewusstwerdung von queer. In Anlehnung an Marx wäre dann von einem Übergang von queer an sich zu queer für sich zu sprechen, ein Übergang, der nicht mit der Besiedelung unbewohnbarer Orte, sondern mit dem Kampf um deren Bewohnbarkeit einsetzte; mit dem Streit um kulturelle Intelligibilität also. Die politische Geschichte von queer begänne dann dort, wo die Perversen weder separatistisch auf ihrem bloßen Anderssein beharren noch sich – meist auf Kosten Nachkommender – als Teil der Normalität behaupten, sondern diese Normalität selbst angreifen: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“ Seitdem braucht niemand mehr angeben, im „falschen Körper geboren“ zu sein, und dem pathologisierenden Bedürfnis, nicht-heteronormatives Begehren zu erklären, darf ruhig mit der Frage begegnet werden, was im Reifeprozess von Leuten wohl schief gelaufen ist, die immer noch so lieben wie ihre Großeltern. Das Problematische dieser Bewegung, welche die Dekonstruktion der Norm ins Zentrum rückt, besteht darin, die Epistemologie gegenüber der Existenz, die Schrift gegenüber der Szene zu privilegieren. Es ist somit nicht verwunderlich, wenn zumindest in Deutschland jede jüngere queerfeministische Autobiographie folgenden seltsamen Einschnitt kennt: „Und dann kam Butler.“ Was dabei im Sinne einer materialistischen Historiographie im Vergessenheit gerät, ist die Aussage selbiger Autor_in: „Gender trouble was written in a gay bar.“
Zumindest im europäischen Kontext tritt queer also als Theorie auf, welche die heterosexistische Matrix auf verschiedenen Niveaus (biologisch, epistemologisch, ontologisch, ethnologisch, genealogisch usw.) angreift. Queeres Leben aber betritt diese Bühne erst in einem zweiten Schritt, als Gegenstand der Suche nach einer praktischen Subversion, ganz analog der Suche nach einem revolutionären Subjekt, vor deren hohen Maßstäben die Lebenden kaum anders als scheitern können. Hierin also liegt eine Tücke von queer als Utopie, die es gleichzeitig für radikalere und noch zu kommende Forderungen offen hält und gegenüber der empirisch übermächtigen Norm der cissexuellen Heteronormalität irrealisiert. Dagegen hat seit einiger Zeit ein empirical turn in den Queer Studies Entspannung bringen können (vgl. die wundervolle Studie von Schirmer 2010), der die Lebensformen real-existierender Queers weniger proklamiert als konstatiert, sie lediglich beschreibt und solcherart verbreitet. Seine Nachricht lautet: „Relax, it’s not only a ghost – queer has been here already.“
mi: Wir stehen heute ja gerade vor dem Problem, dass weder die Homosexuellen noch die Situation, in der sie leben, noch pervers sind. Die Perversion war eine Waffe des psychopathologischen Diskurses, mit der das Begehren normalisiert werden sollte. Gleichzeitig machte sie aber einen Weg raus aus der Normalität wenigstens noch denkbar. Das Versäumnis sexueller Emanzipationsbewegungen liegt darin, dass sie es nicht geschafft haben, diesen Weg begehbar zu machen. Es wurde also mehrheitlich gerade nicht darum gekämpft, unbewohnbare Zonen bewohnbar zu machen, sondern dafür gestritten, in die bereits besiedelten Lebensbereiche Eingang zu finden. Die Normalisierung des Begehrens mündete in ein Begehren der Norm.
Queer ist hier der historische Platzhalter für ein Gefühl, dass diese Norm nicht alles ist. Die Rede von „real existierenden Queers“ halte ich daher für kontraproduktiv. Wir gewinnen nichts, wenn wir behaupten, queeres Leben finde schon statt. Hier soll gar nicht bestritten werden, dass es Nischen gibt, die allemal besser als der große Rest sind; Nischen, in denen Subjekte in die Lage versetzt werden, geltende Wahrheitsdiskurse über Geschlecht und Sexualität in kollektiven Praktiken zu befragen und in ihren Grenzen praktisch auszuloten. Doch sollten wir dafür sorgen, dass wir weiterhin noch benennen können, dass es etwas gibt, das noch nicht da ist – etwas, das auf seine eigene Gerechtigkeit und Präsenz noch wartet. Es ist das, was seit der Durchsetzung des Sexualitätsdispositivs „ontologisch suspendiert“ (Butler) werden muss, weil es sich mit den Mitteln der Sexualität nicht regieren und stabilisieren lässt. Das, von dem viele von uns – als Subjekte und Objekte der Sexualität – regelmäßig heimgesucht werden: als Intensität, als Affekt oder Schauer – als Gefühl, dass etwas fehlt in der Welt. Es ist das, was im Sexualitätsdispositiv verloren gegangen ist und dessen Spuren wir aufsuchen müssen, weil diese Spuren zugleich Ausgangspunkt und Fluchtweg einer Politik sind, die begehrt, dem Normalen zu entkommen: ein Begehren nach queer.
bi: Hier müssen wir fragen, was wir unter queerer Kollektivität verstehen wollen: ein Kollektiv von Queers oder eine queere Form des Kollektiven? Während ersteres auf das Terrain der Identität zurückführte – wie lässt sich eine Gemeinschaft derer konstituieren, die sich über kein Kriterium der Zugehörigkeit abschließend verständigen wollen –, fragt letzteres danach, wie queer als Modus einer universell konzipierten Gemeinschaftlichkeit bestimmt werden könnte. Queer erscheint dann weniger als Existenz-, vielmehr als Beziehungsweise. Aber worin besteht diese? Offensichtlich reichen die pragmatischen Antworten, die innerhalb der Abkürzungsordnung L-G-B-T-I gegeben werden, nicht aus: Eine Gruppe von Leuten findet sich zusammen, weil sie (a) miteinander das Kriterium des Ausgeschlossenseins teilen oder (b) alle das gleiche begehren, also in ihrer Zusammenkunft sich wechselseitig einen Pool an mating partners zur Verfügung stellen (1). Stattdessen macht es für die Frage nach queerer Kollektivität Sinn, das Sexualitätsdispositiv in seiner Beziehung zu anderen sozialen Dispositiven zu diskutieren. Das Aufkommen der Sexualität erscheint dann als zeitgleich mit jener historischen Transformation der Gesellschaft, welche den Beziehungsmodus der Warenform hegemonialisiert und andere Modi sozialer Bindung zurückdrängt. In gleicher Weise bekommt die Konstruktion der Homosexualität ein besonderes Gewicht in dem Moment, in dem sie sich als geeignetes Instrument erweist, um in den neu entstandenen Staatsinstitutionen (Internat, Kaserne) Freundschaften zu kontrollieren und die Loyalität einzig auf eine zentrale Autorität zu vereinigen (vgl. Foucault 1984). Die romantische Liebe tritt in jener historischen Situation auf den Plan, in der die bäuerlich-feudale Familie vom Bereich der Ökonomie wie der Politik getrennt wird (vgl. Benhabib/Nicholson 1987). Der moderne Sexualitätsdiskurs hat nicht zuletzt die Aufgabe, die mit dieser geschichtlichen Entwicklung einhergehende Abwertung weiblich codierter Tätigkeiten und den damit verbundenen Ausschluss weiblich codierter Subjektivität von den Orten der Macht zu legitimieren (Maihofer 1995).
Von hier aus ließe sich die Frage der Möglichkeit queerer Kollektivität präzisieren. Wenn das Sexualitätsdispositiv seine Stabilität in Beziehung zu anderen Institutionen der Gesellschaft bezieht, dann verlangt seine Überwindung danach, auch die Beziehung von Staat, Liebe, Bürokratie, Ökonomie, Familie und Kultur zu queeren.
Fußnoten
(1) Dabei sollte die – bürgerliche – Utopie einer Welt der vollkommenen Äquidistanz, in der alle für einander in gleicher Weise begehrbar sind, nicht – oder zumindest nicht ohne aufhebende Würdigung – verabschiedet werden (vgl. Adamczak 2006).
Literatur
Adamczak, Bini (2006): „Theorie der polysexuellen Ökonomie (Grundrisse)“. In: diskus „bzw“,1/06.
Benhabib, Seyla/Nicholson, Linda (1987): „Politische Philosophie und die Frauenfrage“. In: Fetscher, Iring/Münkler, Herfried (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5. München-Zürich, S. 513-562.
Foucault, Michel (1984): Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Berlin.
Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt/M.
Muñoz, José Esteban (2009): Cruising utopia. The then and there of queer futurity. New York: New York University Press.
Schirmer, Uta (2010): Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten. Bielefeld.
Bini Adamczak
ist das um Stetigkeit bemühte Bündnis zänkischer Gespenster, unerwünschter Erbschaften und nächtlicher Reproduktionsläufe. Die Autorin von „Kommunismus für Kinder“ (2004) und „Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft“ (2007) lebt im dicht besiedelten Kreuzberg und erscheint ausschließlich in Wien auch als bildende Künstlerin.
Mike Laufenberg
lebt in Berlin und hat gerade eine Studie zur Regierung der Sexualität im Zeitalter der Biologie abgeschlossen. Er lehrt und forscht im Bereich Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCityUniversität Hamburg.